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genommen zu haben. Egal, was meine Kegelbrüder denken: Ich trinke lieber Apfelschorle und alkoholfreies Bier und genehmige mir, nachdem ich mit dem Bus nach Hause gefahren bin, in meinem tapezierten Wohnzimmer mit Schrankwand noch ein Glas Eierlikör und schaue dabei ZDF. Und ich will mich dafür nicht mehr rechtfertigen müssen! Mit vierzig denke ich, genug Lebenserfahrung gesammelt zu haben, um zu wissen, was gut für mich ist. Egal, ob andere das cool finden oder nicht.

      Neben dem Alter ist der Wohnort der zweite Aspekt, der darüber entscheidet, was als spießig gilt und was nicht. Dass der oben genannte Roman Resturlaub in Bamberg spielt, ist bezeichnend. Denn während ich dieses Spießer-Buch geschrieben habe, bin ich von der Metropole München, wo ich in einer coolen Online-Redaktion gearbeitet habe, ins provinzielle Bamberg gezogen, um dort einen – in der Wahrnehmung mancher – eher uncoolen Job in der Öffentlichkeitsarbeit wahrzunehmen. Was mir bereits nach wenigen Wochen in Bamberg aufgefallen ist: Während in der Münchner Innenstadt Männer mit Kurzarmhemden so selten und auffällig sind wie ein bunter Clown mit einer Pappnase, ist es in Bamberger Kaufhäusern kaum möglich, andere Kleidungsstücke als Kurzarmhemden zu erstehen. Und dass, wie ich bei den Recherchen zu diesem Buch festgestellt habe, der Deutsche Minigolf-Verband in Bamberg ansässig ist, kann auch kein Zufall sein.

      Auch wenn man sich leicht zum Außenseiter macht, indem man den Trends nicht folgt: Ich habe mich schon bei TKKG mehr mit dem nerdigen Karl identifiziert als mit Superheld Tarzan/Tim – überhaupt fand ich die piefigen TKKG-Hörspiele besser als die Horrorschocker mit den drei ???. Ich sah mich nicht nur outfitmäßig mehr bei Thomas und Annika als bei Pippi Langstrumpf, und in Sachen Verbrechensbekämpfung habe ich lieber Derrick im Trenchcoat als Freund und Helfer als den „Scheiße“ rufenden Schimanski in seiner stinkenden Lederjacke.

      „Die Klage über den Spießer, mag sie auch manchmal selbstgerecht klingen, ist doch immer die Klage des Unterlegenen, der sich bedroht fühlt“, schrieb Jens Jessen in der Zeit. Die Süddeutsche Zeitung ergänzte: „Man ist von Spießern nicht nur umgeben, man sieht leider auch täglich beim Blick in den Spiegel einen.“ Und der Spiegel – also das Nachrichtenmagazin – stellt schlichtweg fest: „Unspießig sein ist ein Privileg der Jugend.“ Und die, so ergänze ich, endet spätestens mit dem vierzigsten Geburtstag, an dem auch jeder Punker anfangen wird, seinen Irokesenschnitt akkurat zu kämmen und seine Piercings zu polieren. Der Punkrocker Johnny Ramone, der eigentlich den spießbürgerlichen Namen John William Cummings trug, entlarvte sich in seiner Autobiografie als der „spießigste Punker der Welt“ (SPIEGEL ONLINE), der statt Revolution lieber eine sichere Rente wollte. Statt für Sex, Drugs und Rock’n’Roll schwärmte er für Milch mit Keksen. Vielleicht trank er nach seinen Konzerten sogar Eierlikör.

      Und seien wir doch mal ehrlich: Das Spießigste ist doch, andere als Spießer zu bezeichnen!

      Eierlikör

      Eierlikör ist neben Apfelschorle und Filterkaffee das am meisten unterschätzte Getränk – und genießt völlig zu Unrecht einen katastrophalen Ruf. Viele erwachsene Männer würden eher zugeben, zu Hause Heintje-CDs zu hören oder Strapse zu tragen, als öffentlich eine Flasche Eierlikör zu kaufen. Doch bevor wir zum gelben Göttertrunk kommen, müssen wir über Gerhard Tschierschnitz aus Haselborn reden – und Maria aus Bahia.

      Wer kennt ihn nicht, den Evergreen unter den Werbeslogans: „Ei, Ei, Ei Verpoorten, ob hier und allerorten.“ Entstanden ist das eingängige Firmenmotto im Jahr 1961, als die etwas schwerfällige Parole „Erquickt den Gaumen, labt und kräftigt, stimmt froh und heiter, daheim und allerorten: Verpoorten“ völlig zu Recht abgelöst wurde.

      Ausgerechnet während eines Aufenthalts in Brasilien, dem Ursprungsland des Eierlikörs, komponierte der Grandseigneur des französischen Chansons, Paul Misraki, einen Samba-Rhythmus „Ay, ay, ay, Maria, Maria aus Bahia“, den der deutsche Schlagersänger Gerhard Tschierschnitz zu einem Hit machte. Als Sohn eines Werkzeugmachers wurde Tschierschnitz 1920 in Berlin geboren, begann bei Telefunken eine Mechanikerlehre und fiel schon mit vierzehn als Sänger auf einer Betriebsfeier auf. 1945 kaufte er den Ausweis eines gestorbenen Ungarn namens René Carol und befreite sich damit selbst aus der Kriegsgefangenschaft. Mit diesem neuen Künstlernamen trat er in Bars und Nachtklubs auf. 1950 war „Maria aus Bahia“ seine erste Soloschallplatte und der Beginn einer großen Schlagerkarriere, die erst mit dem Aufstieg der Beatles endete. Carol war damals zweiundvierzig und sagte später: „Als älterer Herr konnte ich mich nicht wie so ein Beatle kleiden und diese Musik machen.“ Er zog sich zurück aus dem Musikgeschäft und trat noch jahrelang in Altersheimen oder auf Betriebsfeiern auf.

      René Carol ist heute fast vergessen, sein Lied ist als Verpoorten-Song aber nach wie vor ein Ohrwurm, und die Bonner Firma muss immer noch zähneknirschend Gema-Gebühren dafür zahlen, wenn ihre Erkennungsmelodie im Werbefernsehen erklingt. Im Jahr 2000 wurde sogar für den Weltmarkt eine internationale Fassung getextet, die lautet: „I, I love Verpoorten, come hear me, when I’m calling.“

      Die Geschichte des Eierlikörs ist jedoch weitaus älter als die des Verpoorten-Songs. In der brasilianischen Heimat von „Maria aus Bahia“ – Bahia ist das heutige Salvador – begeisterten und berauschten sich europäische Eroberer im 17. Jahrhundert an einem Erfrischungsgetränk, das die Ureinwohner im Amazonas „Abacate“ nannten. Hergestellt wurde der Trunk aus Rohrzucker, Rum und dem butterweichen Fruchtfleisch von Avocados, woher die Bezeichnung „Advocat“ kommt, die noch heute auf vielen billigen Discounter-Eierlikören steht. Der aus Antwerpen stammende Schnapsbrenner Eugen Verpoorten hatte 1876 die bahnbrechende Idee, die in Europa nicht vorhandenen Avocados durch Eidotter zu ersetzen: Der Eierlikör war erfunden und eine Dotterdynastie geboren, und die angeblich bis heute unveränderte Rezeptur ist so streng gehütet wie die von Coca-Cola.

      Neunzig Prozent der Deutschen kennen Verpoorten-Eierlikör, und vermutlich hat eine ganze Generation damit ihre ersten alkoholischen Erfahrungen am Nierentisch gemacht. Trotz seines Kaffeekränzchen-Images ist Eierlikör ein Kultgetränk. Die Firma Verpoorten, die eigentlich nur ein Produkt herstellt und mit fünfundachtzig Prozent Marktanteil für den gelben Genuss steht wie Tempo für Papiertaschentücher, hat bisher jeder Krise und jeder Trendwelle auf dem Spirituosenmarkt getrotzt und in der Firmengeschichte noch nie Verluste verbuchen müssen; der Umsatz liegt seit Jahren stabil bei fünfzig Millionen Euro. Täglich werden zwischen März und Oktober – nur in der Zeit ist die Eierqualität gut genug – 1,2 Millionen Eier geköpft, elf Eidotter werden für die Produktion einer 0,7-Liter-Flasche benötigt – was Eierlikör leider zu einer Cholesterinbombe macht, aber gewiss nichts damit zu tun hat, dass der einstige Firmenchef Viktor Verpoorten fünf Bypässe hatte.

      Eierlikör ist ein Anti-Krisen-Getränk, denn es wird vorwiegend zu Hause konsumiert, auch in Zeiten, in denen man sich den Kneipenbesuch nicht mehr leistet. Er ist kein Stoff für Wirkungstrinker, sondern ein Genussmittel, eine Praline ohne Schokohülle, die langsam auf der Zunge zergeht. Als Oldie-Gesöff verspottet, ist Eierlikör heute ein Getränk für alle Generationen: Senioren verfeinern damit ihr Walnuss-Eis, die Best-Ager backen Eierlikör-Kuchen, und die Jugend mixt Cocktails und Drinks: Mischen is possible! Verpoorten selbst sieht sich im Supermarktregal als Wettbewerber mit Ramazotti, Campari und Baileys. Eierlikör ist Feierlikör.

      Während einst Heinz Erhardt nach dem Vorbild Verpoortens in dem Film Immer diese Radfahrer einen Eierlikörfabrikanten verkörperte und Peter Kraus und Georg Thomalla zu Werbe-Ikonen für das gelbe Imperium wurden, ist spätestens seit Guildo „hat euch lieb“ Horn Eierlikör als dickflüssiges Pendant zu Nussecken in der revitalisierten Schlagerszene zum In-Getränk kultiviert.

      René Carol hat dieses Comeback von Ei, Ei, Eierlikör leider nicht mehr erlebt. Er starb 1978 im Sauerland. Wenige Jahre zuvor begründete er in einem Interview, warum er nicht dem Alkohol verfallen sei: „Ich möchte nicht wie ein aufgedunsenes Fass auf der Bühne stehen.“ Allein sein größter Hit „Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein“ wurde über zwei Millionen Mal verkauft, er verdiente über achthunderttausend Mark damit. Was aus dem Geld geworden ist? „Es steckt in meinem Häuschen und in Schnaps“, sagte er. Hätte er mal besser in Eierlikör investiert.Kurzarmhemd

      Heute ist

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