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ab. „Ne, lass mal, bis ich da oben bin, ist der auf der anderen Seite weit herunter. Falls der tatsächlich zum Prinz-Luitpold-Haus läuft, treffen wir ihn dort.“

      Sie wendet wieder ihren Blick in das Obertal und über das Tal hinaus. Sie sieht auf die Gipfel, die jenseits der das Tal umschließenden Berge und Grate emporragen. Sehnsucht schießt in ihr empor, auf die Ferne, immer weiter zu laufen, in eine immer weitere Stille und Gewaltigkeit der Berge, eins mit der Natur, allein im Umkreis von allem Sichtbaren. Um nicht die Sehnsucht zu spüren nach Nähe, nach Geborgenheit und Vertrauen, nach Gewissheit. Und keiner Angst vor Verlust und Einsamkeit.

      In solchen Momenten lässt sie niemanden in sich hineinschauen, nicht erahnen, welche Gefühlswelten sie durchlebt. Ihr Gesicht nimmt eine neutrale Maske an, der keine Gefühlsregung anzuerkennen ist. Kein Lächeln und keine Trauer, kein Grübeln und keine Boshaftigkeit. Vor allem keine Wehmütigkeit und Verlassenheit.

      Folglich kann Rosalia nichts mit ihrem Gesichtsausdruck anfangen, so dass ihr nur eine Frage bleibt. „Alles ok mit Dir?“

      Julia setzt schnell ein freundliches Lächeln auf. Diese Gefühle gehören ihr und gehen keinen etwas an. „Ja, alles ok. Was sind das für Hütten im Tal?“

      „Die sind teilweise bewirtschaftet, mit Gastronomie, da bekommst Du selbstgemachte Milch oder Käse. Und ganz dort hinten, auf halber Höhe des Hanges, ist die Schwarzenberghütte, eine Alpenvereinshütte und in diesem Obertal die einzige Hütte, die Übernachtungen anbietet. Aber die ist ja heute nicht unser Ziel.“

      Beide schauen auf das weit entfernte Gebäude am oberen Rand einer größeren Lichtung. Julia meint, auf der Wiese eine Person sitzen zu sehen, aber das kann man sich auf diese Entfernung gut einbilden.

      Der weiße SUV stoppt am Rand des asphaltierten Wirtschaftsweges im Bärgündeletal. Karsten Hinrichs steigt als Erster aus, die anderen folgen ihm nach und nach. Er schaut sich das Fahrzeug an, versehen mit rot-weiß-gestreiften Markierungen, einer gelben Warnlampe auf dem Dach und einem Schild „Vermessung“ hinter der Windschutzscheibe.

      „Ist es nicht herrlich, wie einfach es ist, gesperrte Straßen zu durchfahren? Es gibt immer und überall etwas zu vermessen. Blöd nur, dass wir uns jedes Mal erneut ein weißes Fahrzeug sowie Nummernschilder der Region besorgen müssen. Egal, es klappt wieder prima, nicht wahr, Freunde?“

      Tom Horn gesellt sich zu ihm, neu ausgestattet mit Wanderschuhen, Wanderhose und Wanderhemd, und betrachtet die umgebenden Berge. „Ganz toll. Und wo geht es weiter?“

      Passend erscheint Florian Brackmann an seiner Seite. „Ihr folgt diesem abzweigenden unbefestigten Fahrweg bis zu einer Alm, dort geht es weiter auf einem ortsüblichen Wanderweg. Einfach der Beschilderung Prinz-Luitpold-Haus folgen. Es dürfte nicht zu verfehlen sein.“

      „Wie lange, sagtest Du, soll das für einen Normalsterblichen dauern?“

      „Eine Stunde, zwanzig Minuten.“

      Alle drei schauen den Hang hinauf, wo sie das Gebäude vermuten, als Lars Boczony dazukommt, ebenfalls mit neuer Wanderbekleidung und mit bereits aufgesetztem Rucksack. Karsten Hinrichs nimmt ihn als Erstes wahr.

      „Na, Bock, Du kannst es kaum abwarten, was?“

      „Natürlich. Weißt Du, wann wir wirklich da oben ankommen? Nicht, dass sie weitergehen und wir sie verpassen. Oder worauf warten wir?“

      Tom Horn dreht sich kopfschüttelnd ab, geht aber zum Auto, um seinen Rucksack zu holen und aufzusetzen. „Na, wenn Du es nicht erwarten kannst, starten wir.“ Er sieht Lars Boczony hinterher, der sich die ersten Schritte auf den Weg macht. Als sich auch Florian Brackmann ein wenig entfernt, um sich die Gegend anzuschauen, geht er zu Karsten Hinrichs und legt ihm seinen Arm um dessen Schultern.

      „Bist Du schön artig, während ich weg bin?“

      „Komm‘ schnell wieder da hinunter und laufe Dir keine Blasen.“

      Seine Hand gleitet herab bis auf das Gesäß und greift dort kurz zu. Die Reaktion ist ein breites verschmitztes Lächeln. „Blasen ist ein schönes Stichwort. Ich hoffe, die Mädels halten uns nicht zu lange auf und wir können uns einen schönen Abend machen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, geht er Lars Boczony hinterher.

      „Wir sind gleich da.“

      Julia kann Rosalias aufmunternde Worte gut gebrauchen. Seit dem Seitenwechsel des Berggrates am Laufbacher Eck in das Bärgündeletal hat sie vom Prinz-Luitpold-Haus nichts mehr gesehen. Zunächst waren sie kurz vor dem Talschluss 500 Höhenmeter abgestiegen und haben am Bachlauf eine Pause gemacht. Anschließend haben sie sich auf der anderen Talseite auf die Schlussetappe begeben, die sie wieder um 250 Höhenmeter nach oben gebracht hat.

      Es waren auf diesem Teilstück weitere Wanderer unterwegs. Julia hat sich aber intuitiv auf den einzelnen mit dem schwarz-roten Rucksack festgelegt, der vor ihnen in dem Hüttenbuch geblättert haben muss. Seit dem Abstieg ins Bärgündeletal hat sie von ihm nichts mehr gesehen. Sie geht dennoch davon aus, dass er auf demselben Weg ein Stück voraus ist.

      Die beiden Frauen wandern um eine weitere Biegung, hinter der in nur 100 Metern Entfernung das Prinz-Luitpold-Haus sichtbar wird. Julia kommt es vor wie ein Déjà vu. Vor ihr liegt das Gebäude, welches sie auf dem Poster in der Wohnung von Kevin Schulte gesehen hat. Mit dem Unterschied, dass die Abbildung bei weitem nicht mit der Realität mithalten kann. Sie bleibt stehen und saugt die Eindrücke in sich auf.

      Nach ihrer Erinnerung scheint das Foto für das Poster von dieser Stelle aufgenommen worden zu sein, an der sie gerade steht, mit Sicht auf die Front sowie auf die Seite mit dem Haupteingang. Über dem Erdgeschoss, eingefasst in grauem Stein, befindet sich ein Satteldach mit Zinkabdeckung und zwei weiteren Geschossen. Auch an die grandiose Felskulisse dahinter erinnert sie sich.

      Kurz darauf erreichen sie die Hütte. Julia reicht es für heute - nach lediglich einer Nacht Akklimatisierung auf zwar 800 Metern, während die heutige Tour meist weitere 1000 Meter höher verlief. Sie mustert das Schild über dem Haupteingang. Demnach liegt die Hütte auf 1.846 Meter.

      Auf der zum Tal hin ausgerichteten, nach Nordwesten liegenden Terrasse sieht sie dutzende Personen, die bei verschiedenen Kaltgetränken mit oder ohne Alkohol die Sonne genießen. Sie zieht ihr Smartphone heraus, die digitalen Ziffern zeigen 14 Uhr an. Und die Striche daneben keinen Empfang. Wahrscheinlich ist das der Fall, seit sie den Berggrat am Laufbacher Eck überschritten haben.

      Rosalia stupst sie an. „Gehen wir hinein?“ Schmunzelnd fügt sie an: „Einchecken?“

      Julia folgt in den Vorraum, wo die ersten Übernachtungsgäste ihre Schuhe und Wanderstöcke abgestellt haben. Die Beiden streifen ihre Rucksäcke ab und stellen sie an eine Wand. Dann gehen sie an der Anmeldung vorbei in den Gastraum, der mit Wanderschuhen betreten werden darf. Auf der linken Seite befindet sich das Hüttenbuch. Ein paar Seiten zurück, dieses Mal noch nicht aufgeblättert, finden sie den Eintrag von Kevin Schulte mit dem Ziel Bockkarscharte. Direkt machen sie Fotos von der Doppelseite.

      Rosalia grübelt. „Bis dahin sind es bloß ein paar Meter den Hang hoch.“

      Julia blättert das Hüttenbuch wieder auf die aktuelle Seite zurück. „Definiere Ein-paar-Meter.“

      „Rund dreihundert Höhenmeter. Dürfte eine dreiviertel Stunde dauern.“

      Rosalia wendet sich ab und verlässt den Gastraum auf die zweite, bergseitig liegende Terrasse. Diese ist zu zwei Seiten von Gebäudeteilen begrenzt und liegt mehr im Schatten. Julia folgt ihr bis auf die andere Seite an das Geländer und von dort ihrem Blick nach oben. Am Rand der felsigen Bergformation schließt sich eine grasbewachsene Mulde an, die schräg daran hinauf führt. Oben wird diese von einem weiteren felsigen Berg begrenzt, der zur anderen Seite in das Bärgündeletal abfällt. Vom Prinz-Luitpold-Haus verläuft durch eine Mischung

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