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mehr lieben als Plato, wird das letzte Geheimnis der Kunst denen für immer verborgen sein, die die Wahrheit mehr lieben als die Schönheit. Der schwerfällige Götze des Britischen Verstandes liegt unbeweglich in der Wüste, wie die Sphinx in Flauberts herrlicher Erzählung, und die Phantasie, La Chimère, tanzt um ihn herum und lockt ihn mit ihrer falschen, süßen Flöten-Stimme. Noch mag es zu früh sein, daß er auf sie hört, aber wenn wir einmal all des trivialen Charakters moderner Dichtung satt geworden sind, wird auch der Tag kommen, da er ihr zuhört und ihrer Schwingen begehrt.

      Wenn der Tag anbricht, oder die alte Sonne sich zum Untergange rötet – wie festesfroh sind wir dann! Tatsachen werden für schimpflich erklärt, die Wahrheit sieht man über ihre Ketten trauern, und im Gefolge der Dichtung ziehen die Wunder wieder ein. Die Welt und alle Dinge sind dem staunenden Auge verwandelt. Aus dem Meere tauchen Behemoth und Leviathan und umsegeln die hochragenden Galeeren, wie uns die köstlichen Karten jener Tage zeigen, da geographische Bücher noch lesbar waren. Geflügelte Drachen gehen um auf verlassenen Weiten, und von seinem Feuer-Neste fliegt der Phönix auf. Der bezähmte Basilisk liegt uns zu Füßen, und wir sehen den Edelstein im Kopf der Kröte. Den vergoldeten Hafer fressend, steht der Hippogryph in unseren Ställen, und über unseren Häuptern schwebend singt die Winter-Drossel von herrlichen und unmöglichen Dingen, von Dingen, die wir lieben und die unerreichbar sind, von Dingen, wie sie nicht sind, doch sein sollten. Aber ehe sich dies alles ereignet, müssen wir die verlorene Kunst des Lügens pflegen.«

      Cyril. Dann wahrlich müssen wir sie sofort pflegen. Damit wir uns aber ganz versichern, möchte ich, daß du mir in aller Kürze die neuen Lehren deiner Ästhetik gibst.

      Vivian. In aller Kürze sind es diese: Die Kunst stellt nur sich selbst dar. Sie führt ein abgeschlossenes, unabhängiges Leben, gerade wie das Denken, und entwickelt sich rein organisch. Sie ist nicht notwendig naturalistisch in einem naturalistischen Zeitalter, nicht notwendig geistig in einem religiösen. Weit davon entfernt, ein Kind der Zeit zu sein, befindet sie sich gewöhnlich in scharfem Gegensatz zu ihr, und die Geschichte, die sie uns überliefert, ist einzig die Geschichte ihres eigenen Fortschrittes. Zuweilen nimmt sie früheres wieder auf, wie in der archaistischen Bewegung der späten griechischen Kunst, und in der präraphaelitischen unserer heutigen Zeit. Zuweilen auch greift sie der Zeit vor und gibt uns Dinge, die erst nach hundert Jahren vollauf verstanden und gewürdigt werden. Niemals aber gibt sie ein Abbild der Zeit. In der Kunst eines Zeitalters das Zeitalter selbst sehen zu wollen, ist der Erbfehler aller Geschichtsschreiber.

      Die zweite Lehre ist diese. Alle schlechte Kunst entsteht da, wo man zum Leben und zur Natur zurückkehrt und diese als die höchsten Güter hinstellt. Das Leben und die Natur mögen der Kunst zuweilen als rohes Material dienen, doch sie sind erst dann von wahrem künstlerischem Wert, wenn die Kunst sie in eine konventionelle Zeichensprache umgewandelt hat. Sobald die Kunst das Ausdrucksmittel ihrer Phantasie aufgibt, gibt sie alles auf. Der Naturalismus als Methode künstlerischen Sehens ist vollkommen verfehlt, und was jeder Künstler vor allen Dingen vermeiden sollte, ist Modernität des Gegenstandes. Für uns, die wir im neunzehnten Jahrhundert leben, läßt sich jedes Jahrhundert künstlerisch verwenden, nur das unsere nicht. Die einzigen wirklich schönen Dinge sind die Dinge, die uns nichts angehen. Gerade deshalb, um mich selbst zu zitieren, weil uns Hekuba nichts angeht, bilden ihre Leiden einen so herrlichen Gegenstand der tragischen Kunst. Außerdem wird immer nur das Moderne altmodisch. Zola gibt sich daran, ein Bild des zweiten Kaiserreichs zu zeichnen. Wen interessiert heutzutage das zweite Kaiserreich? Es ist aus der Mode. Das Leben läuft dem Naturalismus davon, aber die Romantik läuft schneller noch als das Leben.

      Die dritte Lehre ist, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben. Das liegt nicht nur an dem Instinkt der Nachahmung, den das Leben besitzt, sondern auch daran, daß das bewußte Leben immer bestrebt ist, sich mitzuteilen, und daß die Kunst ihm schöne Formen bietet, durch die die Betätigung dieses Strebens ermöglicht wird. Es ist eine Lehre, die noch nirgends aufgestellt wurde, die aber von außerordentlicher Tragweite ist und auf das Wesen und die Entwicklung der Kunst ein völlig neues Licht wirft.

      Hieraus folgt noch, daß auch die Natur die Kunst nachahmt. Die einzigen wirksamen Motive, die sie uns bietet, sind solche, die wir schon aus der Poesie und der Malerei kennen. Das ist das Geheimnis der Reize der Natur und die Erklärung ihrer Schwächen.

      Die letzte und wichtigste Offenbarung ist die, daß das Lügen, die schöne Unwahrheit zu sagen, das eigentliche Ziel der Kunst ist. Doch hiervon habe ich ausführlich gesprochen. Und jetzt laß uns auf die Terrasse hinausgehen, wo ›der milchweiße Pfau wie ein Gespenst hinsinkt‹, und der Abendstern ›die Dämmerung in Silber badet‹. Zur Dämmerstunde flüstert die Natur uns wundersame Dinge zu, und wir lieben sie dann, und doch sehe ich ihren Hauptzweck darin, daß sie uns die Worte der Dichter erklärt. Komm! Wir haben lange genug geredet.

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