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seiner feingliedrigen Hände daran fest – und eines drei Fuß darüber. An diesem oberen Seil sind in Abständen von einigen Schritten kürbisgroße Lampions aus einem pergamentähnlichen Material befestigt, die ein weiches, helles Licht aussenden. Und diese Lampions gibt es überall. Sämtliche Brücken, Stege und Plattformen erstrahlen in ihrem Glanz. Khtau n’ Hoghx gleicht einem Lichtermeer.

       Cora, die die herrliche Stadt voller Staunen bewundert, sieht, dass sie vor Leben wimmelt. Auf den Plattformen zwischen den kugeligen Hütten oder Nestern herrscht geschäftiges Treiben. Kleine, menschenähnliche Gestalten huschen schwindelfrei und sicher über die schmalen Stege und Brücken. Ähnlich wie sie selbst und Zpixs scheinen sie von innen zu leuchten. Allerdings ist dieses Körperlicht jetzt deutlich schwächer als vorhin, als sie noch am Boden des Waldes durch die tiefe Dunkelheit gewandert sind.

       Manche der Xinghi tragen Lasten auf ihren Köpfen: Körbe, gefüllt mit Brot und Früchten, Amphoren, in Stoff verpackte Bündel. Kinder spielen in einem Klettergerüst aus Seilen. Sie flitzen über straff gespannte Stricke, springen ins Leere, drohen abzustürzen und fangen sich dann im letzten Moment. Cora hält vor Schreck den Atem an, als sie sieht, wie eines den Griff verfehlt und tatsächlich stürzt. Doch das Kleine landet ein paar Fuß tiefer in einem engmaschigen Netz, das sie vorher nicht gesehen hat. Der junge Xinghi benutzt dessen Federkraft, um sich wieder nach oben zu schnellen.

       Zpixs wartet geduldig, bis die Menschenfrau ihn wieder anblickt.

      „Komm“, fordert er sie auf. „Ich will dir unsere Stadt zeigen.“

       Sie folgt ihm ohne Angst über die schwankende Brücke, indem sie sich am oberen Führungsseil festhält. Sie weiß ja, sie träumt. Ihr kann nichts geschehen. Sollte sie fallen, so würde sie einfach aufwachen. Aber sie ist sich sicher, sie wird nicht stürzen. Nicht, wenn Zpixs bei ihr ist.

       Sie erkennt jetzt, dass die meisten der Brücken doppelt sind und parallel nebeneinander herführen. Eine einzelne Hängebrücke wäre zu schmal für eine Begegnung zweier Passanten. So dient eine dem Hin- und die andere dem Rückweg.

       Cora stößt auf einen der Lampions am oberen Seil und muss um ihn herumgreifen und sich ducken, um unter ihm durchzuschlüpfen. Durch die dünne Pergamentwand schimmert ein einzelner Lichtpunkt, der sich träge bewegt. Als sie die Kugel versehentlich berührt, springt der Lichtpunkt von der Innenwand weg und flattert wie eine erschreckte Motte umher. Das Licht flackert, wird heller und dunkler.

      „Was ist das?“, fragt sie ihren Führer, der nur drei Schritte vor ihr geht.

      „Ein Glühwürmchen.“

      „Aber das ist unmöglich. Hundert Glühwürmchen könnten nicht so ein helles Licht machen!“

      „Es ist nicht besonders hell, Cora. Wenn du es mit deinen Augen sähest, würdest du kaum den Weg über diese Brücke finden, selbst wenn der Mond durch das Laubdach schimmerte. Aber heute haben wir eine sternenklare Nacht.“

      „Ich sehe … mit deinen Augen?“

      „Ja, meine Freundin. Wir Xinghi sind Wesen der Nacht, wie du an der Geschäftigkeit in dieser Stadt siehst. Wir schlafen, wenn es Tag ist. Ich weiß nicht, wie es wäre, mit deinen Augen zu sehen, am Tag all diese wunderbaren Farben wahrzunehmen. Ich weiß nur, dass ihr im Dunkeln fast blind seid.“

       Cora ist schon aufgefallen, dass sie keinerlei Farbtöne unterscheiden kann. Die grünen Blätter unter und über ihr wirken silbern, die Stämme der Bäume fast schwarz, die Früchte, die ein (eine?) Xinghi trägt, der auf der Brücke neben ihr vorbeigeht, zeigen alle Schattierungen von Grau.

      „Wie kommt es, dass sie“ – sie macht eine weitläufige Handbewegung, die Zpixs gar nicht sehen kann, da er vor ihr geht und ihr den Rücken zuwendet, aber er versteht trotzdem, dass sie die Bewohner der Stadt meint – „und wir, ich meine unsere Körper, leuchten?“

      „Das ist die Körperwärme. Jedes Wesen strahlt ein für euch Menschen unsichtbares Licht aus. Ein Affe, Mensch oder Xinghi leuchtet heller als eine Eidechse, Schlange oder Pflanze. Die Stämme der Bäume sind recht kühl, deshalb erscheinen sie dunkel. Auch wir Xinghi nehmen dieses Leuchten nur in der Nacht wahr, wenn unsere Augen angepasst sind. Es ist viel schwächer als anderes Licht. Weil unsere Laternen hier den Weg erleuchten und das Licht der Körperwärme überstrahlen, nimmst du es nicht mehr so hell wahr wie unten auf dem Boden, wo es sehr dunkel ist.“

       Sie wandern weiter durch die hängende Stadt. Cora kommt aus dem Staunen kaum heraus. Sie hört seltsame, fremdartig klingende Musik, die von einer Plattform kommt, auf der etwa fünfzig Xinghi in einem Kreis sitzen. In der Mitte stehen ein Dutzend Musikanten, zupfen an Instrumenten, die aussehen wie kleine Jagdbögen mit fünf bis acht Saiten, die vom einen Ende des Bogens ausgehen und in einen Resonanzkörper führen, der aus einem ausgehöhlten Kürbis besteht. Andere Musiker schlagen kleine Trommeln oder blasen auf Rohrflöten. Ihre Zuhörer lauschen andächtig.

       Cora und Zpixs ordnen sich in eine Schlange ein, die vor einer lange Brücke warten muss, weil viel Verkehr auf ihr herrscht. Sie ist erstaunt, dass keiner der Xinghi Notiz von ihr nimmt. Sie müssen doch überrascht über die Anwesenheit eines Menschen sein! Sie fragt ihren Führer danach.

      „Sie sehen dich nicht Cora. Erinnere dich: Nur deine Seele ist hier. Dein Körper schläft, weit von hier, viele Tagesreisen nach menschlicher Zeit, an einem Lagerfeuer im dichten Dschungel.“

      „Ich verstehe nicht, Zpixs. Wenn nur meine Seele hier ist, wieso machen mir die Xinghi Platz, warum laufen sie nicht durch mich hindurch? Warum hat der Lampion vorhin gewackelt, als ich ihn berührte, warum hat sich das Glühwürmchen erschreckt? Warum musste ich Zweige beiseite schieben, als ich an der Ranke hochgeklettert bin? Und warum siehst du mich dann?“

       Sie hört das zwitschernde Geräusch, das Zpixs macht, wenn er etwas komisch findet. Es ist seine Art zu lachen.

      „Ich werde deine letzte Frage zuerst beantworten, Cora. Ich sehe dich, weil ich dein Seelenführer bin. Du bist jetzt ein Teil von mir. Mit meinen Augen kann ich dich nicht wahrnehmen, nur mit meiner Vorstellungskraft. Ich sehe, was du siehst und dir vorstellst. Bedenke, du bist zwar wirklich hier, in meiner Heimatstadt, aber du träumst auch, meine Freundin. Du hast den Lampion nicht wirklich berührt, die Zweige nicht beiseite geschoben, sondern dies nur so empfunden, weil du dir vorstellst, mit deinem Körper hier zu sein. Deshalb hast du auch deine Haut leuchten gesehen. Die Bewohner der Stadt gehen nicht durch dich hindurch, weil sie nicht durch mich hindurchgehen.“

       Cora schüttelt verwirrt den Kopf.

      „Dann sehen die Xinghi also nur einen der ihren, der Selbstgespräche führend und kichernd durch die Stadt spaziert?“

      „Sie nehmen mich wahr, denn ich bin wirklich hier, aber sie sehen und hören nicht, wie ich mit dir spreche, denn es ist mein Geist, der sich mit dir unterhält. Du hörst nicht meine körperliche Stimme, sondern meine Gedanken, Cora.“

       Sie sind mittlerweile an einem der bienenstockartigen Nesttrauben angelangt. Ein Gewirr von Kletternetzen und Strickleitern verbindet die Eingänge der einzelnen Wohnkugeln mit der Plattform, auf dem die Hängebrücke endet, über die sie gekommen sind. Zpixs klettert voran, Cora folgt ihm zu einer größeren Hütte. Sie betreten sie durch ein kreisrundes Loch, so hoch wie der Xinghi selbst. Cora muss sich ganz klein machen, um hindurchzupassen. An der hohen Decke, fast fünfzehn Fuß über ihr, hängen wieder einige der Leuchtkäfer-Lampions. Die eine Hälfte des Fußbodens nimmt eine mit Tüchern und Decken gepolsterte Schlafstätte für ein Dutzend oder mehr Bewohner ein, darüber schaukeln im schwachen Luftzug mehrere an Hanfseilen befestigte Plattformen und Hängematten in verschiedenen Ebenen, teils neben, teils übereinander, die höchsten zehn Fuß über dem Boden. Klettergerüste aus Stricken verbinden sie miteinander und mit dem Boden der Hütte. Dieser vielschichtige Wohnraum wirkt wie ein verkleinertes Abbild der Stadt draußen. Die andere Hälfte der Hütte

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