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nicht belästigt und angeekelt sein von Dingen, die sich in den unteren Volksschichten abspielen. Besser steht es mit Daudet. Er hat Witz, einen zarten Anschlag und amüsanten Stil. Er hat aber kürzlich literarischen Selbstmord begangen. Wer findet noch Gefallen an dem ›lutter pour l'art‹ Delobelles, dem immer wiederkehrenden Nachtigallen-Refrain Valmajours, den ›mots cruels‹ des Dichters im Jack, nachdem man nun aus Vingt Ans de ma Vie littéraire erfahren hat, daß diese Charaktere dem Leben entnommen sind? Für uns haben sie plötzlich alle Lebendigkeit verloren, all die wenigen guten Eigenschaften, die sie je besaßen.

      Wirkliche Menschen sind nur solche, die nie gelebt haben; und wenn ein Romanschreiber so tief steht, daß er sich um seine Charaktere unmittelbar ans Leben wendet, so soll er ihnen wenigstens den Anschein geben, als seien sie Dichtungen, und nicht sich ihrer als Kopien rühmen. Die Berechtigung eines Charakters in einem Roman besteht nicht in der Wahrheitstreue anderer, sondern in der Persönlichkeit des Verfassers. Sonst ist der Roman kein Kunstwerk.

      Was Paul Bourget betrifft, den Meister des »roman psychologique«, so ist er in dem Wahn befangen, es liessen sich moderne Männer und Frauen unzählige Kapitel hindurch bis ins kleinste hinein analysieren. Was wirklich interessant ist an Menschen der guten Gesellschaft – und höchst selten verläßt Herr Bourget den Faubourg-St. Germain, es sei denn, daß er nach London kommt – das ist die Maske, die jeder trägt, nicht aber die Wirklichkeit, die hinter der Maske liegt. Es ist ein demütigendes Geständnis, aber wir sind alle aus demselben Stoff. Falstaff hat etwas von Hamlet, Hamlet gar manches vom Falstaff. Der feiste Ritter hat seine Anfälle von Melancholie, der junge Prinz seine Augenblicke derben Humors. Die Merkmale aber, die uns voneinander abheben, bestehen nur in Nebendingen: in Kleidung, Manieren, Klang der Stimme, religiösen Meinungen, äußerer Erscheinung, Angewohnheiten und dergleichen. Je mehr man die Menschen analysiert, um so mehr verschwinden alle Gründe, sie zu analysieren. Endlich stößt man doch auf das allumfassende Ungeheuer, das sich die menschliche Natur nennt. Es ist wahrlich kein leerer Dichtertraum, daß alle Menschen Brüder sind, sondern demütigende, deprimierende Wahrheit. Das wissen diejenigen nur zu gut, die je unter Armen gearbeitet haben. Und will ein Schriftsteller denn durchaus die Menschen der oberen Gesellschaftsklassen analysieren, so könnte er lieber gleich von Obstfrauen und Straßenverkäufern reden.« Indes, ich will dich gerade hier nicht länger aufhalten, Cyril. Ich gebe zu, daß moderne Romane auch ihre guten Seiten haben. Nur sage ich, daß sie als Gesamtheit einfach nicht zu lesen sind.

      Cyril. Das ist freilich eine nachdenkliche Abschätzung. Doch finde ich auch manches ungerecht in deiner Kritik. Ich liebe ›The Deemster‹ und ›The Daughter of Heth‹ und ›Le Disciple‹ und Mr. Isaacs; und Robert Elsmere verehre ich geradezu. Nicht, daß ich ihn ernst nehmen könnte. Die Darlegung von Problemen für denkende Christen ist abgeschmackt und veraltet, ist Arnolds ›Literature and Dogma‹ ohne die Literatur. Sie bleibt ebensoweit hinter der Zeit zurück, wie die ›Evidences‹ von Paley oder die Colensosche Methode der Bibelexegese. Auch spielt der unglückselige Held die kläglichste Rolle, wenn er feierlich eine Morgenröte verkündet, die längst schon aufging, und von der Bedeutung derselben so wenig weiß, daß er bereit ist, die veralteten Verhältnisse bestehen zu lassen und ihnen nur einen neuen Namen zu geben. Andererseits aber enthält der Roman einige geschickte Karikaturen und eine Fülle hübscher Zitate, und die Philosophie Greens versüßt in höchst angenehmer Weise die etwas bittere Pille der eigentlichen Dichtung. Sodann muß ich mich sehr darüber wundern, daß du jene beiden nicht erwähntest, die du beständig liest, Balzac und George Meredith. Das sind doch Realisten, beide?

      Vivian. Ah! Meredith! Wer will ihn beschreiben? Sein Stil ist Chaos, das von zuckenden Blitzen leuchtet. Als Schriftsteller beherrscht er alles, nur nicht die Sprache; als Romanschreiber kann er alles, nur nicht erzählen; als Künstler ist er alles, nur nicht klar. Irgendeiner bei Shakespeare – ich glaube Touchstone – spricht von einem Mann, der sich an seinem eigenen Witz beständig die Glieder zerschlägt, und wie mir scheint, könnte man mit diesem Wort Merediths Art und Weise abtun. Was er aber auch sein mag, Realist ist er nicht. Oder doch vielleicht ein Sohn des Realismus, aber einer der sich mit seinem Vater nicht steht. Durch eigene, freie Wahl ist er zum Romantiker geworden. Er verschmähte es, vor Baal das Knie zu beugen, und wenn sich auch des Mannes herrlicher Geist nicht empörte gegen die lärmenden Anmaßungen des Realismus, es genügte sein bloßer Stil, um das Leben in angemessener Entfernung zu halten. Mit diesem Stil hat er eine Hecke um seinen Garten gezogen, eine Hecke von Dornen und roter Rosenpracht. Balzac vereinigt in eigentümlicher Weise das artistische Temperament und den wissenschaftlichen Geist. Diesen vermachte er an seine Schüler; jenes blieb ganz sein eigen. Der Unterschied zwischen einem ›Assommoir‹ Zolas und Balzacs ›Illusions Perdues‹ ist der Unterschied zwischen unschöpferischem Realismus und schöpferischer Realität. »Alle Charaktere Balzacs«, sagte Baudelaire, »durchströmt dieselbe Lebensglut, die ihn beseelte. Der geheimnisvolle Farbengehalt seiner Dichtung ist der der Träume. Jede einzelne Gestalt ist eine Kanone geladen mit Willen. Selbst die Küchenjungen haben Genie.« Ein fortgesetztes Studium Balzacs verwandelt unsere Freunde in Schattenbilder und unsere Bekannten in Schatten von Schattenbildern. Seine Gestalten sind gleichsam glühende, feuerfarbene Wesen. Sie lassen uns nicht los und vernichten jeden Zweifel. Eine der größten Tragödien meines Lebens ist der Tod des Lucien de Rubempré. Von seinem Wehe habe ich mich niemals völlig befreien können. Er verfolgt mich in meiner Freude. Ich muß an ihn denken, wenn ich lache. Aber ein Realist ist Balzac so wenig wie Holbein. Sein Werk war Schöpfung, nicht Nachbildung. Doch gebe ich zu, daß er viel zu hohen Wert legte auf die Modernität der Form, und daß infolgedessen kein Buch von ihm vorhanden ist, das als ein Meisterwerk der Kunst bestehen könnte neben »Salammbô« oder »Esmond«, »The Cloister and the Hearth« oder dem »Vicomte de Bragelonne«.

      Cyril. Du bist also ein Gegner der Modernität der Form?

      Vivian. Ja. Sie bedeutet ein allzu großes Opfer. Reine Modernität der Form hat stets etwas Verhäßlichendes; und das mit Notwendigkeit. Die Leute glauben, weil sie selbst an den Vorgängen ihrer nächsten Umgebung teilnehmen, es müsse auch die Kunst an ihnen teilnehmen und sie zu ihrem Gegenstande wählen. Aber schon die Tatsache, daß sie an diesen Dingen teilnehmen, genügt, sie für die Kunst unbrauchbar zu machen. Die einzigen wirklich schönen Dinge, sagte einmal jemand, sind die Dinge, die uns nichts angehen. Solange uns ein Ding nützlich oder notwendig erscheint, oder uns mit Schmerz oder Freude, Liebe oder Haß erfüllt, oder einen wesentlichen Bestandteil unserer nächsten Umgebung bildet, liegt es außerhalb des eigentlichen Kunstgebietes. Die Gegenstände der Kunst müssen uns mehr oder weniger gleichgültig sein. Auf alle Fälle sollten wir uns fern halten von Vorliebe, Vorurteilen und eigennützigen Interessen irgendwelcher Art. Gerade, weil uns Hecuba nichts angeht, bilden ihre Leiden ein so herrliches Motiv der tragischen Kunst. Ich kenne in der gesamten Literaturgeschichte nichts Beklagenswerteres, als die künstlerische Laufbahn Charles Reades. Er schrieb ein einziges wunderschönes Buch, »The Cloister and the Hearth«, ein Buch, das ebensosehr über Romola, wie Romola über Daniel Doronda steht; und er verschwendete den Rest seines Lebens auf den unsinnigen Versuch, modern zu sein, die Öffentlichkeit auf den Zustand unserer Gefängnisse und die Leitung unserer Irrenhäuser aufmerksam zu machen. Es war schon in jeder Beziehung entmutigend, daß ein Charles Dickens versuchte, für die Opfer des Armengesetzes unser Mitleid zu erregen, aber ein Künstler, ein Gelehrter, ein Mann von wahrem Schönheitssinn – ein Charles Reade, der gegen die Übelstände heutiger Lebensverhältnisse wettert und wütet wie ein gemeiner Zeitungs- und Flugblattschreiber, ist wahrlich ein Anblick zum Erbarmen. Glaube mir, Cyril, Modernität der Form und Modernität des Gegenstandes zu fordern, ist von Grund aus verkehrt. Wir haben das Gewand der Musen in moderner Alltagstracht erblickt und verbringen unsere Tage in den schmutzigen Straßen und häßlichen Vororten unserer scheußlichen Großstädte, während wir am Bergeshange mit Apoll verweilen sollten. Wahrlich, unser Geschlecht ist entartet, und wir haben unsere Erstgeburt verkauft für ein Gericht von Tatsachen.

      Cyril. Es liegt etwas Wahres in deinen Worten, und was uns immer reizen mag, einen modernen Roman zu lesen, wir werden selten am Wiederlesen einen künstlerischen Genuß haben. Und das ist vielleicht der beste Prüfstein, ob etwas zur eigentlichen Literatur

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