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Menschenschlange durch die Stadt zog, manchmal stumm, ein andermal schreiend. Es wurde erwartet, dass auf sie geschossen würde, und doch gingen sie Montag für Montag diesen gemeinsamen Weg. Ich war fasziniert wie von einem Abenteuer, das wie ein Film vor mir ablief. Schauer kitzelten meinen Rücken, und so ein Prickeln war im Bauch und ein schwacher Schmerz hinter der Stirn. Da holten sie uns zusammen, junge Genossen, und sie sagten uns, was wir zu tun hatten: den Weltfrieden retten. Weißt du, eigentlich bin ich nur mitgelaufen, so lange ich denken kann, eben auch damals an diesen Montagabenden. Ich habe bei den Demonstrationen blind in die Menge fotografiert. Und ich habe irgendwelche Namen weitergemeldet, Müllers und Krauses. Ich habe niemand anrempeln können, und so bin ich selbst umgestoßen worden. Keine Ahnung, warum ich mich so verhalten habe. Oder doch? Vielleicht war ich feige. Vielleicht mutig. Und dann stand ich dir gegenüber. Meiner besten Freundin. So nahe waren wir uns noch nie. Und vor allem so weit voneinander entfernt. Die eine sah in der anderen die Verräterin. Ich wusste nicht, hattest du oder hatte ich den Verrat begangen. Ich war völlig durcheinander, und ich spürte nur Wut, ja Hass. Wir hatten doch beide fest an den Kommunismus geglaubt, die einzig mögliche menschenwürdige Gesellschaftsform, wie man uns gelehrt hatte. Bei den Vorbeimärschen an den Tribünen hatten wir im Chor der Tausende "Hurra!" gerufen. "Es lebe die Sozialistische Einheitspartei, die führende Kraft der Arbeiterklasse!"

      Ich sagte dir doch, ich bin wohl immer nur mitgelaufen. Ich habe die Hand festgehalten, die mich mitzog. Selbstmitleid? Nein, nein, ich habe es ja gebraucht, irgendwie, die Berührung, das Führen lassen. Es hat mir nur niemand beigebracht, wie man wieder loslässt.

      Die Wende passierte, ohne dass sich in mir wirklich was änderte. Ich wartete täglich auf ein tiefes Erschrecken oder eine überwältigende Freude; aber in mir passierte nichts, Sonja, ich musste mich nicht ändern, umstellen oder anpassen - ich blieb unverändert, nur das verunsicherte mich.

      Ich zog wieder zu meinen Eltern. Abends dann, im Kinderzimmer, in dem die Puppen auf dem Regal saßen wie seit Ewigkeiten und hämisch auf mich herabgrinsten, habe ich versucht, dir zu schreiben. Aber ich wusste nicht, was ich dir sagen wollte. Deine Briefe habe ich verbrannt. Ich hatte nicht den Mut sie zu lesen. Vielleicht würdest du mir etwas sagen, dass mein ganzes bisheriges Leben in Frage stellt. Ich wollte aber keine Fragen hören. Ich brauchte eine Antwort, für meine Schüler, für mich selbst.

      Ich trainierte das Vergessen, das Abschalten, verstehst du? Alles ist Training, alles, sage ich dir. Man muss nur die richtigen Zauberformeln kennen und sie oft genug aufsagen. Gestern und morgen ist jetzt. Zum Beispiel das. Oder das: Du bist wie ein Fels in der Brandung. Alles prallt von dir ab. Und so weiter. Bald war mir alles wieder so klar und einfach wie in meiner Kindheit, ich musste eben nur brav sein. Das Gefühl, wieder gutmachen zu müssen, eine alte Schuld zu begleichen, wurzelte wieder fest in mir. Ich bekam viel Lob, von meinen Eltern, von den Kollegen, ich wurde zu Lehrgängen geschickt, es hieß "Unsere Kleine macht sich", und ich fühlte mich gut, wirklich nicht schlecht, und erst jetzt fällt mir auf, dass ich viel gelächelt, aber nie gelacht habe.

      "Du bist gereift", sagte Vater und legte mir seine magere Hand auf die Schulter. Bestimmt zitterte ich und nicht er, und ich dachte: Ja, er hat recht, ich bin alt geworden. Und stell dir vor, ich war froh darüber, denn so war ich den Alten, die mich mochten und mir Sicherheit signalisierten, näher.

      Eins kam zum anderen. Du, ich weiß, wovon ich rede, ich habe es erlebt, wie so etwas geht. Ich lernte einen Mann kennen auf meinem morgendlichen Weg zur Straßenbahn. Wir wären aneinander vorbeigegangen, wie bestimmt schon oft, wenn ich nicht gestolpert wäre und er mich nicht am Oberarm festgehalten hätte. Zufall oder Notwendigkeit, da war sie wieder, eine Hand, die mich hielt. Er hat den gleichen Vornamen wie Redford, Robert also, einssechsundachtzig, schlank, sportlich, Akademiker, mit Sinn für alles Schöne, ich weiß, das klingt wie aus einer Heiratsannonce. Nach drei Wochen waren wir verheiratet. Es geht uns gut, zum Glück, Robert konnte in seinem Betrieb bleiben, er hat sogar eine Leitungsposition übernommen. Das Geld reicht für Miete, Urlaub unter der Sonne, Ausgehen und was man sonst noch so braucht. Nein, Kinder haben wir keine, noch nicht, im Moment passen sie nicht in unser Leben. Ich weiß nicht. Ich weiß so vieles, was ich einmal sicher wusste, nicht mehr.

      Es ist etwas passiert, Sonja, ich erzähle es dir sofort, ich will nur, dass du alles weißt, denn wem sonst soll ich es sagen, ich lebe in einer Welt voller Bekannter, du aber bist meine Freundin. Bist du es noch? Ich wünsche es mir so sehr.

      Also die alte Schule wurde weggerissen und auf ihren Platz eine neue gebaut, fast über Nacht, wie im Märchen. Nur ein mächtiger alter Baum ist übrig geblieben, er steht mitten auf dem Schulhof, eine Kastanie, ich hatte ihn nie beachtet. Weißt du, es lief eben, man machte mich zur Direktorin der neuen Schule, Sonja, mich, stell dir vor. Wohl weil sie gerade niemand anders fanden, der bei gleicher Qualifikation politisch unbelastet war. Man fand ja jetzt im Osten fast bei jedem irgendwelche Leichen im Keller. Und wo keine waren, da trug man sie hinein. Aber ich war ja auch in der Partei gewesen und hatte mich Kommunistin genannt. Vielleicht brauchten sie mich als Beweis ihrer demokratischen Toleranz gegenüber der gestürzten sozialistischen Diktatur.

      Ich wollte mich hineinknien, Sonja, ich wollte bestätigen, dass mir zu Recht vertraut wurde - aber da passierte etwas, das mir weder in die alte noch in die neue Schule zu passen scheint, eher in unsere Studienzeit, Sonja, dort gehört es vielleicht hin, ich erinnere mich nicht, dafür bist du zuständig.

      Was ich erzählen will: Mein erster Tag in der neuen Schule, ich hatte die Nacht kein Auge zubekommen und stand schon kurz nach Sonnenaufgang auf dem Schulhof mit klopfenden Herzen und feuchten Handflächen. Ich versuchte durchzuatmen und sagte mir immer wieder: "Das schaffst du schon." Ich schaute zum Himmel auf, ob neuerdings nicht doch ein Täuberich mir freundlich zublinzelte. Aber der Himmel blieb leer, ein schmutziges Taubenblau, als hätte jemand, der längst weitergezogen war, eine alte Decke ausgebreitet, auf der Essenkrümel und Papierreste herumlagen. Es würde wieder ein schwüler Tag werden, schon jetzt war die Luft schwer zu atmen. Nichts Hilfreiches zu erkennen, ich würde mich also auf der Erde zurecht finden müssen - da bewegt es sich im Wipfel des Baumes, schaukelnd, als hätte soeben ein großer Vogel darin aufgesetzt. Bald aber kam Ruhe in die Baumkrone, ich glaubte schon, mich getäuscht zu haben, als das Auf und Ab der Zweige und Blätter erneut einsetzte und ich ein paar weiße Turnschuhe, nackte Beine, einen schwarzen Pulli und schließlich den Kopf eines Jungen entdeckte.

      Da saß also ein Junge im Baum, was weiß ich, wie viel Meter über der Erde, hoch genug, um sich etliche Knochen, wenn nicht gar den Hals zu brechen.

      Ich erschrak, zugegeben, weniger wegen dem, was dem Jungen passieren konnte, vielmehr, was mit mir geschehen würde, wenn er nicht heil von da oben herunterfände. So eine Situation war mir noch nicht vorgekommen, ich hatte darüber nie etwas gehört und gelesen, was sollte ich tun? Der Junge musste vom Baum, bevor Lehrer und Schüler kamen.

      "Du", sagte ich, "du da oben." Ich sprach wie zu einem Schlafwandler, den man nicht wecken darf, wenn er auf den Dächern spazieren geht.

      Aber da oben regte sich nichts. "Hallo", sagte ich etwas lauter. "Hörst du mich?"

      Ich bekam keine Antwort, die Zweige und Blätter im Wipfel zitterten nur kurz. Der Straßenlärm wurde lauter, durch eine Häuserschlucht blendete mich das Sonnenlicht, ich fühlte, wie ich meine frische Bluse verschwitzte, ich verspürte das Bedürfnis zu weinen, jemandem um den Hals zu fallen, meinen Kopf an seine Brust zu lehnen, drauflos zu heulen.

      "Bitte", sage ich. "Du, ich sehe dich doch da oben. Komm herunter, und langsam, und sieh nicht nach unten, du brauchst keine Angst zu haben."

      Und ich stellte mich unter den Baum und breitete tatsächlich das Ende meiner Bluse aus, als könnte ich den Jungen darin auffangen. Zugleich war mir bewusst, dass der Junge auf dem Baum bleiben würde, er wollte oder konnte mich nicht hören, da kam etwas auf mich zu, von dem ich keine Ahnung hatte. Auf alles war ich vorbereitet worden, sogar auf den Abwurf einer Atombombe, nur eben nicht darauf, dass ein Junge im Schulhof auf einem Baum sitzt.

      Liebe Sonja, weißt du noch, was Grützner uns lehrte als oberstes Gebot für einen Lehrer: "Niemals die Fassung verlieren." Wir sollten uns das vorstellen wie bei einer Glühlampe, käme die aus der Fassung, sei es ringsum zappenduster.

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