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Vom verzauberten Hexer in der Schildkröte. Carmen Sternetseder-Ghazzali
Читать онлайн.Название Vom verzauberten Hexer in der Schildkröte
Год выпуска 0
isbn 9783738087383
Автор произведения Carmen Sternetseder-Ghazzali
Жанр Социология
Издательство Bookwire
Für die Tötung von Demokratiefeinden nimmt der Drohnenpilot nach der Gehirnwäsche den Tod von Zivilisten in Kauf, weil sie für ihn nichts weiter als stereotype Figuren in einem gerechten Krieg sind. Stereotype Figuren im Sinne von bösen Wilden, primitiven Untermenschen eben, die mit ihrer provozierend anderen Lebensweise unsere Zivilisation gefährden.
Eine Drohne namens Mq-1 Predator kostet 4,5 Millionen Dollar, dafür kann sie auf einer Höhe von über 7 000 Metern über 3 700 Kilometer fliegen und eine enorme Raketenlast tragen. Auch wenn Krieg immer teurer und zielgenauer wird, human wird er niemals sein.
Im Januar 2012 demonstrierten rund 100 000 Menschen aus Karachi gegen die Drohnenangriffe, von denen sie sich zutiefst bedroht fühlen. Obwohl sie in keinster Weise mit den Taliban sympathisieren, empfinden sie es als Zumutung, dass ihr Leben nunmehr in doppelter Weise gefährdet ist. Vom Regime der Taliban und von der US-Regierung.
Aber für viele Drohnenpiloten sind die demonstrierenden Menschen aus Karachi und die Taliban irgendwie ein und dasselbe. Schließlich nehmen sie notfalls auch deren Tod in Kauf. Sie aber zu lehren, andere Kulturen differenzierter zu betrachten, widerspräche dem Wesen des Krieges.
Krieg braucht Feindbilder und die sind immer stereotyp.
Niemals darf ein Soldat die Personen im Fadenkreuz als Menschen betrachten, die genauso schutzbedürftig, lebensfreudig und voller Sehnsucht nach friedlichen Verhältnissen sind wie er selbst. Er muss nur das Böse sehen, das Karzinom, ihm gilt sein Vernichtungswille, dem gefährlichen, bösen Untermenschen. Er ist das Sinnbild des Bösen, das zerstörerische und feindliche Element der eigenen bestehenden Ordnung. Stereotype Denkschablonen gehören daher zum Anfang aller Kriege.
In einer friedlichen Welt taugen sie allerdings nicht viel. Im Gegenteil, sie schaffen Unfrieden, sorgen für Missverständnisse und produzieren eine Kultur der Vorurteile und Nörgelei.
Rousseaus Träume vom edlen Wilden
Dreiunddreißig Jahre nach Hobbes′ Tod geboren, war auch Rousseau ein fleißiger Leser von ethnografischen Berichten. Aber da man ja bekanntlich seine Suche danach ausrichtet, was man finden will, studierte Rousseau nicht die Werke, mit denen Hobbes sich begnügte, sondern knüpfte sich neben den englischen Reisebeschreibungen und den spanischen und portugiesischen Bordbüchern mit Gewissheit vorrangig die Werke seiner Landsleute Du Tertres, Prévost und Lahontan vor.
Von allen dreien übertreibt es Louis-Armand Baron de Lahontan in seinem fiktiven Dialog Gespräche mit einem Wilden aus dem Jahre 1703 am meisten. 1666 geboren, kam Lahontan als junger Mann nach Kanada, um dort als Offizier in der französischen Kolonialarmee zu dienen. Damals besiedelten die Huronen Kanada. Ihr Häuptling hieß Kondiaronk. Als Lahontan ihm begegnete, änderte das seine Gesinnung von Grund auf. Denn das offenbar friedliche Dasein in freier Natur erschien ihm tausendmal erstrebenswerter als das stressige und von Zwängen beherrschte Leben in der französischen Metropole. Er idealisierte das Leben der Huronen.
In seinen Dialogues Curieux schrieb er seine Ideen vom freien, friedlichen Naturleben in Form fiktiver Gespräche mit einem Wilden namens Adario nieder. Adario lebte aus seiner Sicht das wahre, edle und vor allem richtige Leben.4
Adario war niemand anderes als Kondiaronk, der Häuptling der Huronen. Lahontan schuf mit Adario den ersten edlen Wilden, der in Figuren wie dem Südseehäuptling Papalagi, Tarzan oder Winnetou bis heute weiterlebt. Diese Figuren sind pure Illusionen, dazu da, uns unter die Nase zu halten, wie glücklich wir hätten sein können, wenn alles ganz anders wäre. Hätte man Kondiaronk gefragt, was ihm so alles an seinem Leben missfällt, wäre ihm bestimmt so einiges eingefallen. Aber das hat niemand.
In seiner 1755 publizierten Schrift Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen konstruiert Rousseau (1712-1778) auf der Basis dieser Schriften eine spekulative Evolutionsgeschichte, an deren Anfang er den edlen Wilden (á la Adario) als idealtypische und zivilisationskritische Figur setzt. Als leidenschaftslosen, selbstgenügsamen, glücklichen, instinktgeleiteten und friedfertigen Naturmenschen mit nur einer Schwäche: Ihm fehlt die Gabe, sein Tun zu reflektieren. Seine Instinkte sind die Impulse, nach denen er handelt. Sonst aber ist er uns weit voraus. Um das zu verstehen, müssen wir Rousseau weit zurück in unsere eigene Vergangenheit folgen.
Einst soll es laut ihm eine Zeit gegeben haben, in der wir Menschen noch alleine als isolierte, bedürfnislose, sprachlose Wesen ohne Behausung durch die Wildnis tigerten, die Früchte der Natur aufschmatzten, so wie sie uns von den Bäumen entgegensprangen. Werkzeug, Kriege, Gemeinschaftssinn und die Kunst des Feuermachens waren uns noch fremd. Aber dann erkannten wir, dass es besser war, gemeinsam zu jagen und schlechtem Wetter zu trotzen als alleine. So schlossen wir uns mit anderen zu noch unstrukturierten Horden zusammen. Noch immer stillten die wilden Tiere und die Früchte von den Bäumen unseren Hunger, aber etwas änderte sich in unserem Bewusstsein.
Durch die Erfindung von Werkzeugen und den Feuergebrauch gelang es uns immer besser, die Wildnis um uns herum zu beherrschen. Wir waren den Unberechenbarkeiten der Natur, den Witterungen und den Wildtieren nicht mehr ausgeliefert und wurden arrogant. Wir begriffen nämlich, dass es zwischen uns und der Tierwelt einen Unterschied gab, dass sich unsere Menschenwelt von der Tierwelt abhob.
Wir waren plötzlich nicht mehr Teil der Natur, sondern teilten sie ein, klassifizierten und zähmten Flora und Fauna und wurden in einem weiteren Schritt sesshaft. Auf unseren Äckern wuchsen nun bessere Früchte, ja, das Früchteangebot wurde immer üppiger. Wir erwirtschafteten Überfluss und konnten uns mehr Kinder leisten. Es kam der Tag, da mehr Kinder als Erwachsene zwischen den Gehöften umherwuselten. Es kam zur Bevölkerungsexplosion mit der Folge, dass die Ressourcen verknappten.
Auch die Fleischtöpfe leerten sich, die Bäume spendeten nicht mehr genügend Früchte für alle, wir hungerten plötzlich. Das erste Mal in der Menschheitsgeschichte litten wir Hunger. Es waren unsere brennenden Mägen, die den bisher unbekannten Hang zum grausamen Verhalten durchbrechen ließen. Um an Essbares zu gelangen, fingen wir an, uns gegenseitig abzumetzeln. Kriege folgten auf Kriege und darauf folgten wieder Kriege.
Rousseau lehnt zwar Hobbes′ Paradigma vom Krieg aller gegen alle ab, zählt allerdings als primären Kriegsgrund nun auch Streitigkeiten um Land auf. Reich und wohlhabend wurde künftig auch jener mit der größeren Durchschlagskraft.
So schlossen wir uns aus Not zu großen militärischen Kampfeinheiten zusammen. In derartigen Gruppen herrschte aber kein echter Gemeinsinn. Die Gruppe bot Schutz, aber es gab nur eine künstliche Harmonie, wir waren eine Nutzengemeinschaft, mehr nicht. Im Herzen blieben wir Individualisten. Daher konnte die Stimmung zwischen den Mitgliedern schnell umschlagen und wenn es plötzlich vonnöten war, brachten wir uns gegenseitig um.
Das Schlimmste an unserer plötzlichen Gruppenmentalität war für Rousseau aber, dass sich in den Gruppen Anführer und ein Machtapparat herausbildeten. Diese hatten großes Interesse daran, dass die anderen brav Kriege führen, schließlich bekamen sie die größten Beutetrophäen ab. Mit List und Tücke schürten die Gruppenbosse künstliche Bedürfnisse bei den anderen, zettelten Kriege an und führten diese in ihrem Namen. Aus kleinen Anführern wurden Staaten. Nun führten wir Kriegszüge für Staaten, erbeuteten wertvolle Objekte und lebten nach jedem siegreichen Krieg im Überfluss. Von Generation zu Generation weckte dieser Überfluss die Gier nach mehr und bald schon steigerte sich unsere Gier in eine unstillbare Begehrlichkeit.5
War es wirklich so oder bezweckte Rousseau mit seiner Geschichtsspekulation einfach nur haarscharfe Gesellschaftskritik? Das Pariser Bürgertum war für ihn durchseucht von Raffgier und eigennützigen Feudalherren. Mit seinem edlen Wilden wollte er den verhassten Mitmenschen einen Spiegel vorhalten. Darin sollten sie sich selbst erblicken, als sie sich noch harmonisch in die Urnatur einfügten und noch nicht an der Manie erkrankt