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Maßstäbe an. Damit versperren wir uns den Weg, das Fremde aus sich selbst heraus zu begreifen.

      Heißt das, wir müssen einfach auf kulturell fremde Menschen zugehen und sie fragen, was uns an ihnen interessiert? So einfach ist es leider auch nicht. Denn Interesse an anderen Kulturen bedeutet noch lange nicht, dass wir sie auch respektieren und begriffen haben, wie sie „ticken“. Auch jemand, der jedes Jahr viele Monate in Thailand überwintert, weil Land und Leute so „toll sind“, ist nicht davor gefeit, vorschnelle Fehlurteile über die Anderen zu fällen. Zwischen ihm und den Menschen klafft noch immer ein riesiger kultureller Graben.

      Man kennt das Grabenphänomen sogar von Menschen, die man als Überläufer bezeichnet, als Konvertiten, die in andere Kulturen überwechseln, weil sie mit der eigenen Kultur unzufrieden sind. Diese Überläufer dringen oft aber nur scheinbar in eine fremde Kultur ein. Auch wenn sie sich kleiden wie die geliebten Anderen, ihre Sprache lernen und ihre Speisen kochen, verkleinert sich der kulturelle Graben nicht. Sie teilen mit einem kleinen Kreis der kulturell fremden Kultur nur äußere Attribute.

      Das lässt sich sehr gut am Beispiel der vielen deutschen jungen Männer zeigen, die seit dem 11. September 2001 in den Islam konvertiert sind. Statt sich textkritisch mit dem Koran und vor allem dem Kontext, in dem er entstanden ist, auseinanderzusetzen oder sich mit möglichst vielen Moslems zu unterhalten, die unterschiedliche Ansichten und Interpretationen zu ihrer Religion liefern könnten, lauschen sie lieber mit Kaftan, Häkelkappe und Vollbart oftmals den bizarren und gehässigen Interpretationen europafeindlicher Prediger.

      Viele dieser Konvertiten ähneln den Menschen, die nie gelernt haben, sich eigene Urteile zu bilden. Genug Leichtgläubige fallen auf die Schimpftiraden der Boulevardzeitungen oder das von rassistischem Gedankengut getragene Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“, oder den Reden der Afd herein. Dieselben weisen aber den Rassismusvorwurf schnell zurück. Sarrazin Buch, gleichwohl wie die Reden der Afd sind genauso rassistisch und von Feindbildern durchwühlt wie die Reden Pierre Vogels. Pierre Vogel, deutscher Konvertit in den Islam und Prediger, sieht im liberalen westlichen Lebensstil den größten Feind für den Islam; Sarrazin sieht in den muslimischen Migranten den größten Feind für das deutsche Bildungsbürgertum. Er glaubt, durch den Zustrom der vielen muslimischen Migranten verdumme die deutsche Gesellschaft, denn da sie schlecht gebildet seien, würden sie uns durch ihren Kinderreichtum allmählich unterwandern. Sarrazin spricht alte Ängste aus und schürt neue. Er etabliert eine moderne Form der alten Xenophobie, die Kulturen durch genetische Ähnlichkeiten erklären will. Auch jeder Leser, der nicht so gerne um fünf Ecken denkt, weiß genau, was Sarrazin damit meint: Die Deutschen sind klüger und haben die besseren Gene. Damit sind wir wieder hundert Jahre zurück bei den Rassentheoretikern.

      Für Konvertiten, die Pierre Vogels Reden glauben, symbolisiert jedes Mädchen im Minirock den Teufel. Und unkritische Sarrazinanhänger betrachten jeden muslimischen Einwanderer mit Argusaugen oder reagieren hysterisch, sobald sie im Bus auf eine verschleierte Frau treffen. Die Verschleierte symbolisiert für sie so etwas wie eine steinzeitliche „Idiotin“. Denn sie messen die verschleierte Frau an den westlichen Werten Bildung, Freiheit und Emanzipation. Dumm nur, wenn die verschleierte Frau Abitur hat oder Elektrotechnik studiert und einen Haushalt mit zwei Kindern schmeißt, während der Sarrazinanhänger gerade mal einen Hauptschulabschluss aufweist und Schiller für eine Schnapsmarke hält.

      Anstatt das kulturell Fremde aus seinem zeit- und ortsgebundenen Kontext heraus zu betrachten, reagieren die Islamkonvertiten und die Islamgegner auf das kulturell Fremde mit Abwehr (böser Islam) oder Idealisierung (edler Islam).

      Wie Hobbes, Islamophobie und Drohnenkrieg zusammenhängen

      Der Engländer, Philosoph und Denker Thomas Hobbes (1588-1679) studierte von seinem Schreibtisch aus nicht nur das Bordbuch des Kolumbus, sondern auch sonst noch alle möglichen Berichte, die er über außereuropäische Kulturen finden konnten.

      Hobbes dürfte sich vor allem aus den Schriften Walter Raleighs bedient haben, der 1585 im Auftrag der englischen Königin Elisabeth I. die Kolonie Roanoke in North Carolina gegründet hatte. Auch aus den Schriften des in Peru missionierenden Jesuiten José de Acosta und außerdem aus den Elegien des spanischen Feldherrn Garcilaso de Vega (1609-1617). De Vega zog gegen die Türken in den Krieg und es liegt auf der Hand, dass er seine Feinde als „primitive Untermenschen“ beschrieb. Auch die Schrift des französischen Theologen Jean de Léry über die brasilianischen Kannibalismusfälle (1578) dürfte auf Hobbes′ Schreibtisch gelegen haben, genauso wie das Buch von Richard Hakluyt (1589-1600) über die Berichte englischer Kapitäne und Entdecker.

      Alle fünf Autoren blasen ins gleiche Horn. In das Horn, in das Menschen wie Sarrazin auch über 400 Jahre später noch blasen können, weil der Ton so schön vertraut ist. Die fünf beschreiben fremde Völker als primitiv, dumm und kriegslüstern. Letztere Eigenschaft erklären sie damit, dass diese Völker ohne Staat und Führerschaft in unstrukturierten Horden leben würden. Was ist eine Horde? Unter einer sogenannten Horde versteht man eine größere gemeinsam handelnde soziale Einheit wie eine Jäger- und Sammlergesellschaft. Man nennt sie auch Wildbeuter.

      Leben Wildbeuter wirklich in strukturlosem Chaos und einer schlägt dem anderen den Schädel ein? Nein! Durch Studien bei den australischen Aborigines oder den südafrikanischen !Kung San wissen wir heute, dass die Jäger- und Sammlergesellschaften durchaus eine politische Einheit sind. Auch wenn die Gemeinschaft nur aus zwei Dutzend Individuen besteht, werden politische Angelegenheiten so lange diskutiert, bis man einen Konsens gefunden hat. Es gibt Respektpersonen, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Erfahrungen eine übergeordnete Stellung in der Gemeinschaft erhalten, es existierte aber kein formeller Boss, der über andere Befehlsgewalt hätte. Da jeder Einzelne der Gruppe freien Zugang zu den natürlichen Ressourcen wie Süßwasser, Nahrungspflanzen und Wildtiere hat und die Gruppenmitglieder untereinander zwanglos Werkzeuge und Arbeitsmaterialien austauschen, ist eine politische Machtinstanz, die per Kontrolle und Gesetz über Ressourcen und Privilegien herrschen will, überflüssig.

      Wildbeuter lehnen in vielen Fällen sogar eine Machtinstanz explizit ab, wie der französische Ethnologe Pierre Clastres herausfand. Clastres forschte zwischen 1963 und 1974 bei zahlreichen amazonischen Ethnien (Guayaki, Guarani, Chulupi und Yanomami). In der Aufsatzsammlung La société contre l`État, Staatsfeinde, vertritt er die interessante Ansicht, dass diese kleinen abgeschotteten, politischen Einheiten aus Selbstschutz dafür sorgen würden, dass keiner ihrer Häuptlinge jemals zu mächtig würde. Schließlich würde er seine Macht zulasten aller anderen dafür einsetzen, noch mächtiger zu werden.

      Deshalb sind ihre Häuptlinge eher Redekünstler als Bosse. Sie müssen jeden Abend aufs Neue durch Gesänge beweisen, wie toll sie sind, dürfen aber niemals Kriege anführen oder Befehle austeilen. Schlimmer noch: Trotz ihrer herausragenden Stellung sind sie die Ärmsten ihrer Gruppe, weil sie nichts horten dürfen, weil sie alle Prestigegüter sofort weiter verschenken müssen. Statt dass der Häuptling sein Volk unter die Lupe nimmt, überwacht jeder Einzelne in der Gruppe permanent das Treiben des Häuptlings. Die Menschen ahnen oder wissen: Sobald ein Häuptling zu viel Macht und Privilegien innehat, nimmt das Unglück seinen Lauf. Er würde rasch um sich eine Clique scharen, die ihm hilft, über die Ressourcen und produzierten Güter zu herrschen. Er würde auch Gesetze erlassen, die alle anderen von den Privilegien fernhaften.

      Für Clastres ist der Staat erst als Folge von Eigentum entstanden. Zum Schutz des Eigentums. So würde der Häuptling neben den Gesetzen bald schon einen Gewaltapparat schaffen, der über die Einhaltung der Gesetze wacht – und darüber, dass die von allen produzierten Waren und Lebensmittel in die Kanäle seiner Machtelite fließen.

      Es birgt also erhebliche Gefahren, wenn sich politische Macht auf wenige Menschen konzentriert. Gesellschaftliche Schichtung, soziale Ungleichheit und ökonomische Ausbeutung sind die kranken Elemente aller Staaten, deren Aufrechterhaltung von einem Justiz- und Polizeiapparat überwacht wird. Um diese Übel zu vermeiden, bleiben nach Clastres viele amazonische Ethnien lieber „Staatsfeinde“ und hindern ihre Häuptlinge stetig daran, wirklich mächtig

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