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Knabenalter. Лев Толстой
Читать онлайн.Название Knabenalter
Год выпуска 0
isbn 9783752993530
Автор произведения Лев Толстой
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die Sonne ist eben erst hinter einer dicken, weißen Wolke, die den östlichen Horizont bedeckt, heraufgekommen, und die ganze Gegend erglänzt in ruhig freudigem Lichte. Alles rundumher ist so schön, und mir ist so leicht und ruhig zumute. Die Straße windet sich vor uns wie ein breites, flatterndes Band zwischen vertrockneten Stoppelfeldern und tauglänzendem Grün; hier und da steht am Wegrande eine düstere Weide oder eine junge Birke mit kleinen, klebrigen Blättern, die einen langen, unbeweglichen Schatten auf die trockenen, lehmigen Radspuren und das niedrige, grüne Gras des Weges wirft. Das einförmige Geräusch der Räder und der Schellen vermag das Getriller der Lerchen, die grade über der Straße in die Luft steigen, nicht zu übertönen. Der Geruch von mottenzerfressenem Tuch, von Staub und irgend einer Säure, durch den sich unser Wagen auszeichnet, wird vom Morgenduft verdrängt, und ich fühle im Herzen eine wonnige Unruhe und den Wunsch, irgend etwas zu tun, – das Kennzeichen des echten Genusses.
Ich bin in der Nachtherberge nicht dazu gekommen, zu beten; da ich jedoch schon mehr als einmal bemerkt habe, daß an dem Tage, an dem ich aus irgend welchem Grunde vergesse, das zu tun, mir irgend ein Unglück widerfährt, bemühe ich mich, das Versäumte nachzuholen: ich nehme die Mütze ab, wende mich nach der Ecke des Wagens, sage meine Gebete her und bekreuzige mich unter meiner Jacke so, daß es niemand bemerkt. Aber tausenderlei verschiedene Dinge lenken meine Aufmerksamkeit ab, und ich wiederhole in der Zerstreutheit mehrmals hintereinander dieselben Gebetsworte.
Jetzt werden auf dem Fußpfade, der sich die Fahrstraße entlang schlängelt, langsam schreitende Gestalten sichtbar: es sind Wallfahrerinnen. Ihre Köpfe sind in schmutzige Tücher gehüllt, ihre Füße in schmutzige, zerrissene Fetzen gewickelt und mit schweren Bastschuhen bekleidet; auf dem Rücken tragen sie Ranzen aus Birkenrinde. Gleichmäßig greifen sie mit den Wanderstäben aus und schreiten, kaum einen Blick auf uns werfend, langsamen, schweren Schrittes eine hinter der andern dahin, und mich beschäftigen die Fragen: Wohin und aus welchem Grunde pilgern sie? Werden sie lange unterwegs sein? Und werden die langen Schatten, welche sie auf den Weg werfen, sich bald mit dem Schatten der Weide vereinen, an der sie vorübergehen müssen? – Jetzt kommt uns ein vierspänniger Postwagen schnell entgegengefahren. Zwei Sekunden – und die Gesichter, die auf kaum zwei Ellen Entfernung mit freundlicher Neugier zu uns herübergeschaut, sind schon vorbeigeglitten, und mir erscheint's gradezu sonderbar, daß diese Menschen nichts Gemeinsames mit mir haben und daß ich sie vielleicht nie mehr wiedersehen werde.
Seitwärts vom Wege rennen zwei schweißbedeckte, zottige Pferde im Kummet, den Zugriemen hinter den Rückenriemen geschlungen; hinterdrein reitet – die langen Beine in den großen Stiefeln zu beiden Seiten des Pferdes hängen lassend – ein junger Fuhrknecht; auf dem Nacken des Gaules sitzt ein Krummholz, an dem bisweilen ein Glöckchen erklingt. Der Bursche hat die Lammfellmütze schief auf ein Ohr gedrückt und singt ein Lied von schwermütiger Melodie. Sein Gesicht und seine Haltung drücken eine solch träge, sorglose Zufriedenheit aus, daß es mir als das höchste Glück erscheint, Fuhrknecht zu sein, mit Retourpferden heimzureiten und melancholische Lieder zu singen.
Dort in der Ferne hinter der Schlucht hebt sich vom hellblauen Himmel eine Dorfkirche mit grünem Dache ab; und dort ist auch das Dorf selbst, das rote Dach des Herrenhauses und ein grüner Garten. Wer mag in diesem Hause wohnen? Gibt es darin Kinder, einen Vater, eine Mutter, einen Hauslehrer? Warum sollten wir nicht in diesem Hause einkehren und seine Bewohner kennen lernen? – Jetzt sehen wir vor uns einen langen Zug hochbepackter Lastwagen, vor welche je ein Dreigespann wohlgenährter, starkfüßiger Pferde gespannt ist und die wir seitwärts umfahren müssen. »Was führt ihr?« fragte Wassilij den ersten Fuhrmann, der – mit den riesigen Füßen baumelnd und die Peitsche schwenkend – uns lange mit ausdruckslosem Blicke nachstarrt und erst dann antwortet, als wir ihn nicht mehr hören können. »Mit welcher Ware?« wendet Wassilij sich an den nächsten, der auf dem abgesonderten Vorderteile seiner Fuhre unter einer neuen Bastmatte liegt. Der blonde Kopf mit dem roten Gesicht und dem rötlichen Bärtchen taucht für einen Augenblick unter der Matte hervor, läßt die gleichgültig verächtlichen Augen über unsern Wagen schweifen und verschwindet wieder – und mir kommt der Gedanke, daß diese Fuhrknechte sicherlich gar nicht wissen, wer wir sind und woher und wohin wir reisen.
Anderthalb Stunden etwa vertiefe ich mich in die verschiedenartigsten Betrachtungen und achte nicht auf die schiefen Zahlen auf den Werstpfählen. Nun aber brennt mir die Sonne heiß auf Kopf und Rücken, die Straße wird staubiger, der dreieckige Deckel der Teebüchse macht sich sehr fühlbar, ich ändere einige Mal meine Stellung: mir wird heiß, unbehaglich und langweilig. Meine ganze Aufmerksamkeit wendet sich den Werstpfählen und den auf ihnen vermerkten Zahlen zu; ist stelle verschiedene mathematische Berechnungen an über die Zeit, in welcher wir die Poststation erreichen können. »Zwölf Werst sind ein Drittel von sechsunddreißig, und bis zum Dorfe Lipzy sind's einundvierzig, folglich haben wir jetzt zurückgelegt ein Drittel und –?« und so weiter.
»Wassilij«, rufe ich, als ich bemerke, daß er auf dem Bock zu schlummern beginnt, »laß mich auf den Bock, mein Täubchen!«
Er geht darauf ein. Wir tauschen die Plätze; er fängt sofort zu schnarchen an und streckt sich so lang aus, daß niemand mehr im Wagen Platz hat; mir aber bietet sich von der Höhe, die ich nun einnehme, der angenehmste Anblick: unsere vier Pferde, Nerutschinskaja, Djatschok, das Deichselpferd Ljewaja und Apotheker, die ich bis in die geringsten Besonderheiten und feinsten Schattierungen ihrer Eigenart kenne.
»Warum ist Djatschok heute rechtes und nicht linkes Seitenpferd, Philipp?« frage ich etwas schüchtern.
»Djatschok?«
»Und Nerutschinskaja zieht gar nicht«, fahre ich fort.
»Djatschok darf nicht links eingespannt werden«, sagt Philipp, ohne meine letzte Bemerkung zu beachten; »das ist kein Pferd, das man links einspannen könnte. Links muß ein Pferd sein, das – na mit einem Wort ein Pferd; dies aber ist kein solches Pferd!«
Und bei diesen Worten neigt Philipp sich nach rechts und haut, die Zügel aus aller Kraft anziehend, den armen Djatschok immer wieder über den Schweif und über die Beine, so auf eine besondere Art, von unten herauf; ungeachtet dessen, daß Djatschok sich aufs äußerste anstrengt und den ganzen Wagen umzuwerfen droht, stellt Philipp dies Manöver erst ein, als er das Bedürfnis fühlt, sich zu erholen und seine Mütze aus unerfindlichen Gründen auf die Seite zu rücken, obgleich sie bisher sehr gut und fest auf seinem Kopfe saß. Ich benütze den günstigen Augenblick und bitte Philipp, mich ein wenig »kutschieren« zu lassen. Philipp gibt mir erst die eine Leine, dann die zweite; endlich habe ich alle sechs Zügel und die Peitsche in der Hand und fühle mich vollkommen glücklich. Ich bemühe mich, Philipp in jeder Hinsicht nachzuahmen, und frage ihn immer wieder, ob es so recht sei; gewöhnlich aber endet es damit, daß er mit mir nicht zufrieden ist: er behauptet, das eine Pferd ziehe zu viel, das andere gar nicht; schließlich nimmt er mir die Zügel wieder fort. – Die Hitze nimmt zu. Die Lämmerwölkchen blähen sich auf wie Seifenblasen, steigen höher und höher, vereinigen sich und nehmen eine dunkelgraue Färbung an. Aus dem Fenster der Kutsche streckt sich eine Hand mit einer Flasche und einem kleinen Bündel; Wassilij springt mit erstaunlicher Gewandtheit während der Fahrt vom Bock und bringt uns Käsekuchen und Kwas.
An steilen Abhängen verlassen wir alle unsere Wagen und laufen manchmal um die Wette bis zur Brücke, während Wassilij und Jakob die Bremse anziehen und von beiden Seiten die Kutsche mit den Händen stützen, als wenn sie imstande wären, sie zu halten, wenn sie umfallen würde. Dann steige ich oder Wolodja mit Mimis Erlaubnis in die Kutsche, während Ljubotschka oder Katjenka im offenen Wagen Platz nehmen. Diese Übersiedelungen bereiten den Mädchen großes Vergnügen, denn sie finden mit Recht, daß es in unserm Wagen bedeutend lustiger ist. Zuweilen, wenn es allzu heiß wird, bleiben wir bei der Fahrt durch ein Wäldchen hinter der Kutsche zurück, brechen grüne Zweige von den Bäumen und bauen im Wagen eine Laube. Die fahrende Laube eilt dann in vollem Galopp der Kutsche nach, und Ljubotschka quietscht dabei mit der gellendsten Stimme, was sie nie unterläßt, wenn ihr etwas großes Vergnügen bereitet.
Nun ist das Dorf erreicht, in dem wir Mittag essen und ausruhen sollen. Es riecht auch schon »nach Dorf«: nach Rauch, Teer und Baranken1; man hört das Geräusch von Stimmen,