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um die „Gastarbeiter“ heran und wieder wegzukarren. Da dieser Zug, im Gegensatz zur S-Bahn, nonstop ab Berlin-Lichtenberg durchfährt und das erste Mal in Strausberg zum Stehen kommt, dafür nur knapp die Hälfte Fahrzeit benötigt, ist er bis zu dieser Station permanent überfüllt. Auch Koch hatte in seiner Studienzeit die Erfahrung machen müssen, Tag für Tag, dichtgedrängt, durchgerüttelt, üble Ausdünstungsgerüche ertragend, zur Universität zu fahren. Schließlich hatte er sich dafür entschieden, lieber eine Stunde früher aufzustehen, um die S-Bahn zu nehmen. Lieber stetiges Anhalten, als wie eine Ölsardine jede Ausprägung von Körperhygiene ertragen zu müssen. Im Gegensatz zur Bahn ist hier auf der Straße die Luft rein. Es ist zwar kalt, nass und ungemütlich, aber die Luft ist frisch. Als er den Eingang zum Bistro erreicht hat, klopft er sich die Winterpracht von den Sachen, drückt die Türklinke und tritt, laut „Merhaba“ rufend, ein. Der Gastraum ist leer, das „einzige Lebenszeichen“ ist der von der Decke hängende Fernseher, welcher während der gesamten Öffnungszeit permanent den Nachrichtensender NTV durchrattert, von Yasar Yücksel keine Spur. „Hallo Lieblingstürke“, ruft Koch lauter. Nur das Klappern von Geschirr ist aus dem angrenzenden Küchentrakt vernehmbar. Von dort aus erfolgt auch die Antwort: „Hallo Rechtsverdreher. Merhaba. Komme gleich.“ „Mach hinne, ich habe Hunger.“ „Hab heute lecker Fisch im Angebot!“, raunt es zurück. „Nee nee, lass mal gut sein. Mach wie immer!“ Jetzt erst kommt der Kopf des Freundes zum Vorschein: „Dönerplatte ohne Gemüse?!“ Falk nickt: „Genau, ohne Grünzeug. Hätte Gott oder Allah gewollt, dass ich als Karnickel auf die Welt komme, hätte er es auch so eingefädelt.“ Während Yasar sich mit dem überdimensionalen Messer an dem Spieß zu schaffen macht, nimmt Koch Platz und ruft ihm belustigt zu: „Wo ist eigentlich Alisha? Wenn die schneidet, habe ich immer mehr auf dem Teller!“ „Du hast gerade Grund, dich zu beschweren!“, kommt es zurück: „Sie ist zum Handelscenter. Uns sind die Tomaten ausgegangen.“ Der Junganwalt lacht: „Wie sich die Zeiten doch ändern. Ein türkisches Bistro ohne Tomaten!“ Ja, wie sich die Zeiten doch ändern! Aus der damals unscheinbaren Alisha ist unterdessen eine attraktive Frau geworden, die halbtags als Rechtsanwaltsgehilfin in Kochs Kanzlei arbeitete. Halbtags, mehr war nicht drin. Der Mangel an zahlungskräftigen Mandanten gab nicht mehr her. Den Rest des Tages und am Abend ging sie dann ihrem Vater im Bistro zur Hand. Ja, sie war eine richtige Augenweide. Der gesamte Kiez und auch Falk konnten nicht verstehen, wieso sie mit ihren achtundzwanzig Jahren noch immer keinen Partner gefunden hatte. Sie war nicht nur hübsch, sie war ausgeglichen, fröhlich und stets zum Scherzen aufgelegt. Manchmal wirkte sie etwas unnahbar und geheimnisvoll. Oft genug hatte Koch in Erwägung gezogen ihr den Hof zu machen, hatte aber jegliche Versuche unterlassen, trauerte wohl insgeheim seiner vor sieben Jahren verflossenen Liebe hinterher. Was er natürlich niemals zugeben würde, auch nicht vor sich selbst. Stattdessen durchbohrte er seine Angestellte lieber mit Blicken, wenn er sich sicher war, dass sie es nicht bemerkte. Registrierte sie es dennoch, lächelte sie, was ihm wiederum die Schamröte ins Gesicht trieb. Hatte sie insgeheim ebenfalls Gefühle für ihn? Er war sich nicht sicher. Oder war es einfach ein ähnliches Schicksal, das beide verband? 1988 war Yasar zusammen mit seiner damals hochschwangeren Frau aus der Türkei nach Deutschland umgesiedelt, versprach sich hier ein besseres Leben, fernab von der miserablen Situation in seinem Heimatland. Dann der einschneidende Schicksalsschlag. Seine Frau starb bei der Geburt Alisha. Trotz der schwierigen Situation schaffte er es, das kleine schreiende Bündel ins Erwachsensein zu führen. Kochs Mutter starb, als er sieben war. Der Krebs raffte sie einfach so dahin, ohne Vorwarnung, ohne Erbarmen, von einem Tag zum anderen. Er wusste also nur zu gut, was es bedeutete, wenn der weibliche Part einer Familie fehlte.

      Yücksel unterbricht seine Gedanken, als er mit Schwung und einem: „Guten Appetit! Im Halse soll es dir steckenbleiben …“ den Teller auf den Tisch stellte, sich einen Stuhl heranzieht und zu ihm setzt. Gerade in diesem Moment öffnet sich die Eingangstür und Alisha, völlig durchnässt, mit zwei prall gefüllten Einkaufstüten erscheint: „Man, ist das ein scheiß Wetter!“ „Hättest du ein paar Kinder in die Welt gesetzt und einen passenden Mann dazu, dann wäre der höchst wahrscheinlich Einkaufen gegangen und du wärst nicht mit weißem Pulverschnee überzogen!“ Alisha war der eigenartige Humor ihres Vaters nur zu gut bekannt, aber doch bitte nicht, wenn Er anwesend war! „Baba!“, protestierte sie lautstark. Und er? Er grinste. Peinlich! Schnellstens schickt sie sich an, mit ihren Tüten im Küchentrakt zu verschwinden, hört aber noch im Gehen, wie sich der Vater lachend an seinen einzigen Gast wendet: „Und was ist mit dir? Willst du sie nicht heiraten? Sie ist doch ohnehin schon den ganzen Vormittag bei dir. Du weißt, ich bin Traditionalist. Ich gebe dir ein Kamel, wenn du sie nimmst!“ „Baba!“, schallt es von der Küche und diesmal sehr energisch. Falk lacht: „Ich gebe ja zu, dein Angebot klingt verlockend. Ich muss dennoch ablehnen.“ Yücksel erwidert verwundert: „Erzähle mir nicht, dass sie dir nicht gefällt.“ „Doch. Aber…“ „Und kochen kann sie auch!“ „Alles gut, Yasar. Tolles Angebot. Bleibt nur die Frage, wie ich das Kamel ohne Flaschenzug in meine Zweiraumwohnung bekomme.“ Gerade will der Türke eine Lösung für dieses Problem präsentieren, als ein neuer Gast das Terrain betritt. Mit einem: „Guten Tag, Efendi Bruno. Ein Bier, wie immer?“, springt Yasar auf, eilt zum Kühlschrank, um das Gewünschte an den Tisch zu bringen. „Jetzt hat er ein anderes Opfer gefunden“, denkt sich Koch grinsend und macht sich daran, endlich seine Dönerplatte zu verspeisen. Ob sich Alisha in nächster Zeit zeigen würde, war fraglich.

      2. Kapitel

       § 140

       (1) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn…

       2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird.

       § 139

       Der als Verteidiger gewählte Rechtsanwalt kann mit Zustimmung dessen, der ihn gewählt hat, die Verteidigung einem Rechtskundigen, der die erste Prüfung für den Justizdienst bestanden hat und darin seit mindestens einem Jahr und drei Monaten beschäftigt ist, übertragen.

       (Strafprozessordnung der Bundesrepublik Deutschland, Stand 08.05.2015)

      Koch war ein Kaffeejunkie. Er war in der Lage, täglich literweise den schwarzen Muntermacher in sich hinein zu kippen. Es war nicht sein Ziel, sich damit aufzuputschen. Nein, das Heißgetränk schmeckt ihm einfach, am besten einen Pott zu jedem Tagesabschnitt. Wahrscheinlich hatte sein Körper sich bereits derart daran gewöhnt, dass ihm der Kaffeegenuss keine Minute Schlaf rauben konnte. Am liebsten trank er ihn schwarz, also ohne „Zusätze“ und so stark als möglich. Jeder andere hätte wohl bei seiner Dosierung der schwarzen Brühe Gift und Galle gespien, aber nicht er! Und eines stand für ihn außer Frage, den besten Kaffee kochte Alisha. Regelmäßig schleppte sie unaufgefordert Tasse für Tasse aus dem Vorzimmer in sein Büro, um sie dann mit einem kopfschüttelnden Lächeln und einem wohl gemeinten „Eines Tages bekommst du von dem Zeug einen Herzinfarkt“ auf seinen Schreibtisch zu stellen. Mit einem: „Glaub ich nicht ...“, lächelte er dann gewöhnlich zurück. Dieses Prozedere wiederholte sich so oft, dass es schon langsam eine Art Kultstatus annahm. Es klopft an der Tür und Alisha steckt ihre schwarze Wuschelmähne zur Tür herein. „Jetzt übertreibst du es aber! Alle zehn Minuten, das schaffe noch nicht mal ich!“, quittiert er. „Du hast Besuch.“ Koch verzieht leicht das Gesicht: „Hättest du nicht einen Termin machen können? Du weißt doch, dass ich diese blöde Bilanz hier fertigkriegen muss! Morgen kommt der Müller. Der will den Scheiß hier abholen und ich habe gerade mal die Hälfte fertig.“ „Glaube mir, dieser Besuch wird dich interessieren …“, flüstert sie leise und fügt hinzu: „Herr und Frau Hohmann!“ Er sieht sie mit starrem Blick an. „Siehst du, sage ich doch, dass dich das interessieren wird. Soll ich sie reinbitten?“, erwidert sie, mit einem leicht bitteren Unterton. Alisha kannte die Wartenden, zwar nur aus Erzählungen und das auch nur wenig, aber immerhin wusste sie, dass es sich um die Eltern seiner großen Liebe handelte. Koch nickt stumm. So stark wie die Neugier auf diesen Besuch auch sein mag, die Gedanken an die Vergangenheit schießen in diesem Moment wie Blitze durch den Kopf. Plötzlich ist seine Erinnerung wieder da, diese Sehnsucht, die er doch so quälend langsam aber mit wachsendem Erfolg bekämpft hatte. Sonja. Seine Sonja. Im inneren Zeitraffer

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