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in hellblau verlor den Halt und rempelte Jocelyn an. Zacharias runzelte die Stirn. Obwohl die Kostümträgerin sich nicht entschuldigt hatte, drehte sich Jocelyn zu ihr um und sagte in akzentfreiem Deutsch:

      »Das macht doch nichts.« Es war einer der ersten Sätze, die sie gelernt hatte. Sie eignete sich die deutsche Sprache in ganzen Sätzen an. Zacharias brachte sie ihr bei. Sie hatte ein gutes Ohr und schaffte es spielend, jeglichen fremdartigen Tonfall zu vermeiden. Sie klang wie jemand, der nie etwas anderes als glasklares Hochdeutsch gesprochen hatte. Zacharias reagierte sofort.

      »Hast du gewusst«, sagte er unüberhörbar für die Umstehenden, »dass fünfundachtig Prozent der Deutschen es nicht für nötig halten, sich zu entschuldigen, wenn sie jemanden anrempeln?« Melzick unterdrückte ein Grinsen und nickte.

      »Hab ich auch gelesen. In Bayern sollen es sogar fünfundneunzig Prozent sein. Ist ’ne ganz neue Studie.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie die Frau hinter Jocelyn rot anlief.

      »Ja ja«, seufzte Melzick, »ist ’ne traurige Sache mit der Unhöflichkeit der Deutschen. So was ist in anderen Ländern einfach undenkbar.«

      »Man sollte die Leute eigentlich davor warnen«, pflichtete Zacharias bei.

      »Oh, das steht schon in vielen Reiseführern«, sagte Melzick. »Das wird die Touristen ganz schön abschrecken.« Zacharias schnalzte mit der Zunge.

      »Gar nicht auszudenken, wie sich das auf die deutsche Wirtschaft auswirkt. Was meinen Sie?« Er hatte den blassen Anzugträger direkt angesprochen. Der rümpfte angewidert die Nase und blickte demonstrativ gelangweilt an Zacharias vorbei. Sein Adamsapfel machte dabei allerdings ein paar heftige Klimmzüge. Der Zug näherte sich seiner Höchstgeschwindigkeit. Die Klimaanlage war im Urlaub. Die Vormittagssonne brannte durch die großen Panoramascheiben.

      »Hat jemand ’ne Ahnung, woher das Wort Arroganz kommt?«, fragte Zacharias in die Runde. Melzick hüstelte vornehm.

      »Jo. Das wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt. Arrogant« (sie sprach es genüsslich gedehnt aus) »hat damals auch hochnäsig bedeutet, wird aber heutzutage mehr im Sinne von eingebildet verwendet«. Auf der Stirn des Schlipsträgers machte sich eine Zornesfalte bemerkbar, umrahmt von winzigen Schweißtröpfchen.

      »Ursprünglich geht es auf das lateinische „arrogans“ gleich anmaßend zurück«, fügte Melzick strahlend hinzu.

      »Anscheinend gab es schon damals Zeitgenossen, die dieses Attribut verdienten«, sinnierte Zacharias. Melzick bemerkte, wie ruhig es plötzlich um sie herum geworden war. Sie fing ein scheues Lächeln von Jocelyn auf und ein freches Grinsen von Zacharias, der noch nicht genug hatte.

      »Wie ist es mit borniert? Hört sich auch irgendwie französisch an.«

      »Jep«, sagte Melzick. »Kommt von borne, der Grenzstein. Bedeutet engstirnig.« Sie sprach das Wort laut und deutlich aus mit unmittelbarer Wirkung auf einige in der Nähe befindliche Stirnen.

      »Ja, dann fehlt eigentlich nur noch ignorant«, verkündete Zack fröhlich. Melzick nickte und wirbelte ihre hennaroten Dreadlocks durcheinander.

      »Das ist ein besonders schönes Wort. Diesmal wieder aus dem Lateinischen.«

      »Und bedeutet?«, fragte Zacharias.

      »Ja, das musst du dir auf der Zunge zergehen lassen: von tadelnswerter Unwissenheit zeugend.« Zacharias hob eine Hand und Melzick schlug ein.

      »Hätte ich nicht besser formulieren können«, meinte Zacharias und blickte freundlich in die Runde. Hinter Jocelyns Rücken war ein undefinierbares Zischen zu hören. Die Dame in hellblau flüsterte ihrer Begleiterin mit den korallenroten Fingernägeln ein paar deutsche Worte ins von goldenen Klunkern bewachte Ohr. Der junge Mann im engen Designer-Anzug war zwischen ignorieren und reagieren hin- und hergerissen. Die schmale Krawatte bewahrte seinen Kragen nur mühsam vorm Platzen. Als die allerseits erleichtert aufgenommene Durchsage:

      »Nächster Halt Augsburg Hauptbahnhof, Ausstieg in Fahrtrichtung lllinks«, ertönte, beugte er sich zu Zacharias herab.

      »Für einen Hartz-IV-Schmarotzer reißt du dein Mäulchen ganz schön weit auf«, raunte er ihm zu. Zacharias schenkte ihm sein unverschämtestes Grinsen.

      »Als selbständiger Unternehmer bin ich es gewohnt, Menschen sicher einzuschätzen, was ihre Fähigkeiten angeht. Ihre schmale Krawatte deutet da auf eine eher enge Bandbreite hin. Sie sollten außerdem an Ihren Vorurteilen arbeiten. Die sind irgendwie noch nicht ausgereift. Ich würde Ihnen ja gerne näher erläutern, wie das geht, aber ich fürchte, ich habe jetzt was Besseres vor. Es gibt da aber sicher einen auch für Sie erschwinglichen VHS-Kurs.« Melzick hatte ihrem Bruder staunend zugehört, während sie das Transparent aus der Gepäckablage fischte. Der Zug hielt mit einem kräftigen Ruck, so als ob der Zugführer seinen Fahrgästen einen Schlag ins Genick mit auf den Weg geben wollte. Jocelyn drückte auf den grün leuchtenden Taster und war als Erste auf dem Bahnsteig. Melzick und Zacharias folgten ihr. An der Treppe warteten sie, bis sämtliche Fahrgäste an ihnen vorbei waren. Einige nickten ihnen zu. Ein schmalbrüstiger Herr mit abgewetzter Aktentasche, Typ Oberstudienrat, zwinkerte sogar in ihre Richtung. Die beiden pastellfarbenen Damen hatten es auffallend eilig, an ihnen vorbeizukommen. Von dem jungen Anzugträger war nichts zu sehen.

      »Wahrscheinlich hat er sich aufs Klo verzogen und googelt den Unterschied zwischen impertinent und inkontinent«, meinte Zacharias.

      »Seit wann hast du denn diesen Geschäftsführerton drauf?«

      Zacharias zwinkerte Jocelyn zu.

      »Wir arbeiten viel daran«, meinte sie, ein weiterer Satz aus ihrem Repertoire. Melzick legte beiden eine Hand auf die Schulter, wobei ihr das Transparent herunterfiel.

      »Ich bin schwer beeindruckt.« Zacharias bückte sich und hob es auf.

      »Das lässt sich noch steigern, Mel, wait and see.« Sie gingen langsam die Treppe hinunter, um zum südöstlichen Ausgang zu gelangen.

      »Sind wir nicht ein bisschen früh dran?«, fragte Melzick.

      »Was hast du denn gefrühstückt?«

      »’Ne halbe Grapefruit.«

      »Dacht ich mir. Deswegen gehen wir jetzt zum Brunchen ins „Dreizehn“.

      »Ins „Dreizehn“?«

      »Genau. Bei der Kresslesmühle. Das beste vegane Restaurant Downtown. Wir sind bei der Demo locker drei Stunden auf den Beinen. Da brauchst du ordentlich Power. Da reicht dein Pampelmüschen nicht.«

      »Schon gut, du hast mich überredet.« Sie drehte sich zu Jocelyn um, die versuchte, mit den beiden Schritt zu halten.

      »Und du verrätst mir, wie du so schnell Deutsch gelernt hast.« Jocelyn warf Zack einen fragenden Blick zu. Der gab ihr ein Zeichen.

      »Die deutsche Sprache ist ein wunderbarer Wald, aber ich kenne erst ein paar Bäume.« Melzick blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

      »Aha.« Zacharias schaute angestrengt zur Seite, aber er wusste in diesem Moment, dass seine Schwester ihn zu diesem Thema bei Gelegenheit nochmal interviewen würde.

      3. Kapitel

      In der Annastraße war um diese frühe Stunde noch nicht viel los. Die meisten Läden öffneten erst um zehn. Carlo war das egal. Er bezog seinen Stammplatz in der Fußgängerzone, schräg gegenüber vom „Weißen Hasen“. Sokrates begleitete ihn mit der ganzen Gelassenheit seiner elf Hundejahre. Seine Miene strahlte Zufriedenheit aus. Das machte die Routine. Sein Leben verlief in geregelten Bahnen, genauso wie das seines Herrchens. Carlo setze sich auf den Boden, lehnte den Rücken an die Fassade des Drogeriemarktes und streckte seine kurzen Beine auf einer Decke aus. Sie war grün und blau und gelb gemustert und glich mit ihren nach oben abgewinkelten Fransen einem fliegenden Teppich in Warteposition. Carlo legte das Etui mit seiner uralten Blockflöte sorgfältig rechts neben sich. Die schwarze, mit einem Schnappschloss versehene Holzschatulle stellte er offen

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