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Ghotics, Barfussläufer, Exzentriker ...) neugierig statt pauschal verurteilend entgegenzutreten?

      Mir fallen da schon einige Argumente ein. Wir würden friedlicher zusammenleben. Die Toleranz, die wir anderen gegenüber hegen, dürfen wir selber einfordern. Es würden sich weniger junge Menschen, deren Eltern aus anderen Ländern eingewandert sind, in Deutschland ausgegrenzt und diskriminiert fühlen. Das sänke die Kriminalitätsrate.

      Ein wichtiges Argument hat jedoch mit unserer Erkenntnisfähigkeit zu tun. Dazu fällt mir ein Beispiel ein, auf das sich der Titel bezieht.

      Vor einiger Zeit besuchte ich in München einen Filmabend auf dem der anwesende Regisseur Samuel Loe einen Film über Hexerei in Kamerun zeigte. Nach dem Film, während der Diskussionsrunde, erzählte der Filmemacher von Flussbewohnern, die schreckliche Angst vor Schildkröten haben, während Schildkröten auf der anderen Flussseite mit Wonne als Delikatesse verspeist werden.

      Das versetzte das Publikum in großes Staunen. Zwei Nachbardörfer, aber zwei völlig konträre Weltbilder! Wie ist das möglich, wo man doch insgeheim schon immer gedacht hat, Afrikaner "ticken" alle gleich?

      Und: Wie ist er überhaupt zu verstehen, der seltsame Bedeutungswandel, den eine Schildkröte von Dorf zu Dorf erfährt?

      Um das zu erfahren, müssen wir erst einmal unsere Denkschablonen und Ängste über Bord werfen, die wir in diesem Beispiel gegenüber "Afrikanern" haben und auf etwas zurückgreifen, das uns als Kinder mit in die Wiege gegeben wurde: unsere absolute, offene Neugierde auf die Welt.

      Ja, als Kinder waren wir noch weltoffen, bedingungslos weltoffen, das waren wir, und das sind alle Kinder auf Welt. Sie wollen wissen, was sich hinter der Spielkiste, dem Sandkasten, dem Gartenzaun, dem Wald, der Stadt, dem Horizont verbirgt. Aber natürlich hindert man sie daran, schnurstracks (mit Füßen und im Geiste) loszulaufen, um es herauszufinden.

      Doch ein Stück weit müssen wir zurück zu dem großen Schatz unserer Kindheit.

      Wenn uns das gelingt, werden nicht nur unsere Kontakte mit Menschen anderer Kulturen gelingen, sondern wir werden auch viele Dinge verstehen, die uns bisher bizarr und abwegig erschienen sind. Und ist der Mensch nicht ein erkenntnisfähiges Wesen? Und vielleicht sind unsere Neugierde und Erkenntnisfähigkeit das Werkzeug schlechthin für eine friedlichere Zukunft.

      Die ist wichtig, denn schließlich rückt die Welt immer näher zusammen.

      Oder glaubt jemand ernsthaft, man könnte das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen? Das versprechen höchstens rechtsextreme Populisten. Und denen zu glauben, ist gefährlich.

      Wie alles anfing: Das Bordbuch des Kolumbus

      Als Kolumbus auf der Suche nach einem kürzeren Seeweg nach Indien am 12. Oktober 1492 auf die Bewohner der Bahamasinsel Guanahani stieß, reagierten die spanischen Seeleute angesichts der fremdartigen Menschen geschockt, ablehnend und fasziniert zugleich. Was passierte da genau? Die Guanahanier wurden von den Spaniern augenblicklich als radikal andere Menschen erkannt, die alles auf den Kopf stellten, was sie bisher von der Welt zu wissen glaubten.

      Man muss wissen: Zur Zeit Kolumbus′ prägte der auf höfische Manieren und eleganten Kleidungsstil Wert legende spanische Hof das Menschenbild, daher waren die „nackten braunhäutigen“ Guanahani für die Spanier auf körperlicher Ebene wie ein Schlag ins Gesicht. Aber nicht nur das: Es folgte auch auf beiden Seiten die beunruhigende Erkenntnis, dass die jeweils fremde Kultur durchaus auch eine attraktive Alternative zum eigenen Lebensstil hätte darstellen können. Man beäugte sich gegenseitig gleichermaßen fasziniert und abgestoßen. Die zwangsläufige Infragestellung der eigenen kulturellen Werte, religiösen Überzeugungen und Weltbilder erschütterte die eigene Identität.

      Wenn man die eigene Identität bedroht glaubt, reagierten und reagieren Menschen stets auf ähnliche Weise: Man hebt die kulturell fremden Menschen in transzendente Sphären empor und betrachtet sie als Götter oder Traumwesen. Oder man verweist sie ins Reich des Bösen, Barbarischen, Unzivilisierten. Oder man sieht in ihnen arme, hilflose, oftmals pathologische Kreaturen, die dringend unsere Hilfe benötigen. Für welche Möglichkeit man sich auch immer entscheidet, stets geht es darum, den für uns Fremden nicht auf Augenhöhe zu betrachten, und zu entmenschlichen.

      Kolumbus hat sich für die ersten beiden Möglichkeiten entschieden. Er beschreibt in seinem Bordbuch die Arawak der westindischen Inseln als nackte, aber glückselige und edle Wilde und die Kariben als kriegerische und böse Bestien. So wie er die einen idealisierte, so verteufelte er die anderen. Sie waren für ihn keine „normalen“ Menschen, sondern verwilderte Fabelwesen, die jenseits der menschlichen Sphäre existierten. Nur dadurch, dass er die provozierend andersartigen Menschen zu Wilden stereotypisierte, konnte er Mensch bleiben.

      Das war vor über 500 Jahren! Daher ist es kaum zu glauben, aber Kolumbus' Bordbuch wirkt bis heute bei uns nach. „Wie bitte“, werden Sie jetzt fragen, „ist mir etwa entgangen, dass Kolumbus′ Bordbuch ein vielgelesener Longseller ist?“ Natürlich ist es das nicht. Longseller aus anderen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden sind mit Gewissheit Cicero- oder Ovidtexte oder die Bibel. Cicerotexte werden immer wieder neu aufgelegt, weil Lateinschüler sie lesen müssen, und die Bibel, das versteht sich von selbst, ist die Grundlage der christlichen Religion.

      Christoph Kolumbus ist für uns zuerst einmal der große Entdecker aus dem Geschichtsbuch oder – noch viel mehr – ein Kinoheld, gespielt vom französischen Schauspieler Gérard Depardieu, aber gewiss kein Autor, der uns mit seinem Bordbuch ein ausgezeichnetes Dokument hinterlassen hätte. Eines, das von dem interkulturellen Erstkontakt zwischen der indigenen Bevölkerung der westindischen Inseln und den Spaniern erzählt. Eines, das uns großspurig von den Anfängen der europäischen Kolonialgeschichte aus der Sicht eines sogenannten Entdeckers erzählt, aber zwischen den Zeilen offenbart, weshalb Kulturkontakte, die von kolonialem Geist getragen werden, katastrophal enden müssen. Aber genau so ein Dokument hat er für uns hinterlassen, auch wenn es stets Spezialisten gewesen sind, die voller Faszination oder Abwehr darin lasen.

      Etwa die beiden Philosophen Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau. Sie vertieften sich an ihren Schreibtischen in das Bordbuch, lasen es gründlich, lasen über die Kariben, über die Arawak, der eine in England, der andere in Frankreich, und kamen nach der Lektüre zu unterschiedlichen Schlüssen über "Wilde". Für Hobbes waren sie grundsätzlich böse und gefährlich, für Rousseau glückselige und vorbildliche Wesen. Diese widersprüchlichen Einschätzungen gehen tatsächlich auf Kolumbus′ Gegenüberstellung der „kriegerischen Kariben“ mit den „glückseligen Arawak“ zurück.

      So, aber heute sind uns doch die beiden Völker kaum noch bekannt. Was hat das also mit unserem Denken über kulturell fremde Menschen zu tun? Ganz einfach: Es geht um die Denkschablonen, die wir ihnen überstülpen. Da gibt es etwa die "böse" Burka-Trägerin, im Gegensatz zum "weisen" indischen Yogi oder dem "edlen" Amazonasindianer im Federkostüm, der auf Gesundheitskongressen über Naturschutz referiert. Alle drei erfüllen für uns eine Funktion. Wir etikettieren sie, nehmen sie aber nicht als Individuen wahr.

      Denn: Alles Fremde und Unbekannte wirft unsere Gewohnheiten und Identitätspfeiler durcheinander. Zu unseren Identitätspfeilern gehören unsere sozialen, religiösen und philosophischen Weltanschauungen, die wir durch unsere Sozialisation vermittelt bekommen haben. Sie sind der Überbau, sie prägen unsere Lebensweise, bestimmen unser Denken und unsere Vorurteile. Auch wenn Kultur sich ständig im Wandel befindet – schließlich leben wir heute auch nicht mehr so wie unsere Großeltern –, provozieren kulturell fremde Menschen uns dennoch. Aus dem einfachen Grund, weil sie auf die großen Fragen des Menschseins andere Wahrheiten und Erklärungsmodelle liefern. Im Lichte so mancher fremden Wahrheiten leuchten die unsrigen vielleicht weniger oder – im Gegenteil – noch viel kraftvoller. Manchmal liefern fremde Lebensweisen und die dahinter stehenden Denkmodelle sogar plausiblere Antworten auf drängende Fragen.

      Entweder wehren wir die fremden Denkmodelle dann ab, weil sie unsere eigene Identität erschüttern, oder wir nehmen sie kritiklos an, schwärmen von der fremden Kultur und versuchen, uns möglichst

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