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Die unglaublichen Fälle des Harry Hell. Alexander Besier
Читать онлайн.Название Die unglaublichen Fälle des Harry Hell
Год выпуска 0
isbn 9783738013054
Автор произведения Alexander Besier
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich sehe einen Hauch von Heiterkeit um ihre Mundwinkel.
„Harry, du bist ein Idiot. Versteh mich doch: Ich hab seit Monaten keinen privaten Kontakt mehr pflegen können. Immer nur noch mehr Verantwortung, weniger Geld, mehr Auflagen, weniger Vertrauen. Ich bin heute Morgen aufgewacht und dachte, alles was ich anfasse, wird zu feinem Sand, der mir durch die Finger rinnt.“
„Cas, es tut mir leid. Ich brauche dennoch deine Hilfe: Es geht schließlich um einen Mord.“
Sie springt auf und schleudert ihre zarte Faust auf den Schreibtisch.
„Verdammt, du Arschloch. Habe ich nicht gerade gesagt, dass ich die Schnauze voll habe, dass ich fertig bin, es mir reicht. Und du? Du setzt noch einen drauf. Nicht nur vermisst, auch noch tot. Lass mich in Ruhe.“
Ich gehe zu ihr und lege meine Hand auf ihre Schulter.
„Okay. Okay. Es tut mir leid. Ich komme besser ein anderes Mal wieder.“ Ich wende mich zum Gehen.
„Bleib hier, Harry. Es tut mir leid. Ich bin ein wenig dünnhäutig geworden. Wie kann ich dir helfen?“
Ich lasse mich wieder in eines der abgewetzten Sitzmöbel fallen.
„Heute Morgen wurde eine Mädchenleiche auf der städtischen Müllhalde gefunden. Vermutetes Alter: zwischen vierzehn und sechzehn. Der Rumpf zeigte Spuren schwerer Misshandlung, das Gesicht allerdings ist unversehrt. Ihre Identität ist ungeklärt, sie wurde nicht als vermisst gemeldet und ihre Fingerabdrücke sind in keiner Kartei erfasst. Georges und ich dachten, es wäre eine gute Idee, hier mit den Ermittlungen zu beginnen.“
Ich reiche ihr die Digicam mit den Bildern der Toten.
Ihre Hand zittert und sie zieht die Augenbrauen zusammen.
„Es sieht schlimm aus. Das Gesicht habe ich noch nicht gesehen. Das heißt aber nicht viel, schließlich bin ich nur noch selten draußen unterwegs. Ich hoffe, du kannst diese Schweine schnappen, die so etwas anrichten.“
Sie schaut aus dem Fenster auf den schmierigen Hinterhof. Als sie sich wieder zu mir umdreht, funkelt mir wieder die altbekannte Entschlossenheit entgegen:
„Ich sage dir, was wir machen: Ich drucke das Bild ihres Gesichts aus und reiche es hier im Zentrum herum. Die Kinder sehen Dinge, die uns Erwachsenen nie auffallen würden. Mit ein bisschen Glück kennt sie jemand.“
Ich bemerke, dass an der Wand neben mir jede Menge Bilder von Kindern und Jugendlichen kleben. Einige nur in schwarzweiß mit abgeknickten Kanten und vergilbten Flecken darauf. Andere sind in Farbe und die Kinder stecken in Sonntagsanzügen, tragen zu große Brillen und lächeln gezwungen. Cas ahnt die Frage.
„Sie hängen da zur Erinnerung. Seit fünfzehn Jahren sammle ich diese Bilder von Vermissten, die hier abgegeben werden. Sie sollen nicht vergessen werden. Erst vor zwei Tagen saß auf deinem Platz ein älterer Herr, schütteres graues Haar, gesteifter Hemdkragen und blank geputzte Schuhe. Er knetete seine Mütze und starrte mich an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sein Sohn ist seit mehr als zehn Jahren vermisst. Auf dem Nachhauseweg verschwunden. Spurlos. Und er ist kein unterprivilegierter Malocher oder Ähnliches, sondern hat bei der Finanzbehörde als Abteilungsleiter gearbeitet. Politisch bestimmt ein Gegner unserer Arbeit. Seit drei Jahren spendet er regelmäßig für uns, kümmert sich um die Steuersachen. Alles ohne Worte. Seine Frau ist an gebrochenem Herzen gestorben. Hinter jedem Foto steckt eine ähnliche Geschichte.“
Die alte Härte ist in ihre Stimme zurückgekehrt.
„Lass uns sehen, was wir diesmal erreichen können.“
Wir gehen eine Treppe hinunter. Cas wirft einen kurzen Blick ins Sanitätszimmer: Zwei Kinder sitzen mit hängenden Köpfen auf einer Liege. Ihre Kleidung ist zerschlissen, die Gesichter schwarz vor Dreck und eines trägt einen Kopfverband. Ein Helfer reicht ihnen gerade ein Glas Wasser.
„Die zwei haben wir aus einem Sklavenhaushalt befreit. Sie wurden abgerichtet wie Hunde. Klauen, dealen, auf den Strich gehen. Ihr Alter ist nur schwer zu schätzen. Sie können nicht lesen und schreiben. Die Täter sind untergetaucht oder werden sogar von der Polizei gedeckt.“
Ich schüttele den Kopf.
„Der Mensch ist des Menschen Wolf.“
Cas packt mich am Arm.
„Verschon mich mit deinem philosophischen Halbwissen. Schlaue Sprüche hör ich an der Uni genug. Dazu die Gutmenschen, die sich hinter ihren Studien und ihren akademischen Meriten verstecken. Ich habe genug von diesem zynischen Blabla. Die Herrschaften sind sich bloß zu fein mit anzufassen.“
„Hey, schon gut. Ich hab nichts gesagt.“
Sie wechselt ein paar Worte mit dem Helfer, dann geht es weiter die Treppe hinab. Hier hat seit Jahrzehnten niemand mehr einen Finger für die Erhaltung gekrümmt. Der Handlauf dient bestenfalls als Wandschmuck. Das Erdgeschoss ist gleichzeitig Anlaufstelle, Versorgungsstation und Ruheraum für die Straßenkinder. Mindestens drei Dutzend haben sich zu dieser Tageszeit hier versammelt.
Einige dämmern in zerfransten Sesseln vor sich hin, starren auf einen altmodischen Fernseher, der den Cartoonkanal in Dauerschleife zeigt. Ihre ausgemergelten Körper stecken in Kleidung, die aus löchrigen Hosen und Altkleider-T-Shirts mit verwaschenen Farben besteht. Ihre Gesichter zeigen knochige Abgeklärtheit. Cas liest mir die Frage von den Augen ab:
„Die meisten sammeln ihre Nahrung aus dem Müll oder stehlen, was sie kriegen können. Sie kommen hierher, wenn sie nichts mehr finden oder einfach nicht mehr können. Sehr oft sind sie zugedröhnt. Die ständige Flucht macht sie krank. Etliche gehen auch auf den Strich. Jungen wie Mädchen. Hier findest du schon Zehnjährige mit Geschlechtskr...“
Sie kann ihren Satz nicht beenden. Ein Tumult bricht aus und die meisten Kinder stürmen aus dem Aufenthaltsraum. An die Wand gedrückt steht ein Junge, in der Hand eine lange Glasscherbe, die er bedrohlich an den Hals eines kleinen Mädchens drückt.
„Keiner bewegt sich. Ich schlitz der Kleinen den Hals auf, wenn ihr euch bewegt.“
Cas findet als erste ihre Sprache wieder und schiebt mich zur Seite.
„Keine Bewegung, hab ich gesagt.“
Seine Stimme überschlägt sich, der Schweiß rinnt in Strömen über das Gesicht. An den Türfenstern kleben die Gesichter der Neugierigen.
„Hör mal, Zakky, leg die Scherbe weg und gib das Mädchen wieder frei. Bis jetzt hast du noch nichts Schlimmes angestellt. Sei friedlich.“
Er schüttelt den Kopf. Das bleiche Gesicht strahlt gierige Entschlossenheit aus. Ich überlege kurz, ob ich meinen Revolver einsetzen soll. Cas spricht ihn wieder an:
„Zakky, warum machst du das? Was willst du denn von uns?“
„Ich brauche Steine. Mir ist alles egal, ich will nur die Steine. Gebt mir was ihr habt, verstanden? Sonst schlitz ich sie auf ...“
„Steine“ ist der gängige Begriff für eine synthetische Droge, deren Zusammensetzung irgendwo zwischen Waschmittel und Desinfektionslösung liegt. Er ist ein Junkie auf Entzug. Ich hebe meine Faust und sage ruhig:
„Zakky, ich hab hier was für dich. Eine ganze Hand voll Steine. Willst du sie dir holen oder soll ich sie dir bringen?“
Cas schüttelt leicht den Kopf und zieht die Augenbrauen zusammen. Sie ist nicht begeistert von meiner Idee. Zakky hingegen kann vor Gier kaum noch an sich halten. Die Scherbe drückt sich immer unerbittlicher in den Hals der Kleinen. Ein paar Blutstropfen mischen sich mit Zakkys Schweiß. An ihren Füßen hat sich ein kleiner See gebildet.
„Gib mir die Steine, du Looser. Leg sie hier vor mich hin.“
Er bietet seine letzte Kraft auf. Die Kleine im Würgegriff ist stocksteif und behindert ihn zusätzlich, doch die Aussicht auf den nächsten Kick hat ihn blind gemacht. Ich halte ihm die geschlossene Faust