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und schwankt zielstrebig auf die kleine Eingangstür mit der Nummer 11 zu.

      Die kleine Biergaststätte mit erweitertem Imbissangebot, als „Probierstube“ oft im Osten betitelt, wird seit Jahren von dem Ehepaar Gisela und Andreas Klappstock betrieben. Zu Vorwendezeiten als Geheimtipp gehandelt, hatte die Destille wesentlich bessere Zeiten erlebt. Kurz nach dem Mauerfall hatte man begonnen, die angrenzenden Hackeschen Höfe zu sanieren. Seither werden diese immer mehr zum Publikumsmagnet. Quasi im Minutentakt hielten die Reisebusse, die Touristen fielen scharenweise in das Areal ein. Von den wenigen Einheimischen, die es sich trotz explodierender Mieten leisten konnten zu bleiben, wurden die Besucher nur belächelt. Es sind eben nur dumme „Touris“, die sich dort ein Schnitzel mit Brot für knapp zwanzig Euro leisteten. Dabei lag das Gute doch so nah. Ein Schnitzel mit Brot bot er für einen Fünfer an. Aber die „Probierstube“ grenzte eben nur an, und jeder Tourist konnte folglich den Nachbarn zuhause berichten: Ich war schon mal Essen, in den Hackeschen Höfen!

      Das Ehepaar Klappstock kämpfte dagegen jeden Tag aufs Neue ums Überleben ihres kleinen Unternehmens. So auch jetzt, wo sich um diese Zeit noch ganze zwei Gäste in der Gaststätte aufhalten, die sich aber schon in Aufbruchstimmung befinden. Gisela steht hinter dem Tresen und poliert mit Hingabe ihre Gläser, während ihr Gatte bereits die hinteren Holztische mit einem feuchten Tuch bearbeitet, als um exakt 01.57 Uhr die Eingangstür sich öffnet und Horst Schulze seinen Kopf in den Gastraum steckt. Weiter jedoch kommt er nicht, Giselas forsche Stimme schallte ihm sofort entgegen: „Nee, Hotte. Bleib mal, wo du bist! Bei uns heute nicht mehr!“ Zur Bekräftigung ihrer Worte schickt sie noch ein energisches Andreas hinterher. Der Angesprochene reagiert sofort, lässt seinen Lappen Lappen sein, bewegt sich schnellen Schrittes zur Eingangstür und drängt Schulze mit den Worten: „Geh mal schön nach Hause, Hotte!“, wieder auf die Straße. Der lässt es sich widerspruchslos gefallen. Die Wirtsleute schauen ihm nach, wie er etwas hilflos die Sophienstraße hinauftorkelt. „Man, wer den so abgefüllt hat, müsste eigentlich eins in die Schnauze kriegen! Unverantwortlich. Tiefer kann man doch schon fast gar nicht mehr sinken“, konstatiert Andreas. Seine Frau pflichtet ihm, mit leicht schwärmerischen Unterton, bei: „Ja. Wenn man bedenkt, was das Mal für ein Mann war.“ „Was soll ‘n das heißen?“ „Natürlich nur, wenn ich dich kurz ausklammere …“, lächelt sie und geht wieder zurück in den Gastraum. Er folgt ihr, leicht verunsichert.

      02.10 Uhr

      Für die letzten fünfzig Meter benötigt Horst Schulze zehn Minuten. Endlich hat er den rekonstruierten Altbau mit der Nummer 24 gegenüber der Sophienkirche erreicht. Krampfhaft versucht er, den Haustürschlüssel in das Schlüsselloch zu bugsieren. Schließlich gelingt es ihm irgendwie. Nun liegen noch drei Etagen vor ihm. Achtundvierzig Stufen. Schulze hatte sie irgendwann mal gezählt. Angestrengt zieht er sich am Treppengeländer hoch. Noch eine Etage! Plötzlich stutzt er. Er steht auf dem Hausflur der zweiten Etage. Bei der Wohnung, die sich genau unter der seinen befindet, steht die Eingangstür offen. Schulze weiß, dass diese Wohnung von einem jungen Pärchen bewohnt wird. Sicherlich haben die gefeiert und gar nicht bemerkt, dass die Tür offensteht. So allerdings ist sie zu einladend für jeden Einbrecher. Es wäre ein Leichtes, die Tür ins Schloss zu ziehen, doch in seinem Rausch entscheidet sich Schulze für etwas Anderes. Zuerst klingelt er zwei Mal, dann klopft er und ruft dabei die Namen der beiden Bewohner. Er bekommt keine Antwort, worauf er den Vorgang noch einmal, diesmal etwas lauter, wiederholt: „Sonja? Habib?“. Als erneut keine Reaktion kommt, steckt er den Kopf durch die Tür. Die Wohneinheiten des Hauses sind alle gleich geschnitten. Der Eingang, dann gegenüber das Schlafzimmer, ein kleiner Flur, der auf der linken Seite, also mit dem Fenster, zur Straßenseite das zweite Zimmer umschließt. Rechts, also mit der Fensterfront zum Hof, liegt die Küche und dann, am Ende des Flurs, ebenfalls hofseitig, befindet sich das Badezimmer. Ein schmaler Strahl aus der angelehnten Badtür ist die einzige Lichtquelle, die wenigstens etwas „Orientierungsbeleuchtung“ für den Flur spendet. Ein weiteres Mal ruft Horst Schulze die Namen der Bewohner, dann betritt er die Wohnung. Sein Ziel ist der Lichtpunkt, der leichte Schatten auf den dunklen Flur projektiert, vorbei an der kleinen Flurgarderobe, deren Schrank offenstehende Schubladen offenbart. Der Inhalt ist über den Fußboden verstreut. Schulze öffnet die Badezimmertür und schaut hinein. Sein Gesicht wird bleich, sein Augenpaar starrt auf den Boden. Er taumelt rückwärts, tastet nach der Wand im Flur. Das Gesehene und sein Zustand ergeben eine unheilvolle Allianz – er sinkt zu Boden. Auch im Liegen kann er den Blick nicht abwenden. Endlich begreift er die Situation. Mühevoll rappelt er sich auf. Er will nur weg. Einfach weg.

      02.30 Uhr

      Die Glocke des Kirchenturms der gegenüberliegenden Sophienkirche läutet einmal. So, wie sie es zu jeder halben Stunde tut.

      1. Kapitel

       § 242 Diebstahl

       (1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Fremden rechtswidrig zueignet, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

       (2) Der Versuch ist strafbar.

       § 243 Besonders schwerer Fall des Diebstahls

       (1) In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter…

       4. aus einer Kirche oder einem anderen der Religionsausübung dienenden Gebäude oder Raum eine Sache stiehlt, die dem Gottesdienst gewidmet ist oder der religiösen Verehrung dient.

       (Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland, Stand 08.05.2015)

      Nicht ein einziger Platz ist frei, der Saal scheint zu bersten. Selbst auf die Gänge haben sie sich gesetzt. Kein Wunder, hier geht es um was! Angeklagt ist ein altes Mütterchen namens Alisha Yücksel. Der Tatbestand ist eher geringfügig. Diebstahl, eigentlich nicht der Rede wert, Routine. Hier kommt nun aber noch hinzu, dass es sich um eine Wiederholungstat handelt. Und erschwerend - um den Diebstahl einer Kirchenkollekte. Außerdem ist es die letzte große Verhandlung vor dem Showdown. Vorn thront der Prozessvorsitzende, der ehrwürdige Doktor Hunscha. Der Staatsanwalt hat sein Plädoyer beendet, das Strafmaß gefordert und nimmt nun hinter seinem Tisch Platz. Ohne eine Miene zu verziehen, anscheinend völlig emotionslos, nickt Hunscha ihm zu, fährt sich mit seiner Hand über die Halbglatze, rückt seine Brille zurecht und macht sich mit seiner markanten, tief rauchigen Stimme bemerkbar: „So, Herr Verteidiger und nun Sie!“ Betont langsam erhebt dieser sich und wirft dabei noch einmal einen flüchtigen Blick auf das Mütterchen. Die sitzt da und grinst. Ungeheuerlich! Dabei hatte er ihr doch eindrücklich aufgetragen, ein ernstes Gesicht aufzulegen, ab und zu verlegen am Kopftuch zu zupfen und vor allem den Blick eines reuigen Hundes durchscheinen zu lassen. Aber das Mütterchen grinst, so wie alle anderen im Saal, mit Ausnahme Hunschers. Falk Koch holt noch einmal tief Luft, dann beginnt er: „Werter Herr Vorsitzender, werter Herr Staatsanwalt. Wir haben die Ausführungen der Staatsanwaltschaft gehört. Sicherlich trifft hier Paragraph 243 Absatz 1 Punkt vier zu. Doch wollen wir ernsthaft von besonders schwerem Diebstahl ausgehen? Bei einem Schaden von knapp zwanzig Euro? Schauen wir uns diese Frau und ihre Beweggründe etwas genauer an. Vor uns sitzt eine alte, gebrechliche Frau mit eingefallenem Gesicht. Ihre Hände zittern. Sie ist, offen gesagt, fast sowas wie das ganze Gegenteil von Herrn Staatsanwalt.“ Nach einem winzigen Moment der Stille bricht im Gerichtssaal ein schallendes Gelächter aus, einige der Zuschauer klopfen sich vor Begeisterung auf die Knie oder nutzen die Bänke als Klangkörper. Selbst das Mütterchen prustet sich ins wackelnde Fäustchen. „Ruhe, verdammt noch mal!“, donnert Hunscha. Das Gejohle verstummt abrupt. „Herr Koch, ich danke für Ihre gewitzte Einlage, würde mich aber freuen, wenn wir wieder mit Ernst bei der Sache wären. Wir haben eine Verhandlung zu führen. Also bitte!“ „Verzeihung, Herr Vorsitzender. Kommen wir zum Tatbestand.“ Er zeigt auf, dass die geringfügige Rente seiner Mandantin kaum ein Auskommen möglich macht, was natürlich keine Straftat rechtfertigt. Nach Abzug der Fixkosten verbliebe ihr nicht viel. Der Geburtstag ihres Enkels hat sie in den Klingelbeutel greifen lassen. Sie, die ansonsten eine streng gläubige Christin

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