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herabströmt? Das Volk jedenfalls ist bereits abgöttisch in den Rosenheimer verliebt, denn nach neun Reichen, die ihren wohlbemessenen Tribut entrichten, lädt er jeweils einen Armen kostenlos zu sich ein, um ihn von seinen Leiden zu heilen. Dieser Mann hat nicht nur zwei heilbringende Hände, sondern dazu noch ein weites, mitleidendes Herz.

      So einen Mann braucht Wien, so einen Mann brauchen wir in unserer Mitte! Vergesst nicht, dass schon seit Tagen von merkwürdigen Todesfällen am Gürtel gemunkelt wird. Wenn etwas dran ist, worüber ich mir vorerst noch kein Urteil erlauben möchte, dann ist Cornelius Forchtel noch am ehesten jener Mann, der uns mit seiner aufrechten Gesinnung und seinen Händen vor Unheil bewahren wird...

      Eine so überschwängliche Panegyrik aus der Feder von Brohh - ich staune. Auf mich wirkt der Handaufleger bisher nur ernüchternd. Was ist dieser Mann denn anderes als einer der vielen hochstapelnden Quacksalber und Scharlatane, die seit einiger Zeit ganz Europa heimsuchen? Ich weiß, die Wiener sind wie alle geborenen Theatermenschen leicht zu begeistern. Sobald ein begabter Schauspieler unter ihnen erscheint, wird die Vernunft ausgeschaltet, sie sind einfach hingerissen. Ich sehe darin eine gewisse Unfähigkeit, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Außerdem versetzt es mir einen Stich, wenn ich daran denke, dass auch Elli eine der Wartenden in der Schlange vor dem Hotel am Ring, dem Hotel Imperial, sein könnte.

      Sorry, stand in ihrem SMS, der Handaufleger ist im letzten Moment dazwischengekommen.

      Thomas Bernhard war hier zu Gast

      Den Wiener Tag- und Nachfalter beiseite legend, blicke ich auf die Uhr. Nur noch zehn Minuten. Vor meiner Begegnung mit Lisa, die pünktlich um 22 Uhr stattfindet, bringe ich gewöhnlich einige Zeit im Café Bräuner zu. Diese Zwischenstation ist für mein geistiges Wohlergehen von einiger Bedeutung. Vor dem abendlichen Programm bei Lisa, das vor allem meine körperlichen Funktionen erfordert, pumpe ich mich sozusagen noch mit geistigem Fluidum auf, um davon für die kommenden zwei Stunden zu zehren.

      Die Standarte, Hauspostille des linken Lagers, habe ich schnell überflogen, dann folgt ein Blick in die Presse, wo sich das rechte Österreich feiern lässt. Und am Ende steht in der Regel die ausgiebige Lektüre des Tag- und Nachtfalters, wo langatmig begnadete Caféhausliteraten von der Art und dem Rang Dr. Brohhs ihren Lesern Wien und die Welt erklären.

      Ich kann übrigens sicher sein, Liesl hier unten auf keinen Fall anzutreffen, obwohl ihre Wohnung nur zwei Stockwerke höher liegt. Wäre doch schön, sie einmal in ein Buch vertieft zu erleben oder wenigstens in eine Zeitung, aber das kommt bei ihr ganz gewiss nicht vor, schon gar nicht abends, wenn sie sich von ihren Parcours in der Hofreitschule erholt.

      Ach so, war ihre einzige Reaktion, als ich ihr erzählte, dass kein Geringerer als Thomas Bernhard im Bräuner regelmäßiger Gast war.

      Der Nestbeschmutzer, na servus, mit dem verschone mich bitte! Der hat alle Österreicher pauschal zu Nazis und Wahnsinnigen erklärt, sich selbst natürlich ausgenommen.

      Jawohl, mein liebstes Lieserl, denke ich, als sie sich empört vor mir aufstellt. Ein Nestbeschmutzer, das war er wohl, aber eher noch ein besonders hellsichtiger Mensch, der sich mit den vielen Gebrechen seiner Landsgenossen eben nicht widerspruchslos abfinden wollte.

      Diesen Einwand bringe ich jedoch lautlos vor, denn in einen Streit über Schriftsteller lasse ich mich mit ihr gar nicht erst ein, obwohl mir ein solcher Streit vielleicht einen bequemen Vorwand liefern würde, unsere Beziehung endgültig aufzulösen. Von Schriftstellern hält Lisa nämlich sehr wenig. Im Vergleich zu Pferden hätte diese Art Mensch einfach zu wenig Charakter.

      Ich wunderte mich eher, dass sie bei unserem damaligen Gespräch über österreichische Literatur - ich glaube, es war und blieb das einzige zu diesem Thema - noch ein paar weitere Sekunden bei dem berühmt-berüchtigten Autor verweilt.

      Allein dieser Stil, man wird ja regelrecht durch die Mangel gedreht! Der hämmert dir jeden einzelnen seiner Wahngedanken mit einem Keil in den Kopf. Damals, im Burgtheater habe ich das Stück gesehen, weil man halt gehen musste, jeder ging damals hin. Es war ein Riesenskandal. Wie hieß es doch? Heldenplatz, richtig, obwohl es da gar keine Helden gibt. Am liebsten hätte der Mensch uns alle nackt ausgezogen, seelisch gesprochen, und uns dann mit der Peitsche weggeprügelt. Einigen Masochisten gefällt eine solche Behandlung, mir aber nicht. Ich bin eine Kinsky, da habe ich glücklicherweise eine gewisse Erziehung genossen.

      Ich wusste, es hat keinen Sinn, mit ihr über Literatur zu reden. Ja, sie ist eine Kinsky und dazu noch eine tolle Frau, soviel ist richtig. Aber mit Elefanten, die einem das Familienporzellan zertreten, gibt man sich in solchen Kreisen nicht ab.

      Mein Blick wird in diesem Moment von einem Männchen abgelenkt, das soeben das Café Bräuner betritt. Spärliche Haare, die einen Kranz um die Glatze bilden, spreizen sich widerspenstig vom Kopf, der Rücken ist mehr als bei anderen gerundet, offenbar leidet der Mann an einem Buckel. Man könnte an einen Hippie aus längst vergangenen Zeiten glauben, wüsste ich nicht, dass es sich um einen Physiker handelt, einen Mensch der strikten Ordnung also, der die ganze ihn umgebende physische Welt in eine Zwangsjacke aus Gesetzen steckt. Seltsam, wie sich das Männchen selbst aber außerhalb der Gesetze stellt! Auf eine das Auge geradezu beleidigende Weise vernachlässigt der kleine Mann die äußere Person. Die Jacke ist an den Ärmeln mit abgewetzten Schonern versehen und an mehreren Stellen geflickt, die Schuhe sind ungeputzt.

      Es ist wirklich ein Skandal, dass ich mich vor Thorbrecht Tannenberg, der kleinen Tanne, wirklich nirgendwo retten kann. Liesls Bruder, Albert, hat ihm vermutlich einen Hinweis auf meine Besuche bei seiner Schwester gegeben. Wie sollte er sonst davon wissen, dass ich mich um diese Zeit im Café Bräuner aufhalte?

      Andererseits tut er mir leid, zumal er sich solche Mühe gibt, die eigentliche Absicht seines Besuches zu verschleiern. Beim Betreten des Cafés tut er nämlich zunächst einmal so, als würde er meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerken. Zielstrebig eilt Tannenberg zum Zeitungsständer, als ginge es ihm um die abendliche Lektüre. Doch in Wahrheit ist das natürlich nichts anderes als ein leicht zu durchschauendes Theater: Im Bräuner lauert er mir jetzt schon das zweite Mal auf.

      Und schließlich ist es dann auch so weit: Während er sich anschickt, einen Platz am nächstgelegenen Tisch einzunehmen, schweifen seine Augen wie zufällig nach links und nach rechts, scheinbar absichtslos blickt er in meine Richtung, streift dabei mit den Augen meine Person, stößt einen kurzen Schrei gespielter Begeisterung aus, schwenkt beide Hände mitsamt dem Zeitungsblatt und stürzt auf mich zu.

      Das war zu erwarten! Diesem Mann gegenüber bin ich einfach wehrlos. Wenn man mit einer solchen Physis gestraft ist - Thorbrecht ist ja beinahe ein Zwerg – dann darf man natürlich auf Mitleid spekulieren.

      Servus Carsten, welch ein glücklicher Zufall, Dich hier anzutreffen! Das tut einem Physiker gut: die beruhigende Nähe eines Philosophen. Ihr Deutschen seid doch alle die geborenen Denker. Nach jedem Gespräch mit Dir trete ich der Wirklichkeit innerlich gestärkt gegenüber.

      Ich zwinge mich zu einem gutmütigen Lächeln. Natürlich ist das nichts als das übliche Salongesäusel, das fast jeder hier mühelos beherrscht. In Wahrheit ist Tannenberg ein Getriebener, manchmal kommt er mir wie ein manischer Schwätzer vor, ein ewig spottender Thersites, der sich mit Sarkasmus, Gespött und Zynismus in einem fort an der Schöpfung für die stiefmütterliche Ausstattung rächt, mit der sie ihn strafte. Meine Nähe ist ihm vermutlich nur deshalb lieb, weil er in mir ein wehrloses Opfer für sein unbefriedigtes Mitteilungsbedürfnis entdeckte. Er weiß ja, dass ich in dieser halben Stunde, bevor ich nach oben zu Liesl gehe, einfach nicht weglaufen kann. Ich sitze in der Falle, ich bin ihm ausgeliefert.

      Was gibt es Neues, Thorbrecht? frage ich resigniert.

      Gute Frage! Na, was soll es schon Neues geben? Das Bräuner steht noch, und der Schatten von Thomas Bernhardt irrt nach wie vor heimatlos durch seine Mauern. In ganz Wien, was sage ich, in ganz Österreich, findet er keinen Unterschlupf. Ein armer irrender Geist. Bei uns hätte er es übrigens nie zu etwas gebracht. Wäre nicht ein Deutscher gekommen, der ihn im Burgtheater die höheren Weihen verleiht und es auch noch wagt, die Wiener Jahre lang mit seinen Stücken zu drangsalieren,

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