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Tod eines Agenten. Lars Gelting
Читать онлайн.Название Tod eines Agenten
Год выпуска 0
isbn 9783753189055
Автор произведения Lars Gelting
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Stocher, höre auf zu schreien. Ich bin genauso wenig wahnsinnig wie du. Und deshalb schleppe ich dir jetzt deine Vergangenheit hinterher.
Als du am 2. Juli 1990 aus Waldheim verschwunden bist, da warst du noch Dr. Werner Stocher, Chefarzt der Neurologie und Psychiatrie in der Klinik in Waldheim und Oberst der Stasi in Personalunion. Und als du dich am 3. Juli 1990 in Berlin angemeldet hast, da hast du das mit Ostpapieren als Dr. Robert Snelting getan. Du bist einfach ein gewissenloser und gerissener Halunke. Ein Ganove und nichts anderes.“
„Ich…“ Er war kurz davor, sich selbst zu verlieren, ballte die Fäuste, kniff die Augen fest zusammen. „Hören Sie endlich auf. Ich kann und ich will dieses wirre Zeugs nicht mehr hören. Ich bitte Sie jetzt: Hören Sie mit diesem Unsinn auf und lösen Sie den Gurt.“ Er sprach betont ruhig, saß weit vorgebeugt in seinem Sessel und bekräftigte jedes Wort durch ein betonendes Nicken mit dem Kopf: „Hören Sie endlich auf!“
Die Stimme war jetzt ganz nah, direkt über ihm. Er kniff die Augen zusammen, wartete auf eine Berührung, einen Schmerz.
„Es wird nie mehr aufhören. Ab heute, Stocher, ab heute sind wir dir immer ganz nah. Wirklich immer. Wir werden dich nach und nach entzaubern, bis kein Hund mehr einen Knochen von dir nimmt.
Nur darum ging es heute. Du sollst wissen, warum dir das alles passiert, was da auf dich zukommt.“ Bei den letzten Worten entfernte sich die Stimme über ihm, kam dann aber noch einmal zurück, ganz nah an ihn heran:
„Übrigens, du hättest die Musik nicht passender wählen können: „Dies irae, dies illa“, Tag des Zornes. Wenigstens da hast du Stil. Und jetzt sieh´ man zu, wie du da aus deinem Sessel kommst.“
Das Requiem setzte kraftvoll dort wieder ein, wo es zuvor unterbrochen wurde.
Verstört, tiefgründig erschüttert saß er einen Augenblick nur da. Immer noch vorgebeugt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Ganz langsam dann sickerte es durch seine Angstbarriere: Er war enttarnt. Das war kein Bluff, der Kerl hatte Faktenwissen. Er war aufgeflogen, und sie würden ihn mit seiner alten, abgenutzten Identität an die Öffentlichkeit zerren. Er wusste nicht, wer „sie“ waren, aber er war sich jetzt sicher: Sie meinten es ernst.
Geradezu verzweifelt jetzt zerrte er an seinem Gurt, stemmte sich mit den Füßen auf dem Boden ab, riss mit seinem Körper vorwärts, seitwärts. Hielt unvermittelt inne:
„Sind Sie noch da?“ Er lauschte, aber das Requiem überlagerte jedes Geräusch. Und es bohrte sich jetzt druckvoll von allen Seiten in seinen Kopf, quälte unablässig den Rest seiner Nervenkraft. Etwas links von ihm und nur eine Beinlänge von seinem Sessel entfernt, flackerte die Kerze, unruhig jetzt.
Was als Entspannung gedacht war, trieb ihn auf einen Nervenzusammenbruch zu. Er schrie noch einmal: „Sind Sie noch da? Lösen Sie den verdammten Gurt.“
Er wartete gespannt, horchte mit geschlossenen Augen. Nichts geschah. Er ließ sich zurückfallen, resignierte, fiel einen Augenblick spannungslos in sich zusammen. Dann raffte er sich wieder auf.
Er musste handeln. Es musste einen Weg geben, diese Irren aufzuhalten. Aufgeben war jedenfalls keine Option.
Es war genau zweiundzwanzig Uhr achtundvierzig, als er kopfüber aus dem Sessel auf den Boden fiel. Seine Armgelenke waren aufgescheuert, seine geöffnete Hose hing ihm unter den Knien, aber er hatte es geschafft. Einen Atemzug lang verharrte er mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen auf Händen und Knien, atmete schwer. Als er die Augen öffnete, entdeckte er eine Armlänge entfernt die Fernbedienung für das Audiogerät und noch einmal eine Armlänge entfernt vor einem Bücherregal seine Brille. Hastig reckte er sich, riss die Bedienung an sich, ebenso seine Brille und beendete den zweiten Durchlauf des Requiems.
Stille. Dunkelheit und Stille füllten den Raum wie eine schwere Masse. Er blieb auf dem Boden liegen, alle Sinne auf seine Umgebung ausgerichtet. Sein Atem war das einzige Geräusch, ging tief und stoßweise.
Schwerfällig richtete er sich auf, wollte zum ersten Lichtschalter und musste sich hastig am Sessel festhalten; die Hose, immer noch auf den Knöcheln, brachte ihn beinahe zu Fall. Er zog sie hoch, hielt sie nur am Bund fest und schaltete das Licht ein.
Im Raum war nur er selbst. Er brachte seine Kleidung in Ordnung, rasch, sah sich dabei im Raum um; nichts hatte sich verändert. Auf der Anrichte neben der Tür lagen sein Smartphone, seine Geldbörse und sein Autoschlüssel an ihrem gewohnten Platz. Ulrike mochte es nicht, dass er diese Dinge dort ablegte, sobald er das Haus betrat. Aber es war sein Platz. Er hatte sich das so angewöhnt, musste diese Dinge in Sichtweite haben.
Wenige Minuten später brannte Licht im gesamten Haus.
Er war zuerst direkt in seinen Schlafraum geeilt, hatte dort die Schublade seines Nachtschranks aufgerissen: Die „Glock“ lag unberührt an ihrem Platz.
Diese handliche Pistole hatte er sich sofort gekauft, nachdem er den Waffenschein gemacht hatte. Er musste das tun. Unterschwellig war es immer da, dieses Gefühl einer möglichen Bedrohung. Auch wenn er sein Leben bereinigt hatte und jeden Gedanken an die Vergangenheit sofort unterdrückte, Vergangenheit war in der Tiefe schwelende Glut, er wusste das. Und er war entschlossen, niemandem zu erlauben, diese Glut zu entfachen.
Er nahm die Waffe aus der Schublade, hielt sie in der Hand, fühlte ihr Gewicht, das kalte Metall; die Ruhe kam zurück. Entschlossen lud er die Waffe durch, legte die Sicherung um und machte sich auf die Suche. Es würde Notwehr sein.
Er ging von Raum zu Raum, schaltete überall das Licht ein, sah in jede Ecke, in die Schränke. Im Haus war niemand mehr. Im Abstellraum hinter der Garage entdeckte er ein offenes Fenster. Eines der drei hoch gelegenen, schmalen Fenster war zwar zugezogen, aber es war nicht verschlossen. Darunter stand ein Tisch. Jemand hatte den Tisch, der im Sommer auf der Terrasse und jetzt in diesem Raum stand, direkt unter das Fenster geschoben. Er sicherte die „Glock“.
In dieser Nacht schlief er nur wenig. Schlummerte immer wieder ein, trieb dann nahe unter der Oberfläche, war bald wieder wach und grübelte.
Er musste Helmut anrufen. Die Firma würde die Sache übernehmen und dann wäre der Spuk bald vorbei. Aber, wer immer sich hinter diesem „Wir“ verbarg, sie meinten es ernst, und das würde nicht nur ihm Schaden zufügen. Sie mussten diese Typen irgendwie unschädlich machen.
Helmut würde die Firma aktivieren. Er war immer noch „Führungsoffizier“ und konnte Aktivitäten in vielen Bereichen in Gang setzen. Es gab in diesem Land keine wichtige Institution, kein wichtiges Amt, in dem nicht ein Mitglied der Firma seine Aufgaben wahrnahm. Jeder Alarm, jede Suche erschien schon nach wenigen Stunden auf über hundert Smartphones und Computern. Man konnte sich auf die Firma verlassen. Das hatte die Vergangenheit gezeigt.
Er versuchte, sich mit diesen Gedanken zu beruhigen. Wälzte sich dabei im Bett von einer Seite auf die andere. Das Gefühl der Demütigung klebte in seinem Kopf wie eine schwere, dunkle Masse. Ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Sein Kopf tat ihm weh. Der Schlaf wollte nicht kommen. Er stand auf, ging hinüber ins Bad und nahm ein Aspirin.
Gleich am Morgen würde er Helmut anrufen.
In den frühen Morgenstunden schlief er endlich ein, tief und fest.
Als er erwachte, war es bereits acht Uhr.
Auf der Bettkante sitzend rief er in der Klinik an und gab die Anweisung, alle Termine zu streichen, die für diesen Tag geplant waren, Patienten nötigenfalls telefonisch davon zu benachrichtigen. Er würde an diesem Tag nicht kommen.
Es war noch nie vorgekommen, dass er seine Termine nicht wahrnahm oder nicht wie gewohnt in der Klinik erschien. Seine Sekretärin würde annehmen, dass er aus wichtigem Grund verhindert war. Was ja auch den Tatsachen entsprach.
Während er ins Bad eilte und seine Morgentoilette begann, plante er sein Vorgehen. Helmut war