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verstummte jedes Gespräch. Alle blickten sie groß an. Anna, die auf eine solche Reaktion nicht gefasst war, schaute sich schüchtern um, unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Sie befand sich in einer altmodisch eingerichteten Gaststätte, wie sie es von Fotos aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kannte. An der gegenüber liegenden Seite des Raumes war die Theke hinter der eine junge Frau, die ungefähr in ihrem Alter war, stand. Sie war auch die Erste, die ihre Sprache wiederfand. „Guten Abend“ Sie hatte ein sympathisches, hübsches Gesicht, lange rote Locken, die sie zu einem wilden Dutt zusammengesteckt hatte und leuchtend grüne Augen. Ihr Gesicht war über und über mit Sommersprossen bedeckt. „Kann ich Ihnen helfen?“ Anna wusste nicht genau, was sie sagen sollte. Eigentlich sollte sie ja abgeholt werden. Dummerweise jedoch hatte ihre Tante kein Telefon, sie konnte also niemanden auf der Ritterburg erreichen. Die fragenden Blicke der jungen Frau hinter dem Tresen ignorierend, kramte sie noch einmal aufgeregt den Brief aus ihrer Handtasche. Es war ein eigenartiges Schreiben auf geschöpftem Papier, überzogen von einer altmodischen, verschnörkelten Handschrift, das ihr ihre Tante vor ihrer Abreise hatte zukommen lassen. Nein, wirklich nichts. Nur die Adresse der alten Ritterburg. „Ist alles in Ordnung?“ Die Stimme der jungen Frau hinter dem Tresen klang nun wirklich besorgt. Anna schreckte hoch, zu tief saß ihr noch das gerade im Zug Erlebte in den Knochen. „Ja, sicher. Es ist nur…ich will eigentlich zur alten Ritterburg, zu meiner Tante, Adele von Rittertal. Ich bin eben mit dem Zug angekommen. Jemand sollte mich abholen, doch am Bahnhof war niemand. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?“ So viele Ritterburgen würde es hier ja wohl nicht geben. „Sicher. Wir haben oben ein paar Gästezimmer, Sie können gerne über Nacht bleiben und sich morgen auf den Weg machen.“

      Mittlerweile war Anna bis zur Theke gegangen und hatte sich auf einen der Barhocker gesetzt. „Nein, nein, das ist gar nicht nötig. Ich gehe, wenn es sein muss, heute Abend noch zu Fuß dahin. Zuhause habe ich mir das auf einer Karte im Internet angeschaut, so weit ist das ja gar nicht. Leider habe ich sie mir nicht ausgedruckt, weil ich ja davon ausgegangen bin, dass ich abgeholt werde.“ Die Frau blickte Anna erschreckt an. „Das sollten Sie lassen! Nachts allein durch den dunklen Wald…“ - „Aber das ist doch ein kleiner beschaulicher Ort.“ Anna verstand die Frau nicht ganz. Was sollte in so einer abgelegenen Region denn schon passieren? Aber die Frau schaute nur noch erschreckter drein und griff nach einer Tageszeitung, die achtlos neben Anna auf dem Tresen lag. Bevor sie sie jedoch wegziehen konnte, hatte Anna mehr aus Neugierde zugegriffen. „Tote im Wald von Rittertal“ stand dort in Großbuchstaben. Rittertal. Das war doch der Name dieses Dorfes. Fragend blickte sie die junge Frau an. „Das ist doch hier, oder?“ Die junge Frau lächelte gequält. „Ja, das ist hier. Vor ein paar Tagen wurde hier im Tal die Leiche einer jungen Frau aus dem Ort gefunden. Wir alle kannten sie gut, ich bin mit ihr aufgewachsen.“ Anna war geschockt. „Hat man schon eine Spur vom Mörder?“ - „Nein, leider. Sie war übel zugerichtet. Ihre Kehle war ganz zerfetzt. Wer macht nur so was?“

      Jetzt mischte sich ein Gast aus dem Schankraum ein. Es war ein Mann mittleren Alters mit beginnender Kopfplatte und leichten Geheimratsecken. „Wer? Wohl eher was! Ein Tier natürlich. Was sonst sollte sofort an die Kehle gehen?“ Die junge Frau sah verärgert und zugleich besorgt aus, sagte aber nichts. Aber der Mann setzte nach, beugte sich zu ihr vor und fragte mit einem süffisanten Lächeln: „Oder glaubst du etwa an Vampire?“ Das letzte Wort hatte er regelrecht geflüstert und brach nun in schallendes Gelächter aus. Seine Kumpanen stimmten mit ein, prosteten sich gegenseitig mit ihren Bierkrügen zu. Bei dem Wort Vampire war die junge Frau regelrecht zusammengezuckt, dabei musste sogar Anna bei der Bemerkung des Mannes über Vampire grinsen. Versöhnlich lächelnd richtete sie sich wieder an die junge Frau hinter dem Tresen. „Vielleicht sagen Sie mir einfach den Weg zur Ritterburg? So spät ist es ja noch nicht. Im Internet wirkte es auch gar nicht so stark bewaldet. Mir passiert bestimmt nichts.“ Die junge Frau setzte gerade zu einer Antwort an, als der Mann von vorhin sie schon unterbrach. „Einfach die Hauptstraße runter. Dann kommen Sie direkt auf den Wald zu. Da bleiben Sie auf dem Weg, der ebenfalls gerade durchführt. Das können Sie gar nicht verfehlen.“ Anna dankte und verließ die Kneipe.

      Mit weit ausholenden Schritten marschierte sie los. Schon nach ein paar Minuten war sie aus dem Ort raus und tauchte in den dichten dunklen Wald ein. Es war so dunkel, dass sie bereits nach ein oder zwei Minuten kaum noch ihre Hand vor Augen sehen konnte, geschweige denn den Weg vor ihrer Nase. Blind lief sie weiter und wurde allmählich nervös. Die Geräusche der Nacht taten ihr Übriges. Jedes Knacken oder Rascheln jagte ihr unangenehme Schauer über den Rücken. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, allein durch den Wald Richtung Burg zu laufen? Sie war schon eine gefühlte Stunde unterwegs, als sie dicht neben sich ein tiefes Knurren hörte. Anna blieb wie angewurzelt stehen. Wieder ertönte das Knurren, diesmal ganz dicht hinter ihr. Anna schluckte. Panik stieg in ihr auf und ließ sie ihren Entschluss, allein bei Nacht durch diesen unbekannten Wald zu laufen, bereuen. Langsam drehte sie sich um. Ein paar leuchtend blaue Augen starrten sie an. Riesige Reißzähne ragten aus einem muskulösen starken Kiefer. Das tiefe Knurren ertönte wieder. Es war der Wolf, der Wolf aus dem Zug!

      Es war ein ungewöhnlich großes Tier, dessen gefährlich blitzende Augen wachsam auf Anna ruhten. Lauernd und mit gefletschten Zähnen begann der Wolf nun sie zu umkreisen. Anna war wie gelähmt, zu keiner Regung fähig. Angsterfüllt starrte sie auf diesen massiven Körper, dessen Muskeln sich nun anspannten. Ein Frösteln erfasste ihren Körper - trotz der milden Temperaturen des ungewöhnlich warmen Oktoberanfangs. Ihr wurde immer kälter, sie begann mit den Zähnen zu klappern. Nebelschwaden zogen auf, bald so viele, dass ihre Umgebung kaum noch wahrnehmbar war. Anna verharrte in Angst, darauf gefasst, dass der unheimliche Wolf jeden Moment zum Sprung ansetzen und ihre Kehle zerfetzen würde. Die junge Frau fiel ihr ein, die man ganz hier in der Nähe tot im Wald gefunden hatte. Wie hatte der Mann gesagt, es sei nur ein Tier gewesen? Nur ein Tier? Aber ein verdammt Tödliches, wenn man ihm so ausgeliefert war wie Anna jetzt. Aber das Erstaunliche geschah. Der Wolf zog sich zurück. In einer unterwürfigen Haltung wich er wimmernd vor den immer dichter werdenden Nebelschwaden zurück und war mit vier, fünf Sätzen ganz in der Dunkelheit des Waldes verschwunden.

      Anna blieb schweißüberströmt und zugleich zitternd zurück. Unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, stand sie allein auf dem dunklen einsamen Waldweg, als eine Berührung an der Schulter sie aufschreien und herumfahren ließ. Vor ihr stand ein junger Mann. Groß und breitschultrig hatte er sich hinter ihr aufgebaut, seine smaragdgrünen Augen schauten sie mit einem undefinierbaren Blick an. Angsterfüllt betrachtete Anna ihn. Er hatte markante Gesichtszüge, dunkelblonde Locken, die ihm locker auf die Schultern fielen. „Sie sollten nicht allein im Wald umher laufen.“ In seiner Stimme klang ein leichter Tadel mit. „Die Nacht ist bereits hereingebrochen.“ Annas Kehle war wie zugeschnürt. Sie musste mehrmals schlucken, bevor sie in der Lage war, zu antworten. „Was war das?“ Sie hörte wie ihre Stimme zitterte. „Ein Wolf. Wie ich schon sagte, Sie sollten nicht mehr um diese Zeit im Wald unterwegs sein.“ - „Aber ich wollte doch nur meine Tante besuchen, die auf der Ritterburg lebt. Eigentlich wollte sie mich abholen lassen, aber es ist niemand gekommen.“

      Der junge Mann zog kritisch eine Augenbraue hoch. „Und da sind Sie nicht auf die Idee gekommen, sich ein Zimmer für die Nacht zu nehmen? Eigentlich müssten Sie am Gasthaus vorbei gekommen sein, als Sie in den Wald gingen. Es befindet sich direkt an der Hauptstraße.“ Fragend schaute er Anna an. Unter seinem leicht belustigten, leicht tadelnden Blick begann diese, sich allmählich unwohl zu fühlen. Dem entsprechend genervt rollte Anna die Augen, bevor sie antwortete. „Ich habe nicht gedacht, dass mir etwas passieren könnte. Ich wusste doch nicht, dass hier wirklich so ein gefährliches Tier herumläuft, das vielleicht auch die junge Frau getötet hat, die man vor einigen Tagen gefunden hat…“ Amüsiert betrachtete der junge Mann sie. „Ach, Sie haben also von der Toten gehört und die Gefahr einfach nicht ernst genommen?“ Anna spürte wie sie rot anlief. „Vielleicht nehmen Sie die Gefahr jetzt ernst genug und lassen sich von mir sicher zur Burg Rittertal geleiten?“ Mit einem schelmischen Grinsen bot er ihr seinen Arm an. Die Art wie er das sagte ließ keinen Widerspruch zu. Seine Stimme hatte etwas Zwingendes. Ohne dass sie sich groß wehren konnte, fügte Anna sich. Eingehakt ließ sie sich von ihm zur Ritterburg ihrer Tante bringen.

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