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gelegene, erste Stockwerk. Ihr Herz wummerte von innen gegen ihre Brust. Sie atmete tief ein und schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie wusste, dass sie nicht sonderlich sportlich war, aber diese verdammten Treppen! Die brachten wirklich jeden zum Schwitzen. Sie bog Richtung Toilette ab – und eigentlich mal wieder nur, um etwas zu Atem zu kommen, bevor es in den zweiten Stock ging. Sie streckte schon die Hand nach der Klinke aus, tat noch einen Schritt vor, als die Welt um sie herum plötzlich schwarz wurde. Sie zuckte zusammen, machte einen Satz rückwärts und blinzelte.

      »Stehst du an?«, fragte eine blondgelockte junge Frau, die direkt hinter ihr stand.

      »Äh …«, meinte Leyla und schüttelte dann verwirrt den Kopf. Mit großen Augen sah sie der Frau, die sich nun an ihr vorbeischlängelte, nach. Als diese die Toilettentür öffnete, konnte Leyla einen kurzen Blick auf ihr eigenes blasses, von Sommersprossen überdecktes Ich im Spiegel, direkt gegenüber der Tür, erhaschen. Dann fiel die Tür ins Schloss. Leyla starrte auf das weißlackierte Holz. Was war das gewesen? Was waren das dort für schwarze Fäden?

      Sie zögerte, wollte erneut einen Schritt vorwärts machen, hielt aber inne.

      »Oh man ey«, murmelte sie und drehte nervös an ihrem Ohrring. Dann wandte sie sich abrupt um und nahm die Treppen hinauf zum zweiten Stock ins Visier.

      Ihre Uhr ging nach. Das wurde ihr just in dem Moment klar, als sie die Tür zum Vorlesungsaal öffnete und ihr nicht nur Stille entgegenschlug, sondern sich auch etwa hundert Augenpaare auf sie richteten. Furchtbar! Sie spürte, wie ihr Gesicht eine Farbe annahm, die derer ihrer Haare sicherlich Konkurrenz machte und sah sich hektisch um. Ziemlich weit hinten im Saal bewegte sich eine Hand leicht nach oben und Leyla sah zu, dass sie in eben jene Richtung eilte.

      »In beiden Mengen ist die jeweilige Operation assoziativ«, der Dozent interessierte sich wenig für Leylas Zuspätkommen. Immerhin war er es gewohnt, dass seine Studenten tagtäglich nacheinander ankleckerten. Er fuhr unbeirrt fort, während Leyla den für sie freigehaltenen Platz erreichte. Erleichtert stellte sie fest, dass sich die Aufmerksamkeit der anderen Studenten wieder auf den Dozenten gerichtet hatte. Nur ein Kommilitone musterte sie eingehend.

      »Dass ich das nochmal erleben darf«, grinste der blonde junge Mann sie an. »Leyla Sealak ist tatsächlich zu spät und das sogar schon im zweiten Semester. Ich dachte, du wartest damit wenigstens bis kurz vorm Abschluss.«

      »Ach, sei still«, sagte sie lächelnd und fasste sich ins Gesicht. Sie glühte immer noch, aber langsam beruhigte sich wenigstens ihr Herzschlag. Wie sie es hasste zu spät zu kommen. Angestarrt zu werden und …

      »Hey, Majik! Kommst du am Samstag auch mit zur Semesterbartour?«, flüsterte jemand. Neugierig lehnte Leyla sich vor, um zu sehen, wer gefragt hatte. Sie hatte die junge Frau mit dem silber gefärbten Haar zu Majiks Linken noch nie gesehen – glaubte sie zumindest.

      Majik schüttelte den Kopf.

      »Bin nicht da«, sagte er und gab sich dabei nicht die geringste Mühe leise zu sprechen, während er sich gedankenverloren in seinem harten Stuhl zurücklehnte und etwas eingehend betrachtete. Leyla folgte seinem Blick. Natürlich. Majik hatte nicht eine mathematische Gleichung mitgeschrieben, geschweige denn sich irgendwelche Notizen gemacht. Er hatte seinen neuen Comic aufgeschlagen und daran weitergearbeitet. Leyla runzelte die Stirn, zog ihre eigenen Unterlagen aus der Tasche und sah Majik mit einer Mischung aus Neugierde und Missbilligung an. Er lachte, deutete mit dem Kopf erst auf das Mädel zu seiner Linken, zuckte mit den Schultern und machte dann eine Kopfbewegung gen Comic. Verschwörerisch legte er einen Finger an die Lippen. Er deckte das Bild kurz ab und bedeutete Leyla damit, dass sie noch nicht gucken durfte. Dann nahm er seinen Bleistift zur Hand und vertiefte sich in seine Arbeit. Leyla seufzte und blickte über seinen gesenkten Kopf hinweg zu der jungen Frau, die ihre Aufmerksamkeit wieder auf Algebra gerichtet hatte.

      Es war nicht so, dass Leyla Wert darauf legte zu einer Bartour zu gehen, aber es knabberte doch schon ein bisschen an ihr, dass niemand auf die Idee kam, sie zu fragen. Eingeladen wäre sie schon gerne geworden. Aber vermutlich kannte sie nicht mal jemand – höchstens als Majiks Anhang.

      Leyla war nicht gut darin neue Kontakte zu knüpfen, ganz im Gegenteil zu Majik, der, seitdem sie angefangen hatten in Potsdam zu studieren und in Berlin zu leben, schon gefühlt hunderte von Menschen kannte. Wenn sie gemeinsam einen Seminarraum betraten, begrüßte er die meisten – teilweise mit Namen – und sie grüßten ihn, während Leyla versuchte, sich im Schatten in die vorderen Reihen zu schleichen. Daraus wurde selten etwas, denn Majik holte sie stets zurück in die letzten Reihen. Verständlicherweise, denn er hasste Mathe. Der einzige Grund warum er Mathe studierte, war sie, Leyla. Na ja und sein Vater, der ihm die Hölle heiß gemacht hatte, als herauskam, dass Majik Kunst und Design studieren wollte. Letztendlich …

      Leylas Gedanken brachen abrupt ab, als ein schwarzes Flackern am Rande ihres Gesichtsfeldes ihre volle Aufmerksamkeit verlangte. Ihr Kopf zuckte herum. Kurz sah sie ein Blitzen, dann war es wieder weg. Sofort schoss ihr Puls wieder in die Höhe. Was war das gewesen? War das eben an der Toilette doch keine Einbildung gewesen? Hatte sie eine Sehstörung? Augenblicklich scannte ihr Gehirn sämtliche Erklärungen für »flackerndes, schwarzes Sichtfeld«, die sie in der Schulzeit gelernt hatte. Netzhautablösung. Schlaganfall. Kreislaufzusammenbruch. Migräne. Licht. Licht! Sie blickte gen Fenster, zu den hohen Bäumen und versuchte sich durch konzentrierte Atmung zu beruhigen. Es war ein Licht und Schattenspiel. Die Blätter der Bäume draußen bewegten sich sanft im Wind. Sie atmete entspannt aus. Für alles gab es eine logische Erklärung! Man durfte nur nicht immer gleich in Panik verfallen. Dennoch achtete sie die gesamte Vorlesung über auf dunkle Schemen, schwarze Punkte und sonderbar flackernde Flächen.

      »Was sagen Sie dazu? Äh …« Der Dozent warf einen Blick auf die erste Seite der Seminarteilnehmerliste. »Herr Dryska?« Majik zuckte zusammen und hob den Kopf.

      »Ich …« Er warf einen Blick auf Leylas Block und zuckte erneut zusammen. Der Block war leer. Hilfesuchend sah er Leyla an, doch sie war soeben selbst erst aus ihren Gedanken aufgeschreckt und hob entschuldigend die Schultern.

      »Ich weiß nicht«, sagte Majik und der Dozent seufzte resigniert.

      »Was ist los mit dir? Zu spät. Keine Notizen. Bist du krank?«, fragte Majik scherzhaft, kaum dass der Kurs beendet war und räumte seine Sachen zusammen.

      »Das ist nicht witzig!«, rief Leyla hilflos. »Ich bin vollkommen neben der Spur, ich …« Sie überlegte kurz, ob sie Majik von der Schwärze erzählen sollte, zuckte dann aber nur die Schultern. Warum sollte sie ihn mit ihren Fata Morganen belästigen, er hatte genug im Kopf. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie mit sich.

      »Ach Kleines, bleib cool. Wir sind jetzt Studenten. Wir machen nichts bis kurz vor den Prüfungen und lernen dann einfach zwei Tage vorher die ganze Nacht durch.«

      Sie lachte. »Das hat ja bei dir im letzten Semester unglaublich gut funktioniert, nicht wahr?«, fragte sie scherzhaft und schob die schwarzen Punkte in den hintersten Winkel ihres Gehirns.

      »Jaaa«, sagte er gedehnt und verzog das Gesicht. Er war im ersten Semester durch drei Matheprüfungen gerasselt und hätte Leyla nicht mit ihm gepaukt ohne Ende und sein Essay geschrieben, hätte das bei Familie Dryska vermutlich ganz schön was gesetzt.

      »Du kannst am Wochenende nicht?«, wechselte Leyla spontan das Thema und Majik verharrte kurz.

      »Ja, ich …« Er seufzte. »Können wir unser Treffen verschieben? Weil … Montag ist doch frei – Erster Mai, du weißt schon und da wollte ich nach Hause fahren.«

      »Kein Problem«, warf sie prompt ein. »Ich wollte dich auch fragen, ob wir das verschieben können. Ich muss arbeiten. Kanyo hatte mal wieder einen kleinen Wutanfall von wegen 15-Stunden-Woche und so.« Kanyo war Chef in dem Café, in dem sie hin und wieder arbeitete, um das Geld für die eigene Wohnung in Berlin zusammenzukriegen. Unglücklicherweise ließ sie sich dort neuerdings nicht mehr allzu oft blicken, weil sie noch einen zweiten Job als Werkstudentin im Bereich Risk Management angenommen hatte. »Wirst du deinem Vater beim Golfen wieder einmal deinen Zukunftsplänen lauschen müssen?«, fragte sie und er verzog das Gesicht.

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