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bis zum Ablauf der Zeit, die Klara ihm gegeben hatte.

      »Wenn Sie wollen, können Sie sich jetzt an einen Advokaten wenden. Es muß ein Kassationsgrund gefunden werden, und der wird sich schon finden lassen. Nach der Dworjanskaja,« sagte er zu dem Kutscher der Droschke, in die er einstieg. »Dreißig Kopeken, ich gebe nie mehr.«

      »Bitte einzusteigen, Exzellenz!«

      »Mein Kompliment! Wenn ich Ihnen mit etwas dienen kann – sehr gern: ich wohne auf der Dworjanskaja, in Dwornikows Hause; es ist leicht zu behalten.«

      Er verneigte sich höflich und fuhr davon.

      25

      Das Gespräch mit dem Vorsitzenden und die frische Luft hatten Nechljudow ein wenig beruhigt. Er sagte sich jetzt, daß er unter dem Einfluß all der ungewohnten Eindrücke, denen er an diesem Morgen ausgesetzt gewesen, die Sache ein wenig übertrieben habe.

      »Aber ein seltsames, überraschendes Zusammentreffen bleibt es doch!« sagte er sich. »Jedenfalls muß ich alles tun, was in meinen Kräften liegt, um ihr Los zu erleichtern, und zwar muß ich es schnell tun, jetzt gleich! Ich muß einmal hier im Gericht nachfragen, wo Fanarin oder Mikischin wohnt.« Fanarin und Mikischin waren zwei berühmte Advokaten.

      Nechljudow kehrte nach dem Gericht zurück, legte den Paletot ab und ging nach oben. Gleich im ersten Korridor traf er Fanarin. Er sprach ihn an und sagte, daß er gern seinen Rat hören möchte. Fanarin kannte ihn vom Ansehen und wußte auch seinen Namen – er stellte ihm mit Vergnügen seine Dienste zur Verfügung.

      »Ich bin allerdings ziemlich abgespannt ... aber wenn es nicht lange dauert, bitte ich, mir zu sagen, um was es sich handelt; wir können da hineingehen.«

      Fanarin führte Nechljudow in ein Zimmer, anscheinend das Kabinett irgendeines Richters, und sie nahmen dort am Tische Platz.

      »Nun, womit kann ich dienen?«

      »Vor allem möchte ich Sie bitten,« sagte Nechljudow, »keinem Menschen zu sagen, daß ich an der Sache Anteil nehme.«

      »Nun, das ist doch selbstverständlich. Also? ...«

      »Ich war heute als Geschworener tätig, und wir haben da eine Frau, die unschuldig ist, zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Sache ist mir sehr peinlich.«

      Nechljudow errötete plötzlich und stockte in seiner Rede.

      Fanarin warf ihm einen raschen Blick zu, schlug schnell wieder die Augen nieder und gab acht, was weiter folgen würde.

      »Nun?« sagte er ermunternd, als Nechljudow nicht sogleich weitersprach.

      »Man hat eine Unschuldige verurteilt, und ich möchte, daß das Urteil kassiert und der Prozeß vor die höhere Instanz gebracht wird.«

      »Vor den Senat also,« sagte Fanarin.

      »Ich möchte Sie bitten, die Sache in die Hand zu nehmen.«

      Nechljudow wollte die schwierige Angelegenheit möglichst rasch erledigen und sagte daher:

      »Das Honorar und alle Kosten, die dabei entstehen, nehme ich, so hoch sie auch sein mögen, auf meine Rechnung.« Er fühlte, daß er bei diesen Worten wieder errötete.

      »Nun, wir werden schon einig werden,« sagte der Advokat, der im stillen über Nechljudows Mangel an Erfahrung lächelte, in zuvorkommendem Tone. »Um was handelt es sich also?«

      Nechljudow setzte ihm die Sachlage auseinander.

      »Gut, morgen lasse ich mir die Akten holen und informiere mich. Und übermorgen – nein, am Donnerstag – bitte ich Sie, um sechs Uhr abends zu mir zu kommen, ich werde Ihnen dann Bescheid geben. Ist's Ihnen recht so? Nun, jetzt wollen wir gehen, ich habe hier noch einiges zu erledigen.«

      Nechljudow verabschiedete sich und ging.

      Die Besprechung mit dem Advokaten und das Bewusstsein, daß er nun doch bereits einige Maßnahmen im Interesse der Maslowa getroffen hatte, beruhigte ihn noch mehr. Er trat auf die Straße hinaus: das Wetter war prächtig, und freudig atmete er die Frühlingsluft ein. Die Droschkenkutscher boten ihm ihre Dienste an, doch er zog es vor, zu Fuß zu gehen. Ein ganzer Schwarm von Gedanken, von Erinnerungen an Katjuscha und an sein Betragen gegen sie schwirrte ihm durch den Kopf, und Schwermut ergriff sein Gemüt.

      »Doch nein, das will ich alles später erwägen,« sagte er sich – »jetzt brauche ich vor allem Zerstreuung nach all den quälenden Eindrücken.«

      Er erinnerte sich, daß Kortschagins ihn zu Tisch geladen hatten, und sah auf die Uhr. Es war noch nicht spät, er konnte noch rechtzeitig hinkommen. Er hörte das Glockenzeichen der Straßenbahn, lief hinter ihr her und sprang auf. An der nächsten Haltestelle stieg er aus, nahm eine elegante Droschke und war zehn Minuten später am Eingang des großen Kortschaginschen Hauses.

      »Bitte gehorsamst, Durchlaucht werden erwartet,« sagte der freundliche, wohlbeleibte Portier des Kortschaginschen Hauses, während er geräuschlos die mit englischen Scharnieren befestigte eichene Haustür öffnete. »Die Herrschaften sind zwar schon bei Tisch, doch möchten Sie jedenfalls kommen.«

      Der Portier ging auf die Treppe zu und klingelte nach oben.

      »Ist sonst jemand da?« fragte Nechljudow, während er seinen Paletot auszog.

      »Herr Kolossow und Michail Sergejewitsch – sonst nur, wer zum Hause gehört,« antwortete der Portier.

      Oben an der Treppe erschien ein Adonis im Lakaienfrack und mit weißen Handschuhen.

      »Durchlaucht sind gebeten,« sagte er.

      Nechljudow ging die Treppe hinauf und schritt durch den ihm bekannten prächtigen, großen Saal nach dem Speisezimmer. Hier saß die ganze Familie an der Mittagstafel, mit Ausnahme der Mutter, der Fürstin Sofia Wassiljewna, die niemals ihr Kabinett verließ. Am oberen Ende der Tafel saß der alte Kortschagin, links von ihm der Doktor, rechts ein Gast, Iwan Iwanowitsch Kolossow, ehedem Adelsmarschall in der Provinz, jetzt im Aufsichtsrate einer Bank tätig, ein liberaler Kollege Kortschagins; dann folgte auf der linken Seite Miß Reder, die Erzieherin der vierjährigen kleinen Schwester von Missi, und die Kleine selbst; ihnen gegenüber saß auf der rechten Seite Petja, Missis Bruder, der einzige Sohn des Hauses, der die sechste Klasse des Gymnasiums besuchte, und um dessentwillen die ganze Familie, in Erwartung seines Examens, in der Stadt geblieben war, mit seinem Repetitor, einem Studenten; dann folgte links Katerina Alexejewna, eine unverheiratete Vierzigerin und begeisterte Slawophilin; ihr gegenüber saß Missis Vetter Michail Sergejewitsch oder Mischa Teljegin, und am unteren Ende des Tisches Missi selbst, neben der ein unberührtes Kuvert lag.

      »Das ist schön, daß Sie kommen – nehmen Sie Platz, wir sind eben beim Fisch,« sagte der alte Kortschagin, während er mühsam und vorsichtig mit dem eingesetzten Gebiss weiterkaute und die von Blutäderchen durchzogenen Augen, deren Lider kaum sichtbar waren, auf Nechljudow richtete. »Stepan,« wandte er sich mit vollem Munde an den majestätischen dicken Büfettdiener und wies mit einem Blick nach dem leeren Kuvert. Obwohl Nechljudow den alten Kortschagin gut kannte und ihn schon oft bei Tisch gesehen hatte, mißfiel ihm doch dieses rote Gesicht mit den sinnlichen, schmatzenden Lippen über der in dem Westenausschnitt befestigten Serviette, dieser feiste Hals und überhaupt diese ganze gemästete Generalsfigur heute ganz besonders.

      »Es wird gleich serviert werden, Durchlaucht,« sagte Stepan, während er aus dem mit Silberzeug angefüllten Büfett einen großen Schöpflöffel herausnahm und dem Adonis mit den Bartkoteletts im Lakaienfrack einen Wink gab, worauf dieser sogleich das unberührte Kuvert neben Missi, auf dem eine wappengeschmückte, gestärkte, künstlich gefaltete Serviette lag, für Nechljudow zurechtlegte.

      Nechljudow ging um den ganzen Tisch herum und drückte allen die Hand. Alle, auch der alte Kortschagin und die Damen, erhoben sich, als er an sie herankam. Dieser Rundgang um den Tisch und dieser vertrauliche Austausch von Händedrücken mit allen Anwesenden, obschon er mit den meisten von ihnen noch nie gesprochen hatte, erschien ihm heute ganz besonders unangenehm und lächerlich.

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