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Bedauern muss ich den Kopf schütteln. Da habe ich mehr als mein halbes Leben in New York gelebt und kenne die Geschichte des wohl berühmtesten Wahrzeichens des Landes nicht. Auf den zahlreichen Schulausflügen nach Liberty Island habe ich auch nicht wirklich zugehört. „Lady Liberty stellt die römische Göttin Libertas dar. In der Mythologie ist sie die personifizierte Freiheit. Es ist so viel passiert in den letzten Monaten, dass ich gern freier wäre. Ich musste es mir stechen lassen, um mich immer wieder anzumahnen, auch an mich zu denken. Eigentlich sollten sich alle aus meinem Umfeld daran erinnern, wenn sie es sehen. Nur leider ist so viel los, da vergessen sie es. Alle miteinander. Ihnen ist nicht klar, was sie sich gegenseitig eigentlich antun. Freiheit bedeutet doch auch Ehrlichkeit, nur leider ist das auch nur noch eine Phrase. Zumindest zurzeit.“

       Verständnislos glotze ich Vince regelrecht an. Was ist passiert in New York? Was habe ich verpasst? Vince seufzt schwer auf. „Sag mir bitte nicht, dass Hayls dich nicht über alles auf dem Laufenden hält.“

      „Worüber?“, frage ich heftiger als beabsichtigt. „Was hätte sie mir deiner Meinung nach denn sagen sollen? Ich habe ehrlich gesagt nicht nach dem neusten Stand gefragt, weil ich selbst genug um die Ohren habe.“ Ich bin wirklich eine schreckliche Freundin, wird mir in diesem Moment bewusst. Ich habe Hayley nicht ein einziges Mal gefragt, was bei ihr so los ist.

      „Ich kann nicht fassen, dass sie es dir nicht erzählt hat“, blubbert Vince vor sich hin, ehe er mich wieder ansieht. „Lass uns zu dir nach Hause gehen. Ich will nicht auf der Straße mit dir darüber sprechen.“

      Zehn Minuten später betreten wir meine Wohnung. Obwohl ich fast vor Neugierde platze, entschuldige ich mich kurz, damit ich aus den engen Sportklamotten rauskomme. Einen Augenblick gönne ich mir Ruhe, setze mich auf mein Bett und schreibe Hayley eine Nachricht.

       Rate, wen ich vorhin beim Joggen getroffen habe. Kleiner Tipp: Du kennst ihn. Ich füge eine Zwinker-Emoji an. Kaum habe ich die Nachricht abgeschickt, sehe ich, dass sie online ist und eine Nachricht tippt. Hab mich schon gefragt, wann diese Nachricht kommt. Liebe Grüße an Vince!

      Ich lese die Nachricht zweimal, dreimal und ein viertes Mal, doch irgendetwas stört mich an ihren Worten. Wusste sie, dass Vince in San Francisco ist? Vergessen ist die Dusche, die ich nach dem Lauf eigentlich nötig hätte. Wer weiß noch, dass er hier ist? Verwirrt verlasse ich mein Schlafzimmer, gehe zu Vince ins Wohnzimmer. Aus der Küche höre ich die Kaffeemaschine blubbern, offensichtlich hat er uns eine Kanne aufgesetzt.

       „Wusste Hayley, dass du nach San Francisco kommen würdest?“, frage ich geradeheraus. Er steht an meinem Fenster, blickt auf die Stadt, doch ich erkenne, dass seine Haltung sich verändert. Nur minimal, für eine fremde Person vermutlich nicht zu erkennen. Aber ich kenne ihn so gut, weiß, wie seine Muskeln arbeiten, wenn er eine bestimmte Bewegung macht. Ich weiß, wie sich sein Körper anfühlt, wenn er erregt, sauer oder zufrieden ist. Langsam dreht er sich zu mir um. Hatte ich gerade noch gehofft, dass mein stummer Vorwurf Einbildung ist, erkenne ich die Wahrheit in seinem Blick. In seinen Augen liegt ein Glanz, der teils entschuldigend wirkt, aber vor allem lese ich Mitleid in ihnen.

       „Wusstest du, dass ich diese Strecke üblicherweise laufe?“

       Vince sagt noch immer kein Wort, dreht sich weiter zu mir, macht ein paar Schritte in meine Richtung.

       „“Bleib stehen“, flehe ich leise. „Bist du meinetwegen hierhergekommen?“ Ein tiefer Schluchzer lässt mich erbeben, Tränen finden ihren Weg aus meinen Augen, ich kann sie nicht daran hindern. Auch ohne eine Antwort seinerseits erkenne ich die Wahrheit.

       „Sag mir bitte, dass du nicht dort auf mich gewartet hast. Hat Hayley dir gesagt, wo du mich wahrscheinlich antreffen wirst?“ Sein Blick wirkt plötzlich hilflos. „Verdammt Vince, sag endlich irgendwas!“ Kurz zuckt er zusammen, in ihm scheint es zu arbeiten.

      „Ich musste dich einfach sehen“, flüstert er, was mich vollends aus der bahn zu werfen scheint. „Ich … Hayley hat mir geholfen, ja. Aber nicht gern, das kann ich dir sagen. Kasia, du bist einfach verschwunden, hast dich nicht von mir verabschiedet. Du warst einfach weg.“

      „Geh“, flüstere ich, doch mein Freund rührt sich nicht vom Fleck. „Verdammt, Vince! Geh einfach!“

       Noch immer nichts, als würde es ihn nicht interessieren, was ich sage.

      „Kasia, Süße, ich werde nicht gehen. Nicht jetzt“, sagt er ruhig, kommt auf mich zu und schließt mich in seine Arme. Ich versuche ihn von mir zu schieben, doch er ignoriert mich. Im Gegenteil, sein Griff verstärkt sich noch. Die Tränen, die bisher stumm meine Wangen hinuntergeflossen sind, verwandeln sich in bitterliches Weinen. Vince hält mich fest, lässt mich weinen, dann toben und schreien, bis ich schließlich aufgebe und wir gemeinsam zu Boden sinken.

      Kapitel V - Hayley

      Die kleine Bar, zu der Logan uns fährt, liegt im Zentrum von New Jersey. Es ist ein kleiner Pub, die Wände sind dunkel getäfelt, die Stühle und Bänke sind gepolstert und mit rotem Samt bezogen. Wir setzen uns an eine große Tischgruppe, die offenbar von unseren Freunden bereits zusammengeschoben wurden. Logans Freunde, die auch für uns schon mehr als nur Bekannte sind, begrüßen uns mit Umarmungen und Schulterklopfen.

       Kasia lässt sich mir gegenüber nieder, ständig mit den Fingern an ihrem Handy. Hin und wieder schleicht sich ein Lächeln auf ihre Lippen, was auch mich schmunzeln lässt.

      „Wem schreibst du?“, frage ich. Während Logan unsere Getränke ordert.

      „Wie bitte?“ Entschuldigend blickt meine Freundin von ihrem Smartphone auf. „Ach, nur einem Bekannten.“ An ihrem Blick erkenne ich, dass sie lügt.

      „Welcher Bekannte? Du bist meine beste Freundin, meine Schwester, ich kenne alle deine Bekannten“, grinse ich, muss laut lachen, als sich ihre Wangen leicht rot färben.

      „Du kennst nicht alle meine bekannten“, versucht Kasia sich mit hochrotem Kopf heraus zu reden. Für den Moment lasse ich sie in Ruhe. Das letzte, was ich will, ist sie in Verlegenheit zu bringen. Vielleicht hat sie jemanden kennengelernt, den sie mir noch nicht vorgestellt hat. Unwahrscheinlich, da wir mehr oder weniger unzertrennlich sind, aber durchaus möglich.

      Als Logan mit einem Tablett zurück zu Tisch kommt, greift sich Kasia ihre Cola und trinkt einen großen Schluck. Logan stellt eine zweite Cola vor mich, einen Pitcher Bier und ein Glas an seinen Platz. Er sitzt, wie immer, neben mir, rückt ein wenig mehr zu mir auf, als ich ihm eigentlich Platz machen möchte.

       Obwohl Kasia ihr Glas schon zur Hälfte geleert hat, stoßen wir an und trinken auf einen schönen Abend. In der Öffentlichkeit trinken meine beste Freundin und ich eigentlich nie Alkohol. Auch wenn Logan uns das ein oder andere Mal versucht hat zu überzeugen, dass der Besitzer des Pubs es eher europäisch hält – Volljährigkeit mit achtzehn. Daher dürfte man sich bei ihm schon mal ein Bier genehmigen. Auch, wenn es verlockend ist, mögen wir Max, den Besitzer, zu sehr, als das wir seine Schanklizenz aufs Spiel setzen würden.

      Nach und nach füllt sich der Pub, es wird laut, wodurch auch wir immer lauter reden müssen. Mittlerweile gehören Kasia und ich schon mit zu der riesigen Clique rund um Logan und Vince. Einige unserer Bekannten aus der Schule gehören auch schon dazu. Wir quatschen, diskutieren und lachen alle miteinander.

       Der Platz neben Logan wird von Tessa, seiner Exfreundin, besetzt. Sie sind schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr zusammen, lange, bevor ich Logan kennengelernt habe. Dennoch ist es merkwürdig, die beiden so vertraut miteinander zu sehen. Es geht mich natürlich rein gar nichts an. Irgendwann erzählte Logan mir, dass sie eine Art Vorzüge-Abmachung hätten. Ich wollte keine Details hören. Besonders nicht, nachdem er mit mir ausgehen wollte. Angeblich haben sie nur miteinander geschlafen, wenn sie beiden niemanden hatten. Ich kenne Logan jetzt schon zwei Jahre. In dieser Zeit war er meines Wissens nach mit niemanden liiert.

      „Wo habt ihr Vince denn heute gelassen?“, will John wissen, der neben Kasia sitzt. John ist Musiker, lebt schon lange nicht mehr in New York. Momentan hat er Urlaub, denn die nächste Tour steht vor der Tür. Er und seine zwei Kumpels bringen einen Hit nach dem anderen raus. Sie waren schon überall.

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