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und verstaute es im Portemonnaie.

      „Gute Besserung dann“, wünschte sie ihm, doch bevor sie um die Hausecke herum verschwinden konnte, hielt er sie auch diesmal mit einer Frage zurück.

      „Liefern Sie eigentlich immer aus?“

      Anna zuckte mit den Schultern.

      „Wir sind ein kleiner Betrieb“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Die Antwort schien ihm zu genügen, denn er nickte, und Anna glaubte noch einmal die Anzeichen eines Lächelns erkennen zu können, bevor sie sich endgültig abwandte und ging. Ihr Vater würde bereits mit fertigen Bestellungen auf sie warten.

       3. Tag

      „Der nächste Tag war wieder ein Sonntag und die Raupe fraß sich durch ein grünes Blatt…“, deklamierte Marit mit gelangweilter Stimme, während sie sich tatsächlich ein kleines Fitzelchen von einem Salatblatt in den Mund schob, das ihr zuvor vom Brötchen gefallen war. Sie hatte wieder ihren Platz auf der Fensterbank eingenommen und starrte auf die im herrlichsten Frühlingssonnenschein daliegende Straße hinunter.

      „Es ging ihr nun viel besser, sie war auch nicht mehr klein...“

      „Marit lass das, ich kenne das Buch genauso auswendig wie du“, wurde sie von Anna unterbrochen, die auf dem Sofa lag und las, doch Marit wollte sich unterhalten und außer Anna war dazu niemand in der Nähe.

      „Es ist zum Auswachsen, so langweilig“, klagte sie, „ich glaube, ich gehe gleich in den Park.“

      „Ich langweile mich nicht“, betonte Anna kurz angebunden.

      „Schon klar“, meckerte Marit, „das sehe ich. Dann muss ich wohl alleine gehen.“

      „Ist sowieso besser“, antwortete Anna beiläufig, „sonst treffen wir nachher jemanden und gelten dann gleich als Zusammenrottung.“

      Marit schaute wieder nach unten auf die Straße und spürte die Unruhe in sich aufsteigen, die sie schon den ganzen Morgen umtrieb, ohne dass ihr ein Mittel einfiel, wie sie sie besänftigen konnte. Sie seufzte.

      „Wir sind keine Rotte“, sagte sie träumerisch, „Wir sind zarte, geflügelte Wesen, die sich schwerelos durch die Straßen bewegen. Ich bin eine grüne Elfe und du eine blaue. Ich weiß nicht, was du kannst, aber ich kann mit Pflanzen sprechen, sie klagen mir ihr Leid und ich heile mit Feenstaub ihre Wunden.“

      „Gerade hast du noch eines ihrer Blätter angenagt, um dich satt zu fressen“, entgegnete Anna nüchtern, doch Marit liebte es, Traumbilder zu erfinden und ließ den Einwand nicht gelten.

      „Das war in einem früheren Leben, vor der Verwandlung. Die Blumen haben mich ernährt, mich groß und stark gemacht, und jetzt gebe ich es den Pflanzen zurück, ich bedanke mich für ihre Güte. Sieh dir die Sonne an, die will uns endlich hinauslocken in die Natur, damit wir Gutes tun können!“

      Mit einem lockenden Kopfnicken in Richtung Sonnenschein, der sich in den gegenüberliegenden Fenstern spiegelte, versuchte Marit ihre Freundin vom Sofa zu locken, doch Anna reagierte nicht.

      „Hast du dir schon einmal Gedanken über das Leben in einem Kokon gemacht?“, unternahm Marit einen neuen Versuch und Anna seufzte.

      „Nein, eigentlich nicht“, antwortete sie dann, während vor ihrem inneren Auge das Bild der weißvermummten Corona-Patienten aufstieg, das sie sogleich wieder zu verscheuchen versuchte.

      „Aber ich denke, da ist man allein und hat seine Ruhe. Erstrebenswert.“

      „Hör‘ auf so genervt zu tun, ich meine das ernst“, betonte Marit und brachte Anna dazu, ihr Buch beiseite zu legen.

      „Ich glaube nämlich, dass wir uns gerade in einem Kokon befinden, eigentlich machen wir jetzt alle eine Art Metamorphose durch. Durch die Isolation, durch die Einsamkeit verwandeln wir uns. Jeder hat nur noch sich selbst zum Betrachten, kein ärgerliches Gegenüber lenkt von der eigenen Problematik ab, jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen.“

      Marit schloss für einen kurzen Moment die Augen, und spürte der Leichtigkeit ihres Gedankenflusses nach. Sie war davon überzeugt, die menschenleere Straße habe dieses Gefühl der Schwerelosigkeit in ihr geschaffen, das sie beflügelte und so beharrlich nach draußen zog. Ihre Seele verlangte danach, es auszuprobieren und einen Flug zu wagen.

      „Ich jedenfalls fühle mich verwandelt, ich habe das Gefühl, als wären die ganzen Sorgen, die mich vorgestern noch völlig erledigt haben, von mir abgefallen, nein, als hätten sie sich einfach in Luft aufgelöst, weil viele andere Dinge auf einmal so viel wichtiger sind.“

      Marit hatte mit fast pathetischer Stimme gesprochen, so eindringlich, dass Anna etwas alarmiert war. Der Glaube an die märchenhaften Seiten des Lebens war in der Regel immer ihr Terrain gewesen. Marit war zwar sehr gut darin, Traumwelten zu erschaffen, hatte aber noch nie Anzeichen erkennen lassen, selber darin wohnen zu wollen.

      „Und welche Dinge sollten das sein?“, fragte Anna sie, doch Marit zuckte die Achseln.

      „Ich weiß es nicht, meine Seele ist ein jungfräulich weißes Blatt Papier. Aber irgendetwas liegt in der Luft, ich spüre es.“

      Anna zuckte die Schultern.

      „Ich glaube, zur Metamorphose gehört nicht nur Einsamkeit, sondern vor allem eine Überreife, ein Sich-überlebt-haben einer Daseinsform, aus der etwas Neues erwachsen muss, weil es sonst verfault und abstirbt.“

      Sie wählte absichtlich drastische Worte, die ihr nur selbst einen gewissen körperlichen Schmerz verursachten, um Marit auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

      „Und zur Verwandlung gehört die Enge der Puppe, und die sehe ich hier überhaupt nicht.“

      Marit schwieg. Ihr seelischer Höhenflug war für einen kurzen Moment unterbrochen, aber der innere Drang, hinauszustürmen und mit weit ausgebreiteten Armen die Straße entlangzurennen, war geblieben.

      „Was ist mit deinen Neurotikern? Noch am Freitag gab es für dich nichts Wichtigeres auf der Welt“, legte Anna noch einmal nach, und brachte Marit damit ein wenig in Verlegenheit.

      „Das ist es ja“, antwortete sie, „Sie sind mir plötzlich völlig egal und ich habe nicht die geringste Lust, morgen zur Arbeit zu gehen. Die ganze Welt steht Kopf und ich soll weiter an meine Psychos denken, das geht irgendwie nicht. Ich möchte in die Sonne, in die Wärme, ich möchte fliegen.“

      Sie hatte sich von der Fensterbank erhoben und ging einige Schritte in Richtung ihres Zimmers, durch dessen weit geöffnete Tür das Sonnenlicht aufs Parkett fiel. Die Spitze dieses Sonnenflecks lag neben dem Sofa und Marit tippte mit ihren nur in bunten Wollsocken steckenden Füßen darauf. Dann stellte sie sich auf das Lichtfeld und formte mit den Füßen das V seiner Spitze nach. Sie schien nun nicht mehr das Ende, sondern der Ausgangspunkt des Lichtes zu sein. Nachdem sie ihre Arme einige Male langsam um ihren Kopf hatte kreisen lassen, die Finger weit gespreizt als seien es Flügel, ging sie entschlossen zur Garderobe, um ihre Jacke zu holen.

      „Ich gehe raus. Solange wir keine Ausgangssperre haben, kann es mir ja keiner verbieten.“

      Anna winkte ihr zu, als sie ging. Sie war sich sicher, dass Marit, sobald sie morgen im Birkenhain mit ihren Besuchern zu tun hatte, ihre Sozialarbeit wieder für die wichtigste Sache der Welt halten würde. Aber die quälende Verdammung zum Nichtstun, so vermutete sie, musste für Nichtleser wirklich der Horror sein. Sie fragte sich, was sie in diesen Tagen ohne Bücher tun würde und ihr fiel nur wenig ein.

      *

      Marit wanderte durch die Frühlingssonne bis zum Park, doch die Sonne wärmte noch längst nicht so stark, wie sie von ihrem Fensterplatz aus vermutet hatte. Es saßen nur wenige Menschen auf den Bänken in der Sonne, dazwischen patrouillierten zwei Polizeibeamte zu Fuß, deren Aufgabe es war, größere Menschenansammlungen notfalls auseinanderzutreiben, und die bei aller Ernsthaftigkeit ihrer Aufgabe doch vor allem die frische Luft zu genießen schienen.

      Marit fror im kalten Ostwind.

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