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beobachtet und gleichzeitig von Luzifer und der Welt verlassen.

      Dorian schloss die Augen und wünschte sich weg aus dieser Sackgasse. Luzifers Verlangen nach ihm wies ihm den Weg.

      Einen Moment später tauchte er in einem der größten und am häufigsten frequentierten Räumen in diesem Höhlensystem auf. An allen Wänden hingen Fackeln und Kerzen, die mehr Licht spendeten als es für die Hölle üblich war. Unter einem verhältnismäßig großen Fenster stand eine stets verschlossene Kommode aus glattem Stein, in der gegenüberliegenden Ecke ein gepolsterter Sessel wie ein Thron. Der Boden war größtenteils mit einem dunklen Teppich bedeckt, der die Angewohnheit besaß, auch das kleinste Geräusch zu verschlucken. Im Laufe der Zeit hatten sich einige Flecken unterschiedlichen Ursprungs darauf angesammelt, die sich nur noch durch Herausbrennen entfernen ließen – Dorian wusste das, denn er war für manche dieser Flecken verantwortlich. Sein Bauch krampfte sich auf eine eigenwillige Weise zusammen, wenn er daran dachte.

      Luzifer saß mit sichtlicher Ungeduld im Gesicht auf seinem Sessel, die Beine überkreuzt, den Kopf auf eine Hand gestützt. Als er den Blick auf Dorian warf, hob er eine Augenbraue und lachte trocken auf. »Sieh an, wer als Erstes hergekommen ist.«

      Entweder hatte er gute oder abgrundtief schlechte Laune, und Ersteres konnte sich Dorian gerade nicht vorstellen. Er senkte den Kopf und kämpfte gegen die wachsende Panik an. »Wie kann ich-«

      »Sei still.«

      Dorian nickte hastig und blieb reglos stehen. Einen Augenblick später erschienen zwei weitere Leute im Raum. Lucian hatte die Mantelkapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass es komplett im Schatten lag, Adrian sah aus, als hätte er sich auf dem Weg hierher durch einen Hurrikan gekämpft. Razvan tauchte nur einen Augenblick später zu Dorians Rechten auf und würdigte ihn keines Blickes. Als Einziger von ihnen trug er keinen Mantel, sondern eng anliegende Hosen und ein Hemd mit hohem Kragen. Die langen, pechschwarzen Haare hatte er in unzählige, dünne Braids geflochten. Für gewöhnlich schickte Luzifer ihn auf besondere Aufträge, über die er kein Wort verlor, und wenn er Menschen töten sollte, dann meistens zusammen mit Janne. Der erschien schließlich als Letzter im Raum und gab sich größte Mühe, hinter Razvan zu verschwinden und so zu tun, als wäre er nicht da.

      Luzifer stand auf und sie fielen daraufhin alle synchron auf die Knie. »Steht auf«, sagte ihr Meister direkt, als wäre ihm dieses Ritual längst zuwider geworden. »Ich habe einen Auftrag für euch alle.«

      Es war zwar schon vorher still im Raum gewesen, doch jetzt wurde das Schweigen hörbar und ihre kollektive Anspannung lud die Atmosphäre zusätzlich auf. Normalerweise wurden sie höchstens zu zweit auf die Erde geschickt.

      »Ihr werdet in der Hölle und auf der Erde nach einem Gefallenen namens Chris suchen.«

      Dorian wurde kalt und es fiel ihm schwer, Haltung zu bewahren. Da war es wieder, das Bild in seiner Erinnerung. Schwarze Federn. Engelsaugen.

      ›Mensch‹, dachte Dorian beharrlich. Seine innere Stimme spuckte das Wort aus, doch selbst das verlieh der Verachtung nicht genügend Ausdruck.

      »Er hat bei seiner wichtigsten Aufgabe versagt, mir seinen Gehorsam verweigert und mich hintergangen. Wenn ihr ihn findet, wird er euch Lügen erzählen. Hört ihm nicht zu und glaubt ihm kein Wort, sondern bringt ihn mir. Bringt mir seine Überreste, wenn er sich wehrt.«

      Kollektives Nicken. Dorian zwang sich, es auch zu tun, auch wenn ihn seine außer Kontrolle geratenen Gedanken zusehends erstarren ließen. ›Ich habe ihn in die Hölle gebracht. Er ist das Problem und ich habe es ausgelöst. Das ist alles meine Schuld.‹

      »Verliert keine Zeit. Ich will diese Situation so schnell wie möglich gelöst haben.«

      Wieder Nicken, aber keiner rührte sich, bevor es ihm befohlen wurde – vor Luzifer verloren sie ihren freien Willen. Das war es, was sie ihm schuldeten.

      »Macht euch auf den Weg.« Er runzelte kurz die Stirn. »Lucian, du bleibst hier.«

      Der Angesprochene ging arrogant grinsend an ihnen vorbei, im Wissen, dass sich in Luzifers Anwesenheit niemand trauen würde, seinem Neid Ausdruck zu verleihen. Dorian schaute auf den Teppich, weil er den Anblick nicht ertrug. ›Dachtest du wirklich, Luzifer würde dich gerade wollen?‹

      Er beeilte sich, auf die Erde zu gehen, aus einer Ahnung heraus, dass Chris garantiert nicht mehr in der Hölle war. Es kam ihm vor, als flüchtete er von einem Ort, der sein einziges Zuhause sein sollte.

      ›Ich muss Chris finden‹, dachte Dorian gegen einen aufkommenden Zweifel an, fand sich auf einem überwucherten Waldweg wieder und fühlte sich seltsam willkommen. War das schon immer so gewesen? ›Er ist mein Fehler und ich mache ihn wieder gut.‹

      Er stieg schnell in die Luft, schloss die Augen und ließ sein Gefühl suchen. Auf gewisse Entfernungen konnten sie sich gegenseitig spüren, doch gerade schien er allein hier zu sein.

      ›Wenn ich etwas wert sein will, dann muss ich Chris als Erster finden.‹

      Dorian flog in die Richtung, in der es am verlassensten aussah. Irgendwo musste er ja anfangen.

      11

      Chris

      10. November

      Erde

      Janne hatte Chris mehrfach nahegelegt, sich wenn möglich keinem Menschen zu zeigen und der Kerl, der ihn in die Hölle entführt hatte, war bei seinem Anblick sichtlich erschrocken. Nach der Logik sollte er unter Menschen sicherer sein, aber er traute sich nicht.

      Die meiste Zeit über schwebte Chris ungefähr hundert Meter über dem Boden, in der Hoffnung, so nur für einen merkwürdigen Vogel gehalten und ignoriert zu werden. Sobald er müde wurde, landete er auf einem verlassenen Fleck Erde und versuchte sich auszuruhen. Schlaf fand er allerdings nie, denn eine an Paranoia grenzende Angst hielt ihn zuverlässig wach.

      Nicht, dass er wusste, wo er sich überhaupt befand, denn keines der Straßenschilder sagte ihm etwas. Die Schrift hielt er für Kyrillisch und wider Erwarten konnte er sie problemlos lesen, aber die Ortsnamen halfen trotzdem nicht weiter. Für den Moment hielt er sich im Umfeld einer Großstadt auf, von der er noch nie gehört hatte – weit genug entfernt, um unter sich Felder zu sehen und nah genug, um die funkelnden Lichter zu erkennen.

      Jetzt, wo sich die nach Nacht dem Ende neigte, wachte die Stadt langsam auf und der Lärm schwoll an, bis Chris ihn auch in dieser Höhe und Entfernung hörte. ›Mein Wecker klingelt gleich‹, dachte er und fragte sich, ob das Gerät immer noch treu seinen Dienst tat oder ob seine Mitbewohner es mittlerweile aus dem Fenster geworfen hatten. ›So früh ist überhaupt nicht meine Zeit, aber wenn ich mich noch mal umdrehe, stehe ich nicht vor Mittags auf. Ich gehe ins Bad und nehme mein Testogel. Ich koche Kaffee und werde dann vielleicht wach genug, um niemanden mehr zu gefährden.‹

      Sein Alltag konnte realistisch gesehen vielleicht zwei Wochen her sein, aber es fühlte sich eine Ewigkeit weit weg an, wie eine zusehends verblassende Erinnerung. Sich die Details immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen tat weh, denn sie führten Chris vor Augen, was er alles verloren hatte. Aber die Alternative hieß Vergessen und das kam ihm zu sehr wie Selbstaufgabe vor. Er hatte zu lange zu hart gearbeitet, um endlich mit sich im Reinen zu sein, nur um das jetzt hinter sich zu lassen.

      Wieder berührte er seinen Anhänger, nur flüchtig, aber es reichte für ein bisschen Hoffnung. Irgendwie würde es weitergehen.

      Langsam ging die Sonne auf, tauchte die Welt in ein zartes, goldenes Licht und färbte Himmel und Wolken zartrosa. Chris ließ sich für eine Weile lang von dem Anblick verzaubern, bis ihm eine Brise so heftig um die Ohren pfiff, dass er kurz das Gleichgewicht in der Luft verlor. Danach fühlten sich seine Flügel lahm an und mussten mühsam zur Arbeit überredet werden. Sein Magen knurrte und machte ihn auf das mindestens faustgroße Loch in seinem Bauch aufmerksam, das dringend gefüllt werden wollte.

      Chris warf einen Blick in Richtung Stadt und dachte an hunderte Lieferdienste, Supermärkte

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