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Das Lied des Steines. Frank Riemann
Читать онлайн.Название Das Lied des Steines
Год выпуска 0
isbn 9783742782533
Автор произведения Frank Riemann
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als sich der Nebel zu verflüchtigen begann, zeichnete sich auf dem letzten Treppenabsatz eine Gestalt ab.
Die Polizisten waren so ausgebildet, dass sie ihre leergeschossenen Magazine in Sekunden wechseln konnten, aber selbst die Zeit reichte diesmal nicht. Der Attentäter schoss sofort. Eine erneute Ladung Kugeln pfiff durch das Treppenhaus. Die Männer stürzten zurück in Deckung. Schreie und Flüche wurden laut. Ein Beamter wurde ins Bein getroffen, ein anderer in die Hand. Einige Projektile gingen daneben, und die Splitterwesten verhinderten Schlimmeres. Prellungen und Blutergüsse würden die Folgen sein. Ein Mann fiel die Treppe hinunter und brach sich einen Fuß.
Leetoo versuchte Ordnung in das Durcheinander zu bringen und brüllte Kommandos. Er teilte Leute ein, die die Verwundeten wegbrachten und ordnete die Formation für den Angriff neu, da nun auch die letzten Zweifel über einen feindlichen Aggressoren beseitigt waren. Der Attentäter war dort oben, und er war bewaffnet und hatte keine Skrupel, was ihn besonders gefährlich machte. Zu seinen bisherigen Opfern kam nun auch noch ein Polizist hinzu. Das Schwein würde keine Gelegenheit mehr bekommen zu kapitulieren, jetzt war es persönlich und sie würden auf seine Leiche spucken. Ob vom Mörder etwas übrig bleiben würde, das man vor Gericht stellen konnte, interessierte Leetoo nicht mehr. Er nahm sein Funkgerät und warf es durch das Treppenauge nach unten, wo es am Boden zerschellte. Dann schickte er vier seiner Leute auf den nächsten Absatz.
Solomon wurde immer nervöser. »Das gefällt mir nicht, das gefällt mir nicht.«
Sie waren nur Ohrenzeugen der Aktion, und dass nach dem heftigen Schusswechsel noch keine Erfolgsmeldung gegeben wurde, hielt seine Nervosität aufrecht. Er betätigte die Sprechtaste an seinem Funkgerät: »Leetoo, was ist los? Leetoo?« Hanley und Mathenge schauten ihn an. »Leetoo, machen Sie Meldung, ach verdammt!« Solomon machte Anstalten, das Funkgerät von sich zu schleudern, aber ein einziges »David!« seines Einsatzleiters reichte aus, ihn dieses Vorhaben vergessen zu lassen.
Sie wandten sich wieder dem Neubau zu, als die verletzten
Polizisten, von einigen Kollegen gestützt, heraus kamen. Sie wurden zu den bereitstehenden Sanitätern und Ärzten gebracht, um sie medizinisch versorgen zu lassen.
Robert Mathenge sprach über Funk den Leutnant seiner Schützen an, aber die hatten nicht das Geringste gesehen. Roger Hanley winkte einen in der Nähe stehenden und eine Straße absichernden Polizisten zu sich heran. Er deutete auf die Stelle, an der die Verletzten versorgt wurden. »Einer der Männer soll herkommen und Meldung machen. Der Rest geht zurück ins Haus, natürlich nicht die Verwundeten.« Der Untergebene verschwand in einem großen Bogen um die Absperrung herum.
Mittlerweile wurde die Kreuzung wieder in helles Licht getaucht, denn die Sonne erschien wieder hinter dem Gebäude, und begann den Scharfschützen Probleme zu bereiten.
Dann schrie aus dem Haus eine Stimme herüber, die so schrill kreischte, das man Mühe hatte, sie zu verstehen: »Hahaha, ihr Scheißbullen. Das ist ja wie in der Savanne, hahaha. Erst kommt die Treibjagd, hahaha, und dann der Fangschuss. Kommt und holt mich, hahaha.«
Und dem großen, starken, ruhigen und fast immer souveränen Einsatzleiter Roger Hanley krampfte sich der Magen zusammen. War das möglich? Konnte das denn sein?
Minsk / Weißrussland, Montag 26. April, 11:40 Uhr
»Schon wieder Treppen«, dachte Juri Kuznov. »Diese Treppen bringen mich um. Erst in diesem verdammten Haus, dann in Ivanovs Amt und hier im Ministerium schon wieder. Ich sollte zu Hause im Bett liegen. Vielleicht hätte ich ja noch mal über die Kleine rübersteigen können. Oder ich könnte aufs Land fahren, oder zumindest irgendwo bei einem Gläschen Wodka oder einer Tasse Tee mit Rum sitzen. Ich habe Urlaub, verdammt. Stattdessen laufe ich mir die Füße platt.«
Kapitan Kuznov hatte in dem Haus in der Straße Turgenewa im obersten Stockwerk angefangen und sich von Wohnung zu Wohnung durchgefragt. Einige Mieter waren gar nicht zu Hause. So konnte er zwar weniger Informationen sammeln, war darüber aber nicht unbedingt traurig. Eigentlich war er schon genug genervt.
Er klopfte an eine Tür, neben der `Grinkova` auf einem alten verblichenen Messingschild stand. Er klopfte erneut, etwas lauter als zuvor. Von innen ertönte eine krächzende zittrige Frauenstimme: »Ja ja ja, immer langsam mit den alten Pferden. Ich komme ja schon, ich komme ja schon.« Ihre Stimme klang wie knisterndes Papier.
»Oh nein«, murmelte Kuznov, »was kommt jetzt?« Als sich die Tür öffnete, erschrak der Kapitan, auch wenn er sonst nicht so zimperlich war, denn es schien, als stünde der Tod höchstselbst vor ihm.
Gaspascha Grinkova war alt, sie war uralt. Tiefe Falten durchzogen ihr Gesicht und die Haut, bleich und dünn wie Pergament, schloss sich so eng um Kopf und Hände, als hätte der Körper noch nie etwas von Sehnen oder gar Muskeln gehört. Sie trug einen dunklen Umhang und hatte sich einen schwarzen Schal wie eine Kapuze über den Kopf gelegt, so dass keine Haare zu sehen waren. Es hätte Kuznov nicht gewundert, wenn sie gar keine mehr gehabt hätte. Gramgebeugt stützte sie sich auf einen Stock, an dem eigentlich nur noch eine Sensenklinge fehlte, um das Bild perfekt zu machen. Am liebsten wäre der Kapitan sofort wieder gegangen, aber die im Gegensatz zum übrigen Körper hellwachen und lebendigen Augen nagelten ihn fest. Nun, da die Tür geöffnet war, klang die Stimme zwar etwas heller, aber immer noch brüchig und als wäre sie noch wesentlich älter als ihre Besitzerin. »Nein, nein, nein, wieviel Aufregung denn noch? Reicht es noch nicht für einen Morgen?«
Nach Kuznovs Informationen hatte diese alte Dame das Opfer gefunden und die Nachbarn alarmiert. Er begann: »Ich bin...«
»Es interessiert mich nicht, wer Sie sind. Die meisten Menschen nehmen sich für zu wichtig. Mich interessiert nur, was Sie von mir wollen.«
Er zeigte seinen Ausweis, um zu unterstreichen, dass er befugt war, Fragen zu stellen. »Gut. Sie haben heute Morgen den toten Pjotr Michailowitsch Ivanov gefunden.«
»Sie sagen mir nichts Neues.« Ihr feiner Spott ärgerte ihn.
»Ich habe gehofft, dass Sie mir vielleicht noch etwas mehr erzählen können.«
»So sehr ich die Gegenwart junger Männer auch schätze, ich habe aber ihrem Kollegen bereits alles berichtet.«
Kuznov wurde allmählich ärgerlich. »Nun, vielleicht ist Ihnen ja noch etwas eingefallen, oder Sie erinnern sich noch während des Gesprächs an etwas, das Ihnen entfallen ist.«
»Das würde mich wundern.«
»Darf ich vielleicht so lange herein kommen?«
»Ich habe nichts zu verbergen, das hatte ich nie. Treten Sie ruhig näher, drinnen ist es bequemer.« Sie drehte sich um und verschwand in der Wohnug, sodass Kuznov nichts anderes übrig blieb, als die Tür zu schließen und ihr zu folgen. Bei ihrem Gang wunderte er sich, wie die gute Frau überhaupt noch Treppen steigen konnte. Er folgte ihr nach links durch den Flur und dann nach rechts in die Wohnstube. In der Mitte der linken Wand befand sich ein Vorhang, hinter dem Kuznov die Kochnische vermutete. Hinten links sah er eine offene Tür zu einem Raum und konnte ein großes Bett mit wuchtigen schweren Kissen erkennen. Er sah sich im Wohnraum um, der, wie bei vielen alten Leuten, nicht gerade mit den modernsten Möbeln ausgestattet war. Nur wenige konnten sich eine chicke Einrichtung leisten, Rentner schon gar nicht. Aber diese waren nicht einfach nur alt, sie schienen so betagt wie die Greisin selbst zu sein. Klobige Sessel, ein hoher Tisch, ein mächtiger Schrank mit eingestaubten Büchern und vielen vergilbten schwarz-weiß Aufnahmen, machten das Zimmer eng und trotz des großen Fensters an der Stirnseite drang nicht genug Licht durch die schweren Vorhänge, um den Raum ausreichend zu erhellen. Wo ein Sonnenstrahl sie durchdrang, sah man Staubpartikel tanzen und alles roch ein wenig muffig.
Kuznov konnte Grinkova erst gar nicht erkennen. Die Alte schien mit den Schatten zu verschmelzen. Doch nachdem sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, sah er sie rechts in einem groben großen Sessel sitzen. Sie wirkte jetzt noch geisterhafter.
»Also,