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der anderen Seite des Tisches zugewendet, die seine Meinung zu dem diesjährigen Programm eines Musikfestivals hören wollte.

      „Mir war das gar nicht klar, dass Thomas so viel arbeitet“, sagte Thibault, sein kleiner Bruder, der kerzengerade auf seinem Holzstuhl sitzend die ganze Zeit still die Debatte verfolgt hatte. „Ich kann mir so etwas gar nicht vorstellen. Bei mir ist es genau anders herum. Ich habe ein ganz kleines Gehalt, dafür aber sehr viel Zeit.“ Thibault lächelte sein Mona-Lisa-Lächeln. Er wirkte noch ausgeglichener als sein Bruder. Manchmal hätte Julia gerne die Eltern kennen gelernt, die zwei so perfekte Kombinationen aus Bonvivant und Buddha großgezogen hatten. Allerdings passten Thibaults Werke – er war Maler – ganz und gar nicht zu seinem ruhigen, zurückhaltenden Auftreten. Die meisten Bilder waren Feuerwerke in schrillen Farben, von einer bemerkenswert aufgewühlten, fast schon aggressiven Sexualität. Die letzte Auktion mit Thibaults Bildern, die Julia besucht hatte, hatte passenderweise in einem Strip-Club stattgefunden. Julia konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Thibault zu solchen Kreationen kommen konnte, ohne ein Leben voller Exzesse, Drogen, Alkohol und Orgien zu führen. Doch jedes Mal, wenn sie ihn traf, beschränkte er sich auf ruhige, höfliche Konversation zu einem vereinzelten Bier. Er hielt sich mit kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser, anscheinend ohne größere Mühe, was in dieser sündhaft teuren Stadt an ein Wunder grenzte.

      „Das ist eben das große Dilemma“, sagte Catherine. „Man kann einfach keine Arbeit finden, die interessant und anspruchsvoll ist und von der man eine Pariser Miete zahlen kann, ohne gleich seine gesamte Freizeit zu verkaufen. Die Jobs hingegen, bei denen dir Zeit für ein eigenes Leben bleibt, sind schlecht bezahlt und meistens langweilig. Thomas hat die schlechteste aller Welten gewählt. Er bekommt noch nicht einmal anständiges Schmerzensgeld dafür, dass er sich zum Leibeigenen macht.“

      „Wenn du so viel arbeiten musst, hilft es auch nicht mehr, wenn sie dir viel Geld zahlen“, warf Julia ein. „Mit Sebastians Gehalt können wir im Geld baden, aber in Berlin war unsere Lebensqualität viel besser. Er war zwar immer unzufrieden, weil er dachte, er verdient nicht genug für seine Qualifikationen, hat keine Entwicklungschancen, hat nichts aus sich gemacht, aber damals konnten wir abends noch etwas unternehmen oder zusammen kochen. Jetzt findet das gemeinsame Leben nur noch am Wochenende statt und dann können wir meistens keine Ausflüge machen, weil er so kaputt ist, dass er bis mittags schlafen muss. Oder er muss auch am Wochenende ins Büro. Was ist der ganze Verdienst wert, wenn man keine Zeit hat, zusammen sein Leben zu genießen? Wenn man sich nur noch gegenseitig den Rücken stärkt für ein Arbeitsleben, das keinen Raum mehr für etwas anderes lässt?“

      „Sei nicht so indiskret“, flüsterte Sebastian. Er war inzwischen mit dem Amerikaner bei einer Diskussion über die wirtschaftlichen Aussichten im Rustbelt angekommen, den alten Industriestaaten im mittleren Westen der USA.

      „Früher war das anders“, behauptete Julia. „Meine Eltern sind immer zum Mittagessen nachhause gekommen. Und sie haben Mittagsschlaf gehalten. Stell dir das mal vor. Jeden Tag, zwanzig Minuten lang. Sogar Adenauer hat Mittagsschlaf gehalten. Das ist unvorstellbar heute, ein Kanzler der mittags schläft. Aber damals ging das. Und das wird doch nicht einfacher gewesen sein als diese Finanzkrise, Deutschland aus dem Kriegssumpf zu ziehen, mit den Nachbarn zu versöhnen, mit Israel, und die Wirtschaft wieder aufzubauen. Das sind wir, die etwas falsch machen heute, wenn wir keine Zeit mehr haben zu leben. So muss man eine Gesellschaft nicht organisieren.“

      „Das Gute an dem neuen Leben ist, dass ihr bei uns seid“, warf Catherine ein, hob dabei bedeutsam ihren Zeigefinger.

      „Das stimmt. Das ist ein echtes Plus, und ein großer Trost“, sagte Julia. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Bierglas, während sie Sebastians Hand drückte.

      „Aber Julia hat recht“, sagte Catherine. „Wenn man sich eine Wohnung leisten kann und ab und zu eine schöne Reise, dann bringt alles zusätzliche Geld keine weitere Lebensqualität mehr. Da kannst du nur noch anfangen, dir Designerklamotten zu kaufen, obwohl es viel schönere Sachen für ein Zehntel des Preises gibt. Du kehrst in Luxushotels ein, obwohl es in der Rucksackabsteige viel lustiger ist, oder du fährst Geländewagen in der Innenstadt. Das bringt überhaupt nichts. Das Problem ist, dass sie inzwischen schon versuchen, deine gesamte Freizeit zu stehlen, wenn du nur die Wohnung und den Rucksack willst. Selbst wenn sie dich nicht ununterbrochen im Büro oder im Labor halten, rauben sie dir deine Zeit damit, dass sie dich zwingen, dir alle halbe Jahre einen neuen Sechsmonatsvertrag zu organisieren. Und dass muss sich ändern.“ Catherine schlug auf den Tisch.

      „Genau“, sagte Julia. Sie schlug ihrerseits so heftig auf den Tisch, dass die Biergläser bedenklich wackelten. „Wir brauchen eine neue Arbeiterbewegung. Nachdem die Gewerkschaften mehr als ein Jahrhundert für kürzere Arbeitszeiten gekämpft haben, gefallen sich die Arbeitskräfte mit hohen Löhnen heute darin, sich gegenseitig mit der Länge ihrer Arbeitszeit zu überbieten. Wider das Rattenrennen!“

      „Auf die neue Arbeiterbewegung!“, rief Catherine, hob ihr Bierglas und stieß mit Julia, Sebastian und Thibault an. „Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber aller Qualifikationen.“

      „Wir stoßen auf eine neue Massenbewegung an, die dafür sorgen wird, dass du weniger arbeiten musst“, erklärte Catherine Thomas.

      „Und dann gehen wir tanzen“, rief Julia und hob ihr Glas erneut.

      Thomas schüttelte den Kopf. „Ich muss nachhause. Ich bin kaputt.“

      Julia beobachtete schon eine ganze Weile, wie ihm immer wieder die Augen zufielen, während er versuchte den Erzählungen von Juliette zu folgen.

      „Ich bin zwar lange nicht so zerstört wie er“, flüsterte Catherine hinter vorgehaltener Hand, „aber ich hätte jetzt auch nichts gegen ein Schlümmerchen.“

      „Siehst du, da hast du es“, beklagte sich Julia. „Die Arbeit hindert uns daran zu leben.“

      „Ach komm“, sagte Sebastian. „Wir machen morgen etwas Schönes. Am Freitag darf die arbeitende Bevölkerung müde sein. Selbst die, die sich nicht versklavt haben.“

      Julia seufzte. Schließlich schloss sie sich Catherine, Sebastian und Thibault an, die aufgestanden waren, um ein umständliches Verabschiedungsritual zu veranstalten mit gehauchten Luftküssen für all jene, die in der Bar zurückblieben.

      Die Besten sollen Eltern werden

      Die Veranstaltung hatte bereits begonnen. Sebastian unterschrieb auf der Liste, die ihm die Frau am Empfang entgegenhielt, und öffnete beinahe lautlos die Tür zum Sitzungsraum.

      Mit seinen beinahe vollständig besetzten Holzstuhlreihen glich der Saal den Klassenzimmern aus Sebastians frühester Schulzeit. Vorne thronte leicht erhoben auf einem Podest hinter schweren Pulten ein Dreigespann, das offenbar die Pariser Adoptionsbehörden vertrat. In der Mitte saß ein kleiner, dünner Mann mit fahlem Gesicht und grauen Haaren, die ihm wie zerzauste Federn bis auf die Schultern fielen. Seine altmodische Brille mit runden, Gold umrandeten Gläsern war fast bis auf die Nasenspitze gerutscht. Er stellte sich als Monsieur Lambert vor, der Behördenleiter. Dabei blickte er missmutig durch die Reihen der Bewerber.

      Eine rundliche Frau zu seiner Linken mit ausgewachsener, halblanger Frisur bemühte sich um einen freundlicheren, offenen Gesichtsausdruck. Einsatzbereitschaft signalisierend, hielt sie einen Stapel Papiere leicht angehoben vor sich. Monsieur Lambert stellte sie als Monique Matthieu vor, seine Mitarbeiterin. Die kurzhaarige Frau zur Rechten war deutlich jünger als ihre Kollegen. Sie hieß Véronique Dumont und war zuständig für die Koordinierung internationaler Adoptionsverfahren mit dem Außenministerium. Sebastian ließ ihre entschlossene Haltung auf sich wirken. Bestimmt führt sie regelmäßig organisatorische Verbesserungen am Arbeitsplatz ein, dachte er. Sie ist nie um eine Lösung der verschiedenen Probleme verlegen, die in ihrer Behörde anfallen.

      Julia saß in einer der letzten Reihen und blätterte in einem bunten Ordner, den auch andere Zuhörer auf dem Schoß hielten. Sebastian setzte sich auf den Stuhl neben sie und küsste sie flüchtig auf die Wange, während er seine Tasche verstaute.

      „Wie

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