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so heißt es jetzt, seien ganz andere Bevölkerungsgruppen systemrelevant, nämlich Ärzte und Pflegerinnen, Feuerwehrmänner und Verkäuferinnen. Sie – die (bis auf die Ärzte) weder einen hohen Status noch eine hohe Bezahlung genießen – seien jetzt relevant, weil sie Leben retten und unsere Versorgung aufrecht erhalten. In dieser Aussage erhält nicht nur der Begriff „Relevanz“ eine neue Bedeutung, sondern auch der Begriff „System“. Denn plötzlich erscheint nicht mehr das Wirtschaftssystem als relevant, das sich aus Produzenten und Konsumenten und Eigentümern zusammensetzt, das kapitalistische System, in dessen Lenkungszentrum die sogenannten „Märkte“ sitzen, das Finanzkapital, das aus dem Auf und Ab der Produktion und der finanziellen Situation ganzer Länder Gewinne zu kreieren versucht.

      Nein: „System“ meint jetzt: Gesellschaften, Bevölkerungen, soziale Beziehungen, Millionen von Leibern, deren Existenz bedroht ist und gesichert werden soll.

      In den zitierten Kommentaren wird auch auf die Zeit nach Ende der Pandemie verwiesen: Wir sollten dann die Relevanz der heute im Rampenlicht stehenden Gruppen nicht vergessen. Wir sollten sie endlich besser honorieren (im Doppelsinne: anerkennen und bezahlen). Wir sollten um Himmels Willen (!) nicht wie in der neoliberalen Logik der Gewinnmaximierung sie wieder primär als Kostenfaktor betrachten und wegrationalisieren. Das sei eine Frage der Humanität, aber auch des Selbstschutzes unserer Gesellschaften, die heute erfahren, welche gefährliche Folgen es hat, wenn im Gesundheitswesen gespart wird, Folgen, die im Augenblick der Krise nur in kleinem Maße korrigiert werden können – oder parallel dazu, wie Waldbrände sich ausbreiten, wenn vorher Etats für Feuerwehren gekürzt worden sind.

      9

      Ich mache mich auf zu einem kleinen Spaziergang durch mein Wohnviertel. Den ganzen Tag zu Hause sitzen, das kann ich nicht. Es ist Anfang April, ein kühler Wind weht, doch in der Sonne ist es angenehm warm. Die Gärten vor den Reihenhäusern eine vielfarbige Pracht. Kein Dauerrauschen auf der vierspurigen Straße, die das Viertel nach Süden hin begrenzt, nur dann und wann das Geräusch eines einzelnen Autos. Stattdessen kann man die Vögel hören. Das einzige Wort, das in dieses Bild des Friedens und der Schönheit passt: Sie jubilieren. Ich wundere mich, wie wenig Menschen ich sehe. Kommt mir jemand auf dem Bürgersteig entgegen, wechselt er oder sie die Straßenseite, oder ich weiche aus. Stille gegenseitige Rücksichtnahme. Ein Wohlgefühl füllt mich ganz aus.

      Dann bin ich wieder zu Hause, schalte den Fernseher ein, schlage die Zeitung auf, lese von der Zunahme der Zahl der Kranken und der Toten. Zwei Welten, gleichzeitig.

       An dem Abend, nachdem er diesen Text verfasst hatte, dieses Bild einer durch die Krise gesteigerten Idylle, schaute er Sondersendungen zur Pandemie auf zwei Kanälen. Da ging es um Menschen in Altersheimen, die nicht mehr besucht werden dürfen, um Alleinlebende, die keine Außenkontakte mehr haben, und um Alleinerziehende, die zu allen ihrer Lebenssituation geschuldeten Erschwernissen hinzu nun auch noch die Rolle der Hilfslehrerinnen übernehmen müssen, um Arbeiter, die um ihren Arbeitsplatz bangen, Handwerker, die befürchten, ihre Angestellten nicht mehr bezahlen zu können, Künstler ohne Auftritte, Pflegerinnen, die bis zur Erschöpfung ihren Dienst tun. Und er empfand ein Gefühl der Scham (das da war, obwohl es keiner logischen Notwendigkeit entsprang). Er ergänzte seinen letzten Eintrag:

      Selbstverständlich weiß ich, dass meine Lebenssituation privilegiert ist. Ich bin meines Alters wegen nicht nur Mitglied einer vielzitierten Risikogruppe. Als Ruheständler mit einer auskömmlichen Rente muss ich nicht für mein Auskommen arbeiten. Ich bewohne ein Reihenhaus mit einem Flecken Grün davor und dahinter. Ich habe eine Partnerin. Und zu einem Teil meiner Enkel habe ich sogar die Möglichkeit des Austauschs (wenn auch über eine Distanz von zwei Metern). Wenn sie nicht zu verallgemeinern sind - wie bedeutsam sind damit meine Beobachtungen und Selbstbeobachtungen? Wie richtig ist es, sie schriftlich zu fassen, um sie dann auch anderen zu lesen zu geben?

      10

      Mein Auto war in Reparatur. Heute erfolgte der Anruf aus der Werkstatt: „Sie können Ihren Wagen abholen.“ Ich verwies auf mein Alter – also meinen Risikostatus – und bat darum, das Auto bei mir zu Hause abzuliefern. Ich plante detailliert, wie die Übergabe vonstattengehen sollte: Wenn es klingelte, sollte der Werkstattvertreter einen Schritt von der Tür zurücktreten, Autoschlüssel, Werkstattbericht und Rechnung auf den Gartentisch vor dem Haus legen; wenn nötig, würde ich eine Unterschrift mit dem eigenen Stift in Abstand zu seiner Person an diesem Tisch leisten.

      Es klingelte. Vor mir stand ein jüngeres Paar, er im Blaumann mit Firmenlogo, sie war vermutlich seine Freundin. Er lächelte mich an, streckte mir die Hand entgegen, aus der ich Autoschlüssel und Papiere und den Stift zur Unterschrift entgegennahm.

      Als die beiden gegangen waren, ärgerte ich mich über mein Verhalten. Hatte ich nicht die Regeln des Selbstschutzes missachtet? Regeln, die mir nicht nur seit Wochen empfohlen, ja verschrieben worden waren, sondern die einzuhalten ich mir so fest vorgenommen hatte? Wie konnte ich in der konkreten Situation das Skript vergessen, in dem ich mein Verhalten bis ins Letzte geplant hatte?

      Ich beruhigte mich. Schließlich: Wie hoch ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ich mich in der geschilderten Begegnung angesteckt habe? Und ich entdeckte auch das Schöne in einem Verhalten, auf das in Coronaviruszeiten zu verzichten wir uns verpflichtet haben. Wie selbstverständlich ist es uns, auf ein Lächeln mit einem Lächeln zu reagieren, auf eine ausgestreckte Hand mit einer ausgestreckten Hand!

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      „Thema des Tages“ lautet, fettgedruckt, regelmäßig die Titelzeile auf den ersten zwei Seiten meiner Tageszeitung. Jetzt, in Zeiten der Pandemie, sind es sechs Seiten, jeden Tag, und das Thema heißt Coronavirus. Es geht um Zahlen und Kurven zum Infektionsstatus, um politische Entscheidungen und deren ökonomische Auswirkungen, um die epidemische Situation in anderen Ländern der Welt. Ich, der Leser als Betroffener, lese die Nachrichten und Reportagen von der ersten bis zur letzten Zeile.

      Gleichzeitig vermisse ich Nachrichten zu vielen Themen, welche die Zeitungsmacher und auch mich bis zum Ausbruch der Pandemie beschäftigten, zu Problemen, die keineswegs gelöst sind, menschlichen Katastrophen, die ganz sicherlich andauern: Wie steht es mit der Umstellung der Wirtschaft auf eine nachhaltige Produktionsweise, wie entwickeln sich die Kriege im Jemen, in Syrien, in Libyen usw. usf.? Das Virus füllt die Seiten, für die anderen Fragen der Menschheit bleibt kein Platz.

      Muss das so sein? Ließen sich nicht ein Großteil der Angaben zur Entwicklung der Pandemie in ein oder zwei Sätzen zusammenfassen? Ohne Details, die zum Verständnis der Lage wenig beitragen und für mein persönliches und bürgerliches Verhalten irrelevant sind?

      12

      „Wir brauchen keinen Bundeskanzler X!“ Das X ersetzt hier den Namen eines Virologen und Kenner der Coronaviren, der als Fachmann und weil er allgemeinverständlich formulieren kann, fast täglich in den verschiedensten Fernsehkanälen auftaucht. Er erklärt, was man über das Virus weiß, wie die Krankheitsverläufe sind, welche Schutzmaßnahmen sich bewährt haben und welche nicht. Die staatlichen Reaktionen der letzten Wochen belegen, dass Politiker seine Worte ernst nehmen. Was soll die Kritik daran, dass wissenschaftliche Expertise einmal mehr gilt als das Kalkül eines Politikers, der primär an seine Wiederwahl denkt?

      Was mich tatsächlich aufregt, ist Folgendes: Es gibt eine Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 2013, eine Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Thema: die pandemischen Folgen des jederzeit zu erwartenden Auftretens eines neuen Corona-Virus und die notwendigen Vorbereitungen des Staates, um dafür gewappnet zu sein.

      Warum hat diese Veröffentlichung damals nicht zu einer großen öffentlichen Debatte geführt? Warum haben die staatlichen Behörden, die mit dem Gesundheitswesen befasst sind, die Vorhersagen nicht ernst genommen? Warum sind in dem teilprivatisierten Gesundheitswesen Entscheidungen getroffen worden, z. B. der Abbau des Pflegepersonals, welche

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