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schickte letzte Strahlen in den Abendhimmel, der sich schon zu einem tiefen Stahlblau gefärbt hatte. Um sie herum ragten die Silhouetten der Bäume auf wie riesige Wächter, die sie beschirmten. Erst im letzten Moment sah Jerusha den unscheinbaren, einfach gekleideten Mann, der am Wegesrand stand. Der Geruch nach Eichenteer stieg ihr in die Nase. Es war Gorias, ein Elis, der aus dem Reich seines Volkes verbannt worden war und seither unerkannt zwischen den Menschen des Dorfes lebte. Als er Jerusha sah, verbeugte er sich. „Gute Reise, Lady Jerusha“, sagte er, und Jerusha nickte ihm lächelnd zu. „Ke´syn ten Erieth“, erwiderte sie in der Sprache der Eliscan. Das liegt in der Macht des Mondes.

      Wusste Gorias, wen sie heute treffen würden? Erzählt hatten sie es ihm nicht. Aber vielleicht spürte er es.

      Ihre Pferde trabten den schmalen Pfad entlang, der zum Fir Evarn führte. Aufwärts, immer weiter aufwärts zum Hügel der Gesichter.

      Qedyr

      Als sie angekommen waren, hob Jerusha die Laterne und sah sich um. Bei gutem Wetter konnte man von hier aus über das ganze Tal des Lint blicken, doch jetzt beschien das Licht nur einige kahle Äste in der Nähe.

      „Noch niemand da“, sagte Kiéran, und Jerusha nickte, sie wusste, dass die Gestalten der Eliscan für ihn von weithin sichtbar waren. Sie stiegen ab, um die Pferde grasen zu lassen. Doch Damaris schien nicht hungrig zu sein, sie wirkte nervös und scheute sogar einmal, ohne dass Jerusha einen Grund erkennen konnte. „He, he, was soll das denn?“ Jerusha hielt die Zügel fest, damit die Stute ihr nicht davonlief.

      „Ihr fehlt noch etwas die Gelassenheit“, meinte Kiéran. „Gib ihr Zeit, sie ist jung, das wird schon.“

      „Ganz ruhig“, murmelte Jerusha ihrem Pferd zu und glättete Damaris´ Stirnlocke – dass sie das mochte, hatte sie schon herausgefunden.

      Dann begann das Warten. Kiéran wirkte wachsam, und Je­rusha schien es, als würde die Zeit einfach nicht vergehen. Waren sie umsonst gekommen? Oder würden die Eliscan bald eintreffen? In den letzten Tagen war ihr klar geworden, was für ein unglaubliches Risiko Qedyr mit dieser Reise einging. Wenn sie und Kiéran sein Vertrauen missbrauchten, dann konnte er als Geisel in die Gefangenschaft der Menschen geraten.

      Das Licht von Jerushas Laterne fiel auf einige der sechs Gesichter, die sie damals auf Schulterhöhe in den Stamm der Craunen geschnitzt hatte. Eine Frau mit schön geschwungenem Mund, entrückt sah sie aus, ihre Augen blickten unverwandt das geschnitzte Gesicht eines jungen Mannes an, dessen Züge auf dem Baum gegenüber verewigt waren. Auf den Zügen eines Alten, den sie als letzten geschnitzt hatte, lag ein schalkhaftes Lächeln, als plane er einen Schabernack mit ihnen. Während Jerusha sie betrachtete, beschlich sie ein seltsames Gefühl. „Sie sehen nicht mehr ganz so aus, wie ich sie geschnitzt habe“, sagte sie zu Kiéran.

      „Natürlich nicht, der Baum hat sich ja verändert, und das Holz ist verwittert ...“

      „Das meine ich nicht“, sagte Jerusha und beugte sich vor, um eins der Gesichter aus der Nähe zu betrachten. „Die sehen auf irgendeine Art lebendiger aus als zuvor.“

      Kiéran sah aus, als hätte er das jetzt nicht unbedingt hören wollen. „Kein Wunder, dass der Hügel hier den Leuten unheimlich ist. Mir auch, ehrlich gesagt.“

      „Keine Sorge, ich war schon oft hier, und nie hat mich ein Dämon angefallen“, beruhigte ihn Jerusha, doch da spürte sie schon, dass jemand in der Nähe war. „Meine Liebe, wie schön, dass du mir mal wieder Gesellschaft leistest“, flüsterte eine Stimme direkt neben ihrem Ohr.

      Jerusha lächelte. Es war kein Dämon, natürlich nicht. Sie hatte schon damit gerechnet, dass ihr Schattenspringer bald auftauchen würde – er ließ sich in letzter Zeit nicht oft im Dorf blicken, doch hier auf dem Fir Evarn tummelte er sich gerne. „Sei gegrüßt, Grísho“, sagte sie. „Und, wie ist die Nacht heute? Schön schwarz und saftig?“

      „Geht so“, sagte Grísho und seufzte, es klang wie ein Windhauch. „Dieser Regen! Er ist unerträglich. Kein Schatten weit und breit, der größer ist als ein Mäuseschwanz.“ Schattenspringer wie er waren unkörperliche Wesen, die tagsüber von einem Schatten zum nächsten huschten und in der Dunkelheit der Nacht neue Kraft sammelten.

      „Ich hätte dir hin und wieder eine Lampe vorbeibringen können – aber ich habe es vergessen, fürchte ich“, meinte Jerusha zerknirscht und warf Kiéran einen Seitenblick zu. Er tat so, als lausche er nicht, doch Jerusha war klar, dass ihm kein Wort entging.

      „Du hast anderes im Kopf, ich weiß, meine Liebe“, beruhigte sie Grísho.

      „Ach, weißt du etwa, was ansteht?“ Allmählich kam es Je­rusha so vor, als sei schon jeder informiert darüber, was sie vorhatten.

      „Nicht genau, ich weiß nur, dass ihr reisen werdet – das war schwer zu übersehen.“ Die Frage, ob er als Reisegefährte erwünscht war, hing in der Luft, doch Jerusha konnte sie nicht alleine beantworten.

      „Was meinst du, Kiéran?“, wandte sie sich an ihren Gefährten. „Kann er mitkommen, oder ist das keine gute Idee?“

      Kiéran wandte sich um, und Jerusha sah, dass seine Augen etwas folgten – im Gegensatz zu ihr konnte er Grísho sehen, seit er das Amulett aus dem Tempel der Schwarzen Spiegel trug. „Grísho ... wärst du bereit, für uns zu kundschaften?“, fragte er. „Dann würden wir uns sehr freuen, wenn du uns begleiten könntest.“

      „Bereit? Ob ich bereit bin? Selbstredend!“, gab Grísho geschmeichelt zurück, und Jerusha freute sich, dass er dabei sein würde.

      Sie unterhielten sich noch ein wenig, dann verfielen sie in Schweigen, während sie warteten. Der Himmel war dicht mit Wolken bedeckt, und Jerusha konnte nicht erkennen, wie hoch der Sichelmond stand. Hoffentlich, hoffentlich treffen die Eliscan noch ein! Sonst liegt es nicht mehr in unserer Hand, ob es einen Krieg geben wird oder nicht ...

      Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Kiéran schließlich knapp sagte: „Sie kommen.“ Er wandte sich in eine bestimmte Richtung und blickte in die Dunkelheit.

      Jerushas ganzer Körper spannte sich an. Es war soweit.

      Dann waren sie plötzlich da, lautlos wie Schatten. Als erstes erschien eine junge, hochgewachsene Frau auf einem schwarzen Pferd mit sahnefarbener Mähne auf der Lichtung. Ihr Gesicht war ungeschminkt, doch es hatte eine schlichte, strenge Schönheit, die Verzierung nicht nötig hatte.

      Die Frau sah sich um, nur kurz blieb ihr Blick an Jerusha und ihrem Gefährten hängen, dann stieß sie einen leisen Ruf aus, und zwei weitere Reiter kamen aus dem Wald hervor. Sie saßen ab und gingen langsam auf sie zu. Jerusha erkannte Colmarél, er lächelte stolz und seine prachtvollen roten Locken fielen ihm auf die Schultern. Er ging einen Schritt hinter einer Gestalt, deren Gesicht unter der Kapuze eines einfachen Reisemantels verborgen war. Alle Eliscan trugen Handschuhe, um das silberne Mondsymbol an ihrer Hand zu verbergen.

      Zwei Armlängen vor Jerusha und Kiéran blieben die beiden stehen, dann schlug der Mann langsam seine Kapuze zurück. Ja, es war der König – obwohl Jerusha ihn nur einmal kurz gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort. Seine intensiven dunklen Augen sondierten sie, und obwohl sie es weder geplant noch besprochen hatten, verbeugten Jerusha und Kiéran sich beide tief vor ihm.

      Etwas verlegen richtete sich Jerusha wieder auf und nahm sich die Zeit, Qedyr genauer zu mustern. Qedyr hatte ein kantiges Gesicht mit einer wuchtigen Nase, seine Statur war solide und muskulös, nicht so feingliedrig wie die seiner Gefährten. Zum Glück ist er für einen Eliscan nicht sonderlich schön. Das ist gut für diese Reise, schließlich müssen wir unerkannt bleiben – Colmarél und die Frau sind schon Blickfang genug!

      Aber was war mit seiner Ausstrahlung? Schon bei Kiéran dachten die Menschen oft, dass er ein Earel sein müsse, ein Clanführer – er fiel auf, und bei Qedyr würde das nicht anders sein. Würde nicht sofort jeder merken, dass er ein Fürst war, wenn auch keiner aus dieser Welt?

      ***

      Es

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