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       Nun jedoch ist es zu spät dazu, jetzt kann ich nur noch darauf hoffen, dass Du die richtige Wahl triffst. Schlag das Erbe aus und pfeif auf das Geld. Dass Du mütterlicherseits noch eine Familie hast, solltest Du ebenfalls vergessen, auch verrate niemals jemandem, dass Deine Mutter eine geborene von Rittertal ist. Flieh meine Tochter, flieh, solange Du noch kannst!

      

      

       Deine Dich liebende Mutter

      Stumm starrte Anna auf das vergilbte Papier. Das hatte sie nicht erwartet. Ihre Mutter hatte diesen Brief vor über 20 Jahren geschrieben. Offenbar war sie in großer Furcht vor ihrer Familie. Eine Familie von deren Existenz Anna bisher nichts geahnt hatte. Wenigstens wusste sie nun, warum sie zeitlebens immer wieder umgezogen waren. Dieses rastlose Dasein hörte erst auf, als sie ausgezogen war um ihre Ausbildung zur Buchhändlerin zu absolvieren.

      Mit einem tiefen Seufzer lehnte sie sich zurück. Das Geld konnte sie schon gebrauchen. Einen Versuch war es wert. Falls es ihr nicht gefiel, konnte sie immer noch zurück nach Berlin gehen. Trotzdem war ihr mulmig zumute. Warum hatte ihre Mutter all diese Entbehrungen auf sich genommen? Sie wurde nicht wirklich schlau aus ihren Zeilen. Doch handelte es sich um zu viel Geld, als dass sie den Versuch ungenutzt lassen würde. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck teilte sie dem Notar ihre Entscheidung mit, alles Notwendige zu veranlassen und verließ die Kanzlei in Richtung Bahnhof, um sich eine Zugfahrkarte zu ihrem neuen Zuhause zu kaufen.

      2. Ankunft in Rittertal

      Die Ritterburg befand sich in einer ziemlich einsamen Gegend, die von Berlin nicht leicht zu erreichen war. Dreimal war Anna während der fünfstündigen Zugfahrt bereits umgestiegen. Jetzt saß sie in einer alten Bummelbahn, die sie endlich an ihr Ziel bringen sollte. Das Dorf Rittertal. Es war eine verschlafene 400 Seelen Gemeinde, die versteckt in einem tiefen, bis heute unzugänglichen Tal lag und von einem großen Waldgebiet umringt war. In diesem Wald befand sich die Burg Rittertal. Eine ziemlich große Burganlage, in der es jedoch bis zum heutigen Tage weder Strom noch fließend Wasser gab. Ob sich das auch auf das übrige Dorf bezog wusste Anna nicht, bezweifelte dies aber, obwohl die Lage des Dorfes schon recht einsam war. Bis heute führten nur eine Zugstrecke und zwei sandige Straßen hinein bzw. hinaus. Ein Zustand, der die Gemeinde gerade in heftigen Wintern oft wochenlang von der Außenwelt abschnitt. Eine Zugverbindung gab es nur zweimal am Tag, morgens und abends.

      In dem so genannten Spätzug saß Anna gerade und überflog immer wieder die Zeilen ihrer Tante, mit denen sie ihre bislang unbekannte Nichte willkommen geheißen und ihr angeboten hatte, sie bei ihrer Ankunft am Bahnhof Rittertal abzuholen. Anna hatte den Brief kurz vor ihrer Abreise über ihren Notar erhalten. Ihre Tante hatte den Brief nicht an die Privatadresse ihrer Nichte geschickt, sondern an den Notar, der seinerseits alles an Anna weitergeleitet hatte. Zuerst hatte sie es als unsinnig empfunden, nachdem der Notar die Familie ihrer verstorbenen Mutter von der Annahme des Erbes durch Anna informiert hatte, die weitere Korrespondenz noch über die Kanzlei laufen zu lassen. Doch der Notar hatte sie überzeugt, erst mal alles weiterhin über ihn abzuwickeln. Im Nachhinein betrachtete Anna seine Einwände sogar als nicht unbegründet. Selbst wenn der Brief ihrer Tante freundlich klang und sie wirklich willkommen war, konnten weder der Notar noch sie selbst die Furcht ihrer Mutter vor ihrer Familie und deren düsteren Geheimnissen leugnen. Was auch immer ihre Mutter damals aus Rittertal vertrieb, es schien so bedrohlich zu sein, dass sie es Zeit ihres Lebens fürchtete. Sollte Anna auch irgendwann so empfinden, durch was auch immer ausgelöst, wäre es besser, wenn sie in ihre Heimat Berlin zurückkehren konnte, ohne dass man auf Burg Rittertal von ihrem genauen Aufenthaltsort in der Hauptstadt wusste. Berlin war groß mit seinen mehreren Millionen Einwohnern. Nur zu wissen, dass sie aus Berlin stammte würde etwaigen Verfolgern keine Hilfe sein.

      Aber vielleicht würde es ja gar nicht so weit kommen. Sie würde unvoreingenommen und offen diesem neuen Lebensabschnitt entgegen sehen und sich selbst ein Bild machen. Zufrieden mit diesem Entschluss schaute sie aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Es war Anfang Oktober. Jetzt, gegen neun Uhr abends, war draußen bereits alles von der Finsternis der Nacht überzogen, nur noch hier und da konnte sie die Schemen einer besonders großen Tanne oder eines einsam gelegenen Gebäudes ausmachen. So hing Anna eine ganze Weile ihren Gedanken nach, bis sie plötzlich zusammen zuckte. Mitten in der Dunkelheit waren plötzlich zwei leuchtende blaue Punkte aufgetaucht. Sie schienen dem Zug zu folgen und kamen dabei immer näher und näher. Anna dachte sich zuerst nichts dabei und beugte sich ein wenig weiter vor, um die Ursache der beiden Punkte besser erkennen zu können. Die Punkte bewegten sich ein wenig auf und ab und waren dabei sehr schnell. Bald würden sie den Zug erreicht haben. Noch ein kleines Stück, und Anna starrte fassungslos nach draußen. Sie konnte eindeutig den Schatten eines großen, struppigen Wolfes erkennen, dessen blaue Augen böse zu ihr in den Zug zu funkeln schienen. Das waren also die beiden leuchtenden Punkte! Erschreckt rutschte Anna ein Stück weit vom Fenster weg und schielte mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend nach draußen.

      Ein lautes Klopfen ließ Anna hochschrecken. Das Pochen wurde lauter. Die Stimme des Schaffners klang ungehalten durch die Tür zu ihr ins Abteil. „Wir sind gleich da! Bitte machen Sie sich zum Aussteigen bereit.“ Anna, die derart von der unheimlichen Aura des Tieres eingenommen war, brachte nicht einmal eine kurze Antwort zustande, sondern saß nur schweigend auf ihrem Platz und starrte hinaus. „Hallo! Haben Sie mich gehört? Der Zug hat nur zwei Minuten Aufenthalt in Rittertal!“ Mit einem lauten Quietschen wurde die altersschwache Abteiltür zur Seite geschoben und der Schaffner trat mit einem verdrießlichen Gesichtsausdruck ein. „Haben Sie gehört? Sie sollten schon mal Ihre Sachen zusammenpacken und sich zum Aussteigen bereit machen. Hallo? Wieso reagieren Sie denn nicht?“ Der Schaffner schien nun wirklich besorgt. Mit fragendem Gesichtsausdruck beugte er sich zu der immer noch aus dem Fenster starrenden Anna hinunter und folgte dann ihrem Blick.

      Was er dann sah ließ ihn zusammenzucken. Doch auch das bemerkte Anna nur am Rande, viel mehr nahm die Anwesenheit des Wolfes ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr folgte, nur an ihr interessiert war und sich nicht damit zufrieden geben würde, sie nur von außen zu beobachten. Als ob dieser Gedanke der Auslöser war, setzte der Wolf zum Sprung an. Anna erstarrte und beobachtete fassungslos jede seiner Bewegungen. Selbst als die Schnauze des Wolfes die Scheibe berührte und diese in tausend Stücke zerspringen ließ, war sie zu keiner Regung fähig. Hunderte kleinerer und größerer Splitter flogen in alle Richtungen. „Passen Sie auf!“ Beherzt griff der Schaffner, der ebenso wie Anna fassungslos aus dem Fenster gestarrt hatte, nach ihrem Jackenärmel und zog sie vom Fenster weg. Er selbst hatte ebenfalls seinen Kopf weg gedreht, schützend die Arme über sein Haupt geschoben und sich auf das Schlimmste eingestellt. Mit zusammengekniffenen Augen verharrten sie regungslos.

      Doch nichts geschah. Als sie vorsichtig aufsahen, war der Wolf verschwunden. Stattdessen strömte durch den fensterlosen Rahmen die kalte Nachtluft herein und ließ sie frösteln. Doch war es nicht nur die Kühle der Nacht, die ihre Körper mit einer Gänsehaut überzog. Noch etwas Anderes war mit der eisigen Nachtluft herein gekommen. Anna spürte es sofort, noch bevor sie es sah. An der Stelle, an der sich eben gerade noch der bedrohliche Umriss des massives Tierkörpers befunden hatte, war nun nichts weiter als eine schwarz-graue Nebelwolke. Eine klirrende Kälte breitete sich im Abteil aus. Die dunkle Nebelschwade verdichtete sich immer mehr zu einem bedrohlichen Schatten. Mit dem Wolf war etwas herein gekommen. Etwas, das Anna nicht wohlgesonnen war. Ihr war, als lege sich eine unsichtbare, eiserne Hand um ihren Hals. Sie konnte kaum noch atmen, war von einer solchen Angst erfüllt, wie sie sie nie zuvor in ihrem Leben verspürt hatte.

      Die Stimme des Fahrkartenkontrolleurs riss sie abermals aus ihren Gedanken. „Geht es Ihnen gut?“ Als Anna nur stumm nickte, schimpfte er los. „Verdammte Gören! Weiß der Teufel wie sie das wieder angestellt haben. Erst beschmieren sie die Züge und jetzt schlagen sie die Scheiben während der Fahrt ein!“ Kopfschüttelnd sah er sich um. „Was haben sie bloß geworfen? Können Sie irgendetwas finden?“ Mit der Fußspitze schob er einige der Glassplitter hin und her. „Haben

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