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      LUNATA

Fingerzeige – Intentions

      Fingerzeige

      Essays und Dialoge über Ästhetik

      © 1891 by Oscar Wilde

      Originaltitel Intentions

      Aus dem Englischen von Felix Paul Greve

      Umschlagbild Aubrey Beardsley

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

       Anmerkung

       Der Verfall der Lüge

       Stift, Gift, Schrifttum

       Kritik als Kunst – Mit einigen Anmerkungen über die Wichtigkeit des Nichtstuns

       Kritik als Kunst – Mit einigen Anmerkungen über die Wichtigkeit allumfassender Erörterung

       Die Wahrheit der Masken

      Anmerkung

      Diese neue Ausgabe meiner Übertragung der »Intentions« unterscheidet sich von der ersten dadurch, daß erstens eine ganze Reihe von Fehlern und Versehen ausgemerzt sind, und daß zweitens jede noch so begründete Auslassung prinzipiell verrmieden wurde. Der der Übersetzung zugrunde gelegte Text ist die Heinemannsche Ausgabe von 1891.

      Paris-Plage, November 1905.

      F. P. G.

      Der Verfall der Lüge

      Ein Dialog

      Personen: Cyril und Vivian

      Ort: Die Bibliothek eines Landsitzes der Grafschaft Nottingham

      Cyril. (von der Terrasse her durch die offene Glastür eintretend). Aber Vivian, versteck' dich nicht den ganzen Tag lang in der Bibliothek! Es ist ein entzückender Nachmittag. Die Luft ist wundervoll. Über dem Walde liegt ein Nebel, purpurn wie der duftige Hauch der Pflaume. Komm, wir wollen uns ins Gras legen und Zigaretten rauchen und die Natur genießen. –

      Vivian. Die Natur genießen? Gott sei Dank! das habe ich längst verlernt. Man sagt, die Kunst lehre uns die Natur mehr lieben, als wir sie früher liebten, sie offenbare die Geheimnisse der Natur und wir, mit Corot und Constable vertraut, sähen Dinge in ihr, die sich unserm Auge entzogen hatten. Meine Erfahrung aber ist die: je mehr wir die Kunst studieren, um so weniger kümmert uns die Natur. Was uns im Grunde die Kunst von der Natur offenbart, das ist ihr Mangel an planvoller Absicht, ihre seltsame Ungeschliffenheit, ihre furchtbare Eintönigkeit, das ganz Unfertige ihres Zustands. Zweifellos hat die Natur ›den besten Willen‹, aber, wie Aristoteles einmal sagt, sie kann ihn nicht ausführen. Wenn ich eine Landschaft betrachte, sehe ich auch gleich all ihre Fehler. Freuen wir uns aber, daß die Natur so unvollkommen ist, da wir sonst die Kunst nicht hätten. Die Kunst ist ein flammender Protest, ein ritterlicher Versuch, die Natur in ihre Schranken zurückzuweisen. Das berühmte Gerede von der unendlichen Mannigfaltigkeit in der Natur ist nichts als ein Mythus. Sie ist in der Natur selbst gar nicht vorhanden. Sie entspringt dem Denken, der Phantasie, der künstlerischen Blindheit dessen, der die Natur betrachtet.

      Cyril. Nun! Du brauchst ja die Landschaft nicht anzusehen. Du kannst im Grase liegen und rauchen und plaudern.

      Vivian. Aber die Natur ist so ungemütlich. Der Rasen ist hart und bucklig und feucht und wimmelt von schrecklichem Ungeziefer. Was meinst du? Selbst Morris' schlechtester Arbeiter macht dir ein besseres Lager, als die gesamte Natur. Die Natur verblaßt vor den Zimmereinrichtungen jener Straße, die von Oxford den Namen entlehnt, um die schreckliche Tirade eines Dichters anzuführen, den du so liebst. Ich klage aber nicht. Wäre die Natur wohnlich und behaglich, wir Menschen hätten nie die Architektur erfunden, und Häuser sind mir lieber als der offene Himmel. In einem Hause fühlen wir uns alle im richtigen Größenverhältnis. Alles ist uns untergeordnet, alles nach unseren Bedürfnissen eingerichtet. Selbst der Egoismus, der dem wahren Gefühl von der Würde des Menschen so notwendig ist, entstammt ganz und gar dem Leben im Hause. Draußen im Freien werden wir abstrakt und unpersönlich. Und die Natur ist so teilnahmslos. So oft ich hier im Park spaziere, merke ich, daß ich ihr nicht mehr bin, als das Vieh, das am Abhang weidet, oder die Dolde, die im Graben blüht. Die Natur haßt den Geist; nichts ist klarer. Es gibt nichts Ungesunderes als das Denken, und die Menschen gehen daran zugrunde, wie an irgendeiner andern Krankheit. Ein Glück noch, daß das Denken nicht ansteckend ist, wenigstens nicht in England. Die herrliche Gesundheit unseres Volkes verdanken wir lediglich unserer nationalen Borniertheit. Ich hoffe nur, daß es gelingen wird, dies große, geschichtliche Bollwerk unseres Glücks noch manches Jahr lang zu erhalten. Fast aber fürchte ich, wir stehen in Gefahr, an einem Überfluß von Bildung zu erkranken, da jeder sich aufs Lehren verlegt, der das Lernen verlernt hat. Das ist das eigentliche Resultat unserer Begeisterung für die Bildung. – Inzwischen aber gingst du besser wieder hinaus zu deiner langweiligen, unbehaglichen Natur, damit ich unterdes meine Korrekturen lesen kann.

      Cyril. Du schreibst einen Artikel? Das ist doch sehr wenig konsequent nach dem, was du eben sagtest.

      Vivian. Wer strebt denn nach Konsequenz? Die Philister, die Schulmeister, jene langweiligen Leute, die immer und ewig an ihren Prinzipien festhalten, selbst dann, wenn die Praxis sie ad absurdum führt. Ich wahrlich nicht. Ich setze, wie Emerson, über die Tür meiner Bibliothek das Wort ›Laune‹. Außerdem ist mein Artikel eine im höchsten Grade heilsame und wertvolle Warnung. Wenn sie befolgt wird, kann es eine neue Renaissance der Kunst geben.

      Cyril. Wovon handelt er?

      Vivian. Er soll heißen: ›Der Verfall der Lüge.‹ Ein Protest.

      Cyril. Der Lüge? Ich dächte, unsere Politiker sorgten dafür, daß sie nicht verschwindet.

      Vivian. Wirklich, Cyril; das tun sie nicht. Sie bringen es nie weiter als bis zu einer gewissen Verdrehung der Tatsachen, und sie lassen sich sogar noch auf langwierige Beweisführungen, Erörterungen und Untersuchungen ein. Wie anders die Gesinnung des echten Lügners mit seinen freien, furchtlosen Behauptungen, seiner grandiosen Ablehnung jeder Verantwortung, seiner gesunden und natürlichen Abneigung gegen Beweise irgendwelcher Art! Worin besteht denn das Wesen der schönen Lüge? Einfach darin, daß sie sich selbst beweist. Ist einer so arm an Phantasie, daß er seiner Lüge mit Beweisen erst noch zu Hilfe kommt, dann soll er lieber gleich die Wahrheit reden. Nein, die Politiker nützen uns nichts. Vielleicht könnte man einiges zugunsten der Gerichte sagen. Der Mantel der Sophistik fiel ihren Mitgliedern zu. Ihre erheuchelte Leidenschaft und leere Rhetorik ist köstlich. Sie können die schlimmere Sache zur besseren machen, als kämen sie direkt aus Gorgias Schulen; sie sollen sogar in erfolgreicher Weise von nachgiebigen Geschworenen für ihre Klienten die Freisprechung erzwungen haben, selbst wenn die Schuldlosigkeit dieser Klienten außer allem Zweifel stand. Doch sind sie durch die Prosa ihres Berufes gehindert und scheuen sich nicht, Präzedenzfälle herbeizuziehen. Trotz ihrer eifrigen Bemühungen siegt die Wahrheit. Selbst die Zeitungen sind entartet und sind jetzt vollkommen zuverlässig. Das merkt man, wenn man durch ihre Spalten watet. Immer geschieht das, was unlesbar ist. Ich fürchte, es läßt sich nicht viel sagen zugunsten weder des Juristen noch des Journalisten. Die Lüge übrigens, für die ich spreche, ist die Lüge auf dem Gebiete der Kunst. Soll ich einmal lesen, was ich geschrieben habe? Es kann dir vielleicht recht gut tun.

      Cyril. Gewiß, wenn ich eine Zigarette haben kann. Danke schön. Für welche Zeitschrift ist übrigens der Artikel bestimmt?

      Vivian.

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