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ihr euch. Berger weiß noch, wie er dann in der Klasse möglichst stillsaß und in den Pausen auf dem Schulhof das Gehen und Rennen vermied. Diese Tortur blieb ihm erspart, wenn er Sport hatte; das fragte sie ihn oft am Abend vorher. Dann hätten seine Schulkameraden im Umkleideraum dieses Wollungetüm zu Gesicht bekommen und Schlechtes von ihr denken können. Irgendwann beantwortete er ihre Frage so oft wie möglich mit Ja.

      Das „Plastron“ war auch so ein seltsames Teil, das ihn bis zur Unterstufe des Gymnasiums verfolgt hat: ein Kragen mit zwei herunterhängenden Stücken Baumwollstoff, die am Rücken mit dünnen Schnüren zusammengebunden wurden. Dieses halbe Hemd konnte natürlich nur unter einem Pullover getragen werden; wenigstens hat es nicht gekratzt. Bestimmt ist es auch in irgendeiner dieser Plastiktüten zu finden.

      Dass die Brüder jetzt tage- und wochenlang im Haus zu tun haben werden, liegt vor allem an der Eigenart der Mutter, praktisch alles aufzuheben und zu sammeln. Am Anfang, als die Geschwister noch Kinder waren, mag das noch einigermaßen nachvollziehbar gewesen sein – etwa wenn sie, um ein paar Pfennige zu sparen, die Schulbrote statt in einen Frühstücksbeutel in eine Tüte packte, in der ursprünglich Walnüsse gewesen waren. Mit der Zeit wurde dieser von ihr oft mit Stolz beschriebene Sparsamkeitssinn den Geschwistern immer peinlicher. Sie hob jede leere Bonbontüte auf, jeden gebrauchten Briefumschlag, auf dem man noch schreiben kann, jede Büroklammer, jedes Marmeladenglas, jedes noch so kleine Gummiband. Sie stellte sogar selber Gummibänder her, indem sie alte Fahrrad- und Autoschläuche in Ringe schnitt; damit ließen sich auch schwerere Plastiktüten und Kartons, in denen sie alle möglichen Dinge hortete, kraftvoll umspannen und verschließen. Hinter das Gummiband der meisten Tüten und Kartons steckte sie ein Etikett mit ihrer runden Handschrift. Alte Gardinen, liest Berger, auf einer größeren Tüte steht: Alles verschiedene Stoffmuster; das Etikett einer leichten Tüte lautet: 3 große Tüten von Aldi (für Kleiderbügel). Daneben ein kleiner Kunststoffbeutel: Alles Ostersachen. Berger schaut kurz hinein: Papiergras, Farbstifte und Plastikeier – ab damit in den Müllsack.

      Die Etiketten sind rechteckig und oval aus Papier oder einem Stück Pappe geschnitten. Neben den Säcken packt Berger auch Kartons mit Zeitungen, Pappe und Papier, stapelt sie im Flur des ersten Stocks und beschriftet sie mit Karteikarten aus dem Schreibtisch des Vaters. „Papiermüll“ und „Plastikmüll“ schreibt er darauf, auch „Schuhe“ und „Medikamente“ – wie deine Mutter, denkt er. Aber für den Fall, dass Helmut die Sachen in seiner Abwesenheit getrennt entsorgen will, ist es schon sinnvoll, beruhigt sich Berger. Sein Rücken fängt an zu schmerzen, die Hände sind feucht in den Handschuhen. Er schaut aus seinem Schlafzimmerfenster. Der Garten ist heruntergekommen, nichts Grünes mehr zu sehen. Der kleine Zaun zum rechten Nachbarn steht immer noch. An der Trennlinie zum linken Nachbarn wuchsen früher Himbeer- und Stachelbeersträucher. Zwei Häuser weiter wohnt Forstmann. Der bringt gerade seinen Garten in Schwung, schneidet Sträucher und knickt die trockenen Äste zu Brennholz. An Forstmanns Garten grenzt der eines älteren Paars von der Häuserreihe eine Straße tiefer. Die beiden sitzen auf der Terrasse, der Mann trinkt aus einer Tasse und stellt sie ab; es ist so ruhig, dass Berger das Klackern des Porzellans hören kann. Die Märzsonne ist angenehm warm. Er würde jetzt auch lieber irgendwo einen Kaffee trinken, als in seiner Vergangenheit zu wühlen. Das Fenster ist morsch, überall blättert der Lack ab. Im Winter haben sich oft Eisblumen an den Scheiben gebildet, in die sie mit den Fingernägeln Rillen und Figuren kratzten. In den oberen Zimmern konnte ja nicht geheizt werden. Warum es im ganzen Haus keine Heizung und keine neueren Fenster gab, ist Berger und seinen Geschwistern bis heute unbegreiflich. Anfang der 70er-Jahre bot das Folienunternehmen „Betzberg“ die Häuser vom Rosenbusch und der Straße darunter den Familien zum Kauf an; die Alternative war: ausziehen. Sämtliche Mieter wurden (stolze) Hausbesitzer und ließen – dank staatlicher Förderung – zu erschwinglichen Preisen eine Zentralheizung und auch neue Fenster einbauen. Nur die Bergers nicht. Die Mutter hatte sich quergestellt mit Argumenten wie Kälte ist gesund und diese modernen, dichten Fenster lassen kein bisschen Luft mehr durch. Unbegreiflich, wie sie sich damit beim Vater durchsetzen konnte. Wahrscheinlich hatte er – wie in vielen anderen Situationen – erst sachlich argumentiert, irgendwann aber entnervt resigniert gegenüber ihrem Starrsinn. Auch wenn sie ja nicht ganz unrecht hatte in dem zweiten Punkt: Minusgrade in den Zimmern und Eisblumen am Fenster sollte man seinen Kindern nicht zumuten. Berger und sein Bruder haben wegen der fehlenden Heizung schon früh ein inneres Heizsystem entwickelt. Einen Pullover brauchen sie jedenfalls selten, und bei ihren Frauen gelten sie als „Öfen“ – oder „Nachtspeicher“, wie Berger manchmal scherzt.

      Wenn die Familie fünf Wochen Urlaub in Südtirol machte, haben er und die Schwester ihre Puppen an die Scheibe dieses Fensters gelehnt, damit sie in den Garten schauen konnten. Nun hängen hier nur noch die durchsichtigen Gardinen schlaff herab. Darüber der Vorhang, den sie sich, als sie noch alle drei hier schliefen, gegenseitig verkauft haben. Das war so ein Spiel bei ihnen: „Vorhängeverkaufen“. Einer war der Ladenbesitzer, der andere der Käufer: Ich hätte gern ein Stück von dem hier.

      Im nächsten Moment sieht er die nackten Füße von Helmut vor sich. Der große Zeh des Bruders, dessen Fußende ans Gitterbett des drei- oder vierjährigen Berger reichte, war „die Tante“. Morgens, wenn es schön warm war unter Helmuts Decke, griff der kleine Berger durch die Stäbe und sagte der Tante guten Morgen, was er durch Kneten, Ziehen und Biegen des Zehs bekräftigte. Erst jetzt fällt Berger ein, dass man diesen Zeh ja „großer Onkel“ nennt. Das Tante-Begrüßen verlängerte jedenfalls den Aufenthalt im warmen Bett.

      Berger zählt die vollen Säcke: 15. Endlich kommt er in seinem Zimmer an die Schränke heran. Die will er morgen ausräumen. Er zieht die Gummihandschuhe aus und wirft sie in einen der offenen Säcke. Dann macht er noch einen Rundgang durchs vollgestellte Elternschlafzimmer über die Treppe in den zweiten Stock, wo Helmut und Frida ihre Zimmer hatten. Der Bruder bekam seinen eigenen Raum, als er mit zehn oder elf Jahren aufs Gymnasium kam. Wann Frida nach oben zog, weiß Berger nicht mehr genau; vermutlich zu Beginn ihrer Pubertät.

      Spinnweben sind keine zu sehen, stellt er fest. Offenbar haben auch die Insekten längst das Weite gesucht. Aber Mäuseköttel überall, wie ausgesäte Schokostreusel. In Fridas Zimmer schaut er einige Sekunden lang auf ein vergilbtes Porträt des jungen Uli Hoeness im Trikot von Bayern München (wohl aus einem „Kicker“ von Helmut). Für diesen Spieler hat sie in den 70er-Jahren mal geschwärmt. Überraschend eigentlich, denn in der Familie interessierte sich niemand besonders für Fußball, außer für die Spiele der Nationalmannschaft. Nur Berger kuckte hin und wieder mit seinen Freunden die „Sportschau“. Jetzt fällt ihm ein: Helmut war mal an zwei Karten für das Spiel Wuppertaler SV gegen Bayern München gekommen und mit Frida ins Stadion gefahren. Der WSV war in die Bundesliga aufgestiegen und die Bayern zu Gast. Hinterher schwärmten die Geschwister davon, Beckenbauer, Müller, Maier und Hoeness endlich mal live gesehen zu haben. Eine Ecke des Posters hat sich inzwischen von der Reißzwecke gelöst und aufgerollt, die Tapete ist an dieser Stelle etwas heller.

      Das Puder der Handschuhe hat weiße Stellen auf Bergers mittlerweile trockenen Händen hinterlassen. Wieder unten in der Küche, dreht er den Hahn auf. Es kommt kein Tropfen. Ach ja, Helmut hat das Wasser abgestellt. Über dem Spülstein schüttet er Mineralwasser aus einer Flasche über seine Hände, reibt sie gegeneinander, spült nach und wischt sie an seiner Hose einigermaßen trocken. Zurück in der Wohnung des Bruders, zieht er gleich Schuhe, Hose und T-Shirt aus und duscht sich den Muff vom Leib. Nach altem Haus riechen die Sachen, sie werden ab jetzt zu seiner Arbeitskleidung für diese Tage.

      Schon um Zehn geht er ins Bett, doch sein Kopf ist noch im Elternhaus. Die Froni fällt ihm ein, die kindsgroße Puppe der Schwester. Die Mutter hatte aus Wollresten einen Kopf, Rumpf und Gliedmaßen geformt, mit beigefarbener Haut (einem alten Baumwollstoff) überzogen und mit Filzstift ein unschuldiges Gesicht gemalt, in das die aus braunen Wollfäden gedrehten Haare fielen. Froni trug eine alte Strickjacke von Frida und ihre ersten (weißen) Schuhe, sie trägt sie noch immer. Seit die Schwester in einem Wohnheim lebt, sitzt die Puppe als stumme Gefährtin auf ihrem Sessel. Ob sie wie eine Schwester für Frida war, zumindest eine Zeit lang, und von der Mutter so gedacht? (Berger wird seine Schwester danach fragen.) Er hat jetzt nicht mehr die Puppe im Sessel vor Augen, sondern die Mutter im Drehstuhl.

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