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betrachtete seinen linken Arm, welcher ihm nicht mehr gehorchen wollte. »Da sind Leute, sie werden mir helfen. Aber sind das nicht Franzosen?« Noch zwei oder drei Reiter kamen auf ihn zu, und jetzt erschien ihm die Nähe der Feinde so entsetzlich, daß er seinen Augen nicht glauben wollte. »Kommen sie zu mir, und warum wollen sie mich töten, mich, den alle so sehr lieben?« Er erinnerte sich an die Liebe seiner Mutter und Familie und Freunde, und die Absicht der Feinde, ihn zu töten, erschien ihm unmöglich. Mehr als zehn Sekunden stand er regungslos, ohne seine Lage zu begreifen. Der vorderste war schon so nahegekommen, daß Rostow sein Gesicht erkennen konnte. Er ergriff die Pistole, aber anstatt zu schießen, warf er damit nach den Franzosen und lief, so schnell er konnte, auf ein Gebüsch zu. Als er sich umblickte, sah er, wie die Franzosen zurückblieben, der vorderste wandte sich um und rief den anderen Leuten etwas zu. Rostow blieb verwundert stehen. Sein linker Arm war zentnerschwer, er konnte nicht weiter fliehen. Der Franzose hielt auch an und zielte. Rostow bückte sich, und eine Kugel flog brummend über ihn weg. Mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte erreichte er das Gebüsch, wo er russische Schützen vorfand.

      41

      Die Infanterie, welche im Walde überrascht worden war, lief in ungeordneten Haufen zurück. Als der Regimentskommandeur die Schüsse und das Geschrei hinter sich vernommen hatte, begriff er, daß etwas Schreckliches vorgefallen war, und er ritt durch den Kugelregen über das Feld nach dem Wald, in welchen sein Regiment geflohen war. Aber ungeachtet des verzweifelten Geschreis des früher so gefürchteten Regimentskommandeurs flohen die Soldaten immer weiter, schossen in die Luft und hörten nicht mehr auf das Kommando.

      Alles schien verloren, aber in diesem Augenblick hielten die Franzosen plötzlich ohne sichtliche Veranlassung an und flohen zurück. Im Walde aber erschienen russische Schützen, das war die Kompanie Timochins, welche allein ihre Ordnung bewahrt hatte und plötzlich die Franzosen angriff. Timochin stürzte mit einem so verzweifelten Geschrei und einer so wahnsinnigen Entschlossenheit auf die Franzosen, daß sie ihre Gewehre wegwarfen und in wilder Flucht zurückgingen. Inzwischen sammelten sich Teile des Regiments, und die Flüchtlinge kehrten zurück. Der Regimentskommandeur stand an der Brücke, als ein Soldat vorüberging und seine Steigbügel ergriff. Er trug einen blauen Mantel von ziemlich feinem Tuch, Tornister und Tschako fehlten. Sein Kopf war verbunden und über der Schulter hing eine französische Patronentasche, in der Hand hielt er einen Offiziersdegen.

      »Exzellenz, hier sind zwei Trophäen«, sagte Dolochow, indem er den Degen und die Patronentasche vorwies, »ich habe einen Offizier gefangengenommen, ich habe die Kompanie zusammengehalten. Ich bitte, erinnern Sie sich dessen, Exzellenz! Die ganze Kompanie kann es bezeugen.«

      »Gut, gut«, sagte der Regimentskommandeur und wandte sich an den neben ihm stehenden Major. Aber Dolochow ging nicht, er band das Tuch los, nahm es ab und zeigte das Blut, das in seinen Haaren zusammengebacken war. »Eine Bajonettwunde, ich bin in der Front geblieben, erinnern Sie sich, Exzellenz!«

      Die Batterie Tuschins wurde vergessen, und erst am Ende des Gefechts, als Fürst Bagration die fortdauernde Kanonade im Zentrum hörte, sandte er einen Adjutanten dorthin und dann auch Fürst Andree, um den Befehl zum sofortigen Rückzug zu überbringen. Die Batterie stand lange Zeit im feindlichen Geschützfeuer, es war ihr gelungen, Schöngraben in Brand zu schießen und dem Feind großen Schaden zuzufügen. Mehrmals waren sogar Angriffe von französischer Infanterie mit Kartätschen zurückgeworfen worden, obgleich die Batterie schon lange keine Bedeckung mehr hatte. Inmitten des betäubenden Donners der eigenen Geschütze, des Einschlagens und Krachens der feindlichen Geschosse vernahm er plötzlich: »Kapitän Tuschin! Kapitän Tuschin!« Erstaunt sah sich Tuschin um und erblickte denselben Generalstabsoffizier, der ihn aus der Marketenderhütte fortgejagt hatte.

      »Sind Sie toll geworden. Schon zweimal hat man Ihnen befohlen, sich zurückzuziehen!«

      »Ich … weiß nicht …« erwiderte Tuschin verwirrt, mit der Hand am Schirm.

      Der Generalstabsoffizier konnte nicht zu Ende sprechen. Eine Kanonenkugel flog vorüber, er bückte sich aufs Pferd herab und verstummte, und als er noch etwas sagen wollte, unterbrach ihn eine andere Kanonenkugel. Sofort wandte er sein Pferd und ritt davon.

      »Zurück! Alle zurück!« schrie er nun von fern.

      Die Soldaten lachten. Im nächsten Augenblick kam ein Adjutant und brachte denselben Befehl.

      Das war Fürst Andree. Eine Kugel nach der anderen flog über ihn weg, als er die Batterie erreichte, und er fühlte, wie ein nervöses Zittern über seinen Rücken lief. Aber ein Gedanke hielt ihn aufrecht. »Ich darf mich nicht fürchten«, dachte er, stieg langsam ab, überbrachte den Befehl und ritt nicht wieder fort von der Batterie. Er wollte abwarten, bis die Geschütze abgefahren seien. Zwei derselben waren beschädigt und mußten zurückgelassen werden.

      »Auf Wiedersehen!« sagte Fürst Andree, indem er Tuschin die Hand entgegenstreckte.

      »Auf Wiedersehen!« erwiderte Tuschin.

      42

      Der Wind hatte sich gelegt, schwarze Wolken flossen am Horizont mit dem Pulverrauch zusammen. Es dunkelte. Zwei Dörfer in der Ferne brannten, die Kanonade wurde schwächer, aber das Gewehrfeuer hörte man noch öfter und näher. Sobald Tuschin mit seinen beiden Kanonen sich aus dem Feuer zurückzog und in die Schlucht hinabkam, begegneten ihm die Adjutanten und darunter auch Scherkow, welcher zweimal in die Batterie Tuschins gesandt worden war und sie nicht erreicht hatte. Jetzt überbrachten sie alle, einer nach dem andern, ihre Befehle, machten ihm Vorwürfe und Bemerkungen. Tuschin ritt schweigend weiter. Obgleich befohlen wurde, die Verwundeten aufzugeben, schleppten sich doch viele den Truppen nach. Am Abhang des Berges kam ein bleicher Husarenjunker, welcher mit einer Hand den einen Arm hielt, auf Tuschin zu und bat um einen Platz auf einer Kanone.

      »Setzen Sie sich!« sagte Tuschin. »Lege einen Mantel unter, Antonow!« sagte er zu einem Kanonier.

      Dieser Junker war Rostow. Der unterlegte Mantel war mit Blut befeuchtet, welches die Hände und die Uniform Rostows befleckte.

      Endlich erreichten die Geschütze das Dorf Guntersdorf, wo Halt gemacht wurde. In der Nähe der Artilleristen, welche ihr Lagerfeuer angezündet hatten, saß Fürst Bagration bei Tische in einem für ihn hergerichteten Hause, im Gespräch mit den um ihn versammelten Befehlshabern. Eine erbeutete französische Fahne stand in einer Ecke. Fürst Bagration dankte ihnen und befragte sie nach Einzelheiten des Gefechts.

      »Ich habe den Angriff der Pawlogradschen Husaren gesehen, Erlaucht«, bemerkte Scherkow, der aber an diesem Tag von den Husaren keine Spur gesehen hatte und nur erzählte, was er von einem Infanteristen gehört hatte. »Sie haben zwei Karrees gesprengt, Erlaucht!«

      Bei diesen Worten Scherkows nahmen viele Mienen einen ernsten Ausdruck an, obgleich die meisten sehr gut wußten, daß kein Wort Scherkows wahr war. Fürst Bagration wandte sich an einen der Obersten. »Ich danke Ihnen, meine Herren! Sie haben sich alle heroisch benommen, die Infanterie wie die Kavallerie und Artillerie. Aber wie kam es, daß im Zentrum zwei Geschütze verlassen wurden?« fragte er. »Ich glaube, ich habe Sie gebeten …«, wandte er sich an den Generalstabsoffizier.

      »Das eine war beschädigt«, erwiderte dieser, »aber das andere … ich begreife nicht! … Ich war selbst die ganze Zeit über dort und traf Anordnungen und bin eben erst fortgeritten. Es ist wahr, es ging heiß her«, fügte er bescheiden hinzu.

      Jemand bemerkte, der Kapitän Tuschin stehe hier im Dorf und es sei schon nach ihm gesandt worden.

      »Sie waren ja auch da«, sagte der Fürst Bagration zu Fürst Andree.

      »Gewiß«, bemerkte der Generalstabsoffizier, indem er Bolkonsky freundlich zulächelte, »wir waren einige Zeit dort beisammen.«

      »Ich hatte nicht das Vergnügen, Sie zu sehen!« erwiderte Fürst Andree kurz und kalt. Alle schwiegen.

      Auf der Schwelle erschien Tuschin, schüchtern und verwirrt vor den Generalen. Einige lachten.

      »Wie kam es,

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