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Pflegers. Die Mutter hat ihn wohl nach dem Verbinden des Beins gebeten, sie dazulassen, die kann ich noch brauchen. Der Pfleger wird ihr diesen Wunsch achselzuckend erfüllt haben. Sie hat die Finger dann zu kleinen Ringen geschnitten. Berger betrachtet die Schachtel einen Moment halb neugierig, halb angewidert. Fridas Mund entweicht ein verächtliches Stöhnen. Gummibänder hatte sie immer schon mehr, als man in einem Leben brauchen kann; genauso wie Plastiktüten, Sicherheitsnadeln und Büroklammern, die sie oft von der Straße aufgehoben hat, was auch dem Vater peinlich gewesen war. Das mag vielleicht der Sammeltrieb der Kriegsgeneration gewesen sein. Aber bei der Mutter hatte es etwas Krankhaftes. So viel Vergangenheit. Bedrückend für die Geschwister ist: Sie sind ein Teil davon.

      Nicht ein einziges Mal hat die Mutter Berger besucht, weder in Hamburg noch in seiner vorhergehenden, nur wenige Kilometer vom Elternhaus entfernten Wohnung in Wuppertal, wo er mehrere Jahre mit seinem Bruder zusammenlebte. Als möglichen Grund dafür nahm er an, sie habe Angst, hilflos seiner drohenden Kritik an ihrer Erziehung ausgesetzt zu sein. Sie selbst sagte jedoch immer in stets klagendem Ton, sie müsse den Garten machen oder den Dachboden entrümpeln oder sie wolle doch endlich mal wieder ein Bild malen. Einige Male versuchte Berger, ihre eventuellen Bedenken zu zerstreuen und ihr einen Besuch schmackhaft zu machen, etwa durch einen Gutschein für eine Bahnfahrkarte nach Hamburg zu Weihnachten – vergeblich. Als er sein Leben mehr und mehr in den Griff bekam, hörte er langsam auf, auf ihr herumzuhacken. Da nahm bei ihr der Anteil an gesundheitlichen Hinderungsgründen zu. Einmal wurde sie von einem einparkenden Auto angefahren, ein Fußgelenk wurde dauerhaft geschädigt. Dann kam noch der Herzinfarkt, der ihr einen Schrittmacher verschaffte.

      Ich sehe dich verstrickt in einem Knäuel von Ängstlichkeit, Entsagung, Geiz, Unorganisiertheit und Überforderung. Und mit dem Alter wird sowas ja nicht unbedingt besser. Gemalt hast du jedenfalls nie mehr, und dass du weder den Keller noch den Dachboden aufräumen würdest, war mir ohnehin klar.

      Über eine andere Entdeckung muss Schwester Frida jetzt lachen (ein Lachen, in dem auch Erschütterung und Verachtung steckt): Im zweiten Stock sind an der Flurwand leere Milchkartons gestapelt; flach gefaltet und zu Dutzenden mit schwarzen Gummibändern zusammengehalten – eine Mauer aus Milchtüten, mehr als einen Meter lang und hoch. Es wird Monate dauern, bis sie das Haus ausgeräumt haben werden; zumal jeder ja auch noch sein eigenes Leben hat und Berger jedes Mal aus Hamburg anreisen muss. Frida, die vom Alter her die Mitte der drei Geschwister einnimmt (sie ist ein Jahr älter als Berger), will sich sogar ganz aus dieser Aktion heraushalten und nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben.

      Erst die Zeitungen in Kisten und die anderen Sachen in Säcke, beschließen die Brüder auf der Rückfahrt, dann kommen sie besser an die Schränke heran. Dabei müsse jedes Blatt umgedreht werden, damit sie nicht etwas Wichtiges oder Wertvolles übersehen. In Gedanken sieht Berger schon vor sich: Geldscheine zwischen Zeitungen, Münzen in Plastiktüten. Vor dem Keller graut ihnen am meisten; da ist wohl auch die Mutter seit Jahren nicht mehr gewesen.

      Am Abend schlafen Berger und Frida bei Helmuts Familie. Berger liegt noch lange wach, bekommt die Bilder nicht aus dem Kopf: die Mutter im Sarg, das Chaos in dem Haus. Einmal stellt er sich vor, er würde in den Keller hinuntersteigen und dann, in der Waschküche, die tote Mutter in einem Gartenstuhl vorfinden.

      Jetzt wird sich jedenfalls niemand mehr melden, wenn ich deine Telefonnummer wähle, die unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt ist. Und wenn ich sie nun doch wähle, diese Nummer? Ihm ist unheimlich zumute bei dieser Vorstellung: Nach langem Klingeln würde er zuerst ein Klicken hören – und erst nach einer sekundenlangen Pause würde sie ihren Namen nennen, mit brüchiger Stimme und in fragendem Ton.

      2.

      Einen Monat später biegt Berger wieder in die Straße seiner Kindheit ein. Der „Rosenbusch“ ist die letzte Abzweigung einer vom Langerfelder Markt relativ steil ansteigenden Straße, die oben an einem Denkmal endet. Daran schließt nahtlos der großflächige Wald an, in dem sie manchmal mit bis zu zwanzig anderen Kindern gespielt haben. Rosenbusch, das klingt irgendwie edel, nach heiler Welt.

      Jetzt steht er wieder vor seinem Elternhaus. Es ist das mittlere Haus eines von drei nebeneinander liegenden Blocks, die kurz nach dem 2. Weltkrieg gebaut wurden und früher dem Folienunternehmen gehört haben, in dem ihr Vater und die Väter der gesamten Nachbarschaft arbeiteten. Diese Werkshäuser, eine Straße unterhalb des Rosenbuschs stehen drei weitere Dreierblocks, sehen von außen bis heute gleich aus. Im Parterre besteht die Fassade aus mittelgrauem, mauerartigem Backstein mit einem breiten Fenster, im ersten Stock aus (asbesthaltigen) Eternitplatten; hier sind zwei Fenster mit grünen Holzläden eingelassen. Das braun geziegelte Dach hat ein Erkerfenster im zweiten Stock und eine Luke im Speicher. Zwei Schornsteine sind die höchsten Punkte jedes Blocks.

      Es ist Ende März, warm und im Vorgarten wuchert der Rasen. Auf der Terrasse hat der Bruder mehrere Eimer mit faulendem Inhalt abgestellt. Helmut gönnt sich mit der Familie gerade einen Skiurlaub und hat Wohnungs- und Autoschlüssel an einem abgesprochenen Punkt hinterlegt, damit Berger die Tage bei ihnen übernachten kann und mobil ist. Müllsäcke hat er von Hamburg mitgebracht. Davon werden sie in der ersten Zeit wohl am meisten brauchen.

      Auf der grünen Haustür klebt noch die von der Mutter aus weißer Plastikfolie ausgeschnittene „12“. Berger betrachtet die Klingel mit dem Namensschild. Die Umrandung hält wohl ewig. Alte Kaugummis, von ihr gesammelt und wieder weich gekaut oder erwärmt, haben ihr als Knetmasse gedient. Daraus formte sie diese kleine rechteckige Fläche um die Klingel herum und kerbte die verdickten Ränder mit einem Messer so ein, dass es wie eine Bordüre aussah. Sogar die Ränder der Badewanne dichtete sie einmal mit Kaugummi ab; das funktionierte aber nicht, die Masse wurde bald rissig.

      Berger drückt einmal den Klingelknopf: dieses helle, durchgehende Schellen, das sie früher nur selten selbst auslösen mussten, weil jeder in der Familie wusste, dass man sich den Hausschlüssel mit den Fingern angeln konnte. Auch das war eine von Mutters Ideen gewesen: An der Innenseite der Haustür wurde direkt unter dem Briefschlitz eine ovale Öse ins Holz geschraubt und darin der Schlüssel eingelegt und mit einer daran befestigten Schnur vor dem Zu-Boden-Fallen gesichert.

      Berger muss den Schlüssel im Schloss leicht hin- und herbewegen, bevor er sich endgültig nach rechts drehen lässt und die Haustür öffnet. Dieses ruckelnde Drehen mit Gefühl – diese früher jeden Tag mehrfach ausgeführte Bewegung ist so in ihm drin, dass seine Hand sie auch jetzt noch, nach werweißwieviel Jahren, wie automatisch ausführt. Beim Öffnen schiebt er einen Haufen Post beiseite, der sich im Flur auf dem Kachelboden gesammelt hat. Es riecht nicht mehr so schlimm wie vor Wochen. Helmut hat in Küche, Wohnzimmer und im ersten Stock die Fenster geöffnet, sodass ein leichter Durchzug entsteht.

      Berger stöhnt innerlich: Wo anfangen bei den Bergen an Zeitungen, Kleidungsstücken, Kartons, Eimern, Blechdosen und Plastiktüten. Zuerst zieht er sich ein Paar Gummihandschuhe an, die der Pfleger als Vorratspackung auf dem Schränkchen im Flur gelassen hat. Bisschen klein, aber besser, als mit bloßen Händen in den alten Sachen zu wühlen. Die Hoffnung, in seinem ehemaligen Zimmer etwas Vertrautes oder Überraschendes zu finden, lässt ihn schließlich dort beginnen. Auf dem Boden vor dem großen Kleiderschrank, der sich über etwa zwei Drittel der Länge des Raums zieht, liegen Stapel von Hosen, Pullovern und Jacken, dazu Plastiktüten mit Stoffen und Wollballen; auch auf dem Bett ist alles voll mit Mänteln, Kissen und Tüten. Die vier von der Mutter mit Tapete beklebten Kleiderschranktüren bilden einen passenden Rahmen dazu.

      Na, dann wollen wir mal. Berger öffnet den ersten Sack und greift sich ein Teil nach dem anderen. Jedes Mal muss er entscheiden: aufheben oder weg damit? Die Säcke nur nicht so voll machen, sonst reißen sie beim Raustragen. In einer Stunde hat er fünf, sechs Säcke gepackt und ins Elternschlafzimmer gestellt. Berger ist zufrieden, trotzdem scheint das Zimmer kaum leerer geworden zu sein.

      Sie hat tatsächlich nichts weggeworfen. In einer Schublade der Kommode findet er Frotteeslips und Socken aus seiner Kindheit. Die Slips sind braun und hellblau gemustert; die gab es damals im Dreierpack, erinnert er sich. Die Socken sind aus Acryl und am Bund völlig ausgeleiert.

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