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Aber in den Werken des Herodot, den man trotz der ohnmächtigen und unvornehmen Versuche moderner Halbwisser, die Geschichtsaufzeichnungen dieses Mannes mit der Wahrheit in Einklang zu bringen, den ›Vater der Lüge‹ nennen könnte; in den niedergeschriebenen Reden Ciceros und den Lebensbeschreibungen des Sueton; bei Tacitus, wo er am größten ist; in der Naturgeschichte des Plinius; in Hannos Periplous; in allen alten Chroniken; in den Lebensbeschreibungen der Heiligen; bei Froissart und Sir Thomas Mallory; in den Reisebeschreibungen des Marco Polo; bei Olaus Magnus und Aldrovandus und in dem herrlichen ›Prodigiorum und Ostentorum Chronikon‹ des Conrad Lycosthenes; in der Selbstbiographie des Benvenuto Cellini; in den Memoiren des Casanuova; in Defoes ›History of the Plague‹; in Boswells ›Life of Johnson‹; in den Depeschen Napoleons und in den Werken unseres eigenen Carlyle, dessen ›French Revolution‹ der fesselndste geschichtliche Roman ist, den es gibt – wird entweder den Tatsachen die ihnen gebührende untergeordnete Stellung angewiesen, oder aber sie werden allgemeinen Stumpfsinns halber verworfen. Heute hat sich alles verändert. Die Tatsachen fassen nicht nur in der Geschichtsschreibung festen Fuß, sie brechen auch in das Gebiet der Phantasie ein und halten Einzug in dem Königreich der Dichtung. Ihr eisiger Hauch legt sich auf alles. Sie vulgarisieren die Menschheit.

      Der rohe Kaufmannssinn der Amerikaner, ihr materialistischer Geist, ihre Gleichgültigkeit gegen alles, was poetisch ist, und ihr Mangel an geistreicher Phantasie und das Fehlen hoher, unerreichbarer Ideale ist lediglich eine Folge davon, daß sie einen Mann zu ihrem nationalen Helden erhoben, der nach eigener Aussage unfähig war, zu lügen, und es ist nicht übertrieben, wenn wir behaupten, die Erzählung von George Washington und dem Kirschbaum habe mehr Unheil angerichtet, und dazu in kürzerer Zeit, als irgendeine andere Moralgeschichte der Weltliteratur.«

      Cyril. Aber mein Lieber!

      Vivian. Wirklich, es ist so, und was das Köstlichste an der Sache ist: die Erzählung von dem Kirschbaum ist nichts als ein Märchen. Du darfst jedoch nicht denken, daß ich für die künstlerische Zukunft Amerikas oder unseres eigenen Landes alle Hoffnung aufgegeben habe. Höre weiter zu: –

      »Daß irgendeine Umwälzung eintreten wird, noch ehe dies Jahrhundert geendet hat, darüber besteht nicht der geringste Zweifel. Gelangweilt durch die ermüdende und dozierende Unterhaltung derer, die weder die Fähigkeit haben, zu übertreiben, noch den Geist, zu dichten, jener klugen Leute überdrüssig, deren Reminiszenzen stets auf dem Gedächtnis beruhen, deren Aussagen ewig gehindert sind, da sie der Wahrheit entsprechen sollen, und denen zu jeder Zeit irgend ein Philister zu Gebote steht, der alles bereitwillig bestätigt, wird die Gesellschaft über kurz oder lang zu ihrem verlassenen Führer zurückkehren müssen, dem feingebildeten und fesselnden Lügner. Wer der erste war, der, ohne jemals auf wilder Jagd gewesen zu sein, den staunenden Höhlenmenschen bei untergehender Sonne erzählte, wie er das Megatherium aus der purpurnen Finsternis seiner Jaspis-Höhle geschleppt, oder das Mammut im Einzelkampf erlegt und das goldene Elfenbein heimgetragen habe, das wissen wir nicht zu sagen, und das hat auch nicht einer unserer modernen Anthropologen zu sagen, trotz all ihres prahlerischen Wissens, den Mut gehabt. Wes Namens und Geschlechts er auch war, sicherlich war er der rechte Gründer des gesellschaftlichen Verkehrs. Denn das Ziel des Lügners ist, zu bezaubern, zu entzücken und zu erfreuen. Er ist der eigentliche Schöpfer der zivilisierten Gesellschaft und ohne ihn ist ein Diner, selbst in den Palästen der Großen, so stumpfsinnig, wie eine Vorlesung in der Royal Society oder ein possenhaftes Lustspiel von Burnand.

      Auch wird ihn nicht allein die Gesellschaft willkommen heißen. Aus dem Kerker des Realismus hervorbrechend, wird ihm die Kunst entgegeneilen und ihn begrüßen und ihm die falschen schönen Lippen küssen, denn sie weiß, daß er allein das große Geheimnis aller ihrer Offenbarungen birgt, das Geheimnis, daß die Wahrheit einzig und allein eine Sache der Form ist. Das Leben aber – das arme, wahrscheinliche, dürftige menschliche Leben – Herbert Spencers, aller Geschichtsforscher und emsigen Statistiker überdrüssig, zu deren Gunsten es sich immer wiederholen soll, wird ihm schweigend nachgehen und in seiner schlichten und unverdorbenen Weise einige von den Wunderdingen nachzubilden suchen, von denen er redet.

      Zweifellos wird es immer Kritiker geben, die den Märchenerzähler wegen seiner lückenhaften Naturgeschichtskenntnisse mit ernster Miene tadeln, die die Werke der Phantasie nach ihrem eigenen Mangel an Phantasie beurteilen, die entsetzt die tintenbefleckten Hände in die Höhe heben, wenn ein ehrbarer Mann, der nie über die Eibenbäume seines Gartens hinauskam, ein fesselndes Buch Reiseerinnerungen schreibt, wie Sir John Mandeville, oder wie der große Raleigh eine ganze Weltgeschichte geschrieben hat, ohne das Geringste von der Vergangenheit zu wissen. Um sich zu rechtfertigen, werden sie hinter dem Schilde des Mannes Deckung suchen, der Prospero den Magiker schuf und ihm Caliban und Ariel zu Dienern gab, der an den Korallenriffen der Seligkeitsinsel dem Hörnerschall der Tritonen lauschte und in einem Haine bei Athen dem Wechselgesang der Elfen, der in bleichem Zuge die Geisterkönige über die neblige Heide Schottlands führte, der mit den Schicksalsschwestern Hekate in der Höhle verbarg. Sie werden sich auf Shakespeare berufen – das tun sie immer – und werden jene abgedroschene Stelle zitieren, in der die Kunst der Natur den Spiegel vorhält, indem sie vergessen, daß Hamlet diese unglückseligen Worte äußert, um die Anwesenden von seiner vollkommenen Unwissenheit in allen Dingen der Kunst absichtlich zu überzeugen.«

      Cyril. Ahem! Noch eine Zigarette, bitte.

      Vivian. Du magst einwenden, was du willst, mein Lieber, die Äusserung ist eine rein dramatische und vertritt Shakespeares wirkliche Ansichten über die Kunst ebensowenig, wie die Reden des Jago seine wirklichen Ansichten über die Moral vertreten. Aber laß mich mit dem Abschnitt zu Ende kommen: –

      »Die Kunst kann nur durch sich vollkommen werden. Die Ähnlichkeit mit der sichtbaren Welt ist für die Beurteilung vollständig gleichgültig. Sie ist eher ein Schleier als ein Spiegel. Sie hat Blumen, die nie ein Forst gekannt, Vögel, von denen keine Wälder wissen. Sie baut Welten auf und vernichtet sie wieder und kann den Mond mit einem Scharlach-Faden vom Himmel ziehen. Ihr sind Formen zu eigen, die wirklicher sind als das Leben, und auch die hohen Urbilder, von denen alle wirklichen Dinge nur unvollendete Abbilder sind. Die Natur hat in ihren Augen keine Gesetze, keine Gleichförmigkeit. Je nach ihrem Willen verrichtet sie Wunderwerke, und wenn sie Schreckgestalten aus der Tiefe ruft, dann kommen sie. Sie kann den Mandelbaum im Winter blühen heißen und den Schnee über die reifen Kornfelder treiben. Auf ihr Gebot legt der Frost dem Sommer die silbernen Finger auf den heißen Mund, und schleichen Flügellöwen aus den Gebirgsschluchten Lydiens. Die Dryaden blicken neugierig aus dem Dickicht, wenn sie vorübergeht, und die braunen Faune lächeln seltsam, wenn sie ihnen naht. Falkenköpfige Götter beten sie an und Kentauren galoppieren an ihrer Seite.«

      Cyril. Das gefällt mir. Ich sehe, was du meinst. Ist das das Ende?

      Vivian. Nein. Es folgt noch ein Abschnitt, aber nur praktischen Inhaltes. Er bringt einige Methoden zum Vorschlag, mit deren Hilfe wir die verlorene Kunst zu lügen wiedergewännen.

      Cyril. Schön. Bevor du ihn liest, möchte ich eine Frage stellen. Was meinst du, wenn du sagst, das Leben – das arme, wahrscheinliche, dürftige menschliche Leben – werde die Wunderdinge der Kunst nachzubilden suchen? Ich kann es sehr wohl begreifen, daß du dich sträubst, wenn man die Kunst als einen Spiegel betrachtet. Du meinst, das würde das Genie auf die Stufe eines gesprungenen Spiegels stellen. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, daß das Leben die Kunst nachahmt, daß gar das Leben der Spiegel und die Kunst die Wirklichkeit ist?

      Vivian. Gewiß glaube ich das. Paradox, wie es scheinen mag – und Paradoxien sind immer gefährliche Dinge – es ist darum nicht weniger wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben. Wir alle haben es in England erlebt, wie ein seltsamer und bezaubernder Schönheitstypus, der von zwei wirklich schöpferischen Malern erfunden und ausgebildet wurde, das Leben derartig beeinflußte, daß, so oft wir in eine Gesellschaft oder einen Kunstsalon gehen, wir hier die geheimnisvollen Augen sehen, von denen Rossetti träumte, den langen elfenbeinernen Hals, das seltsame breitgeschnittene Kinn, das lose schattige Haar, das er so glühend liebte, dort die süsse Jungfräulichkeit des ›Golden Stair‹, den Blütenmund

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