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und Namen

       Gefühle

      Alles, was Lucel charakterisierte, ihn liebenswert und einzigartig machte, wurde in kleine, kalte Steine geschlossen und die Kristalle färbten sich in den schönsten Tönen von Rosa, Türkis, Lila, Rot, Grün, Gelb, Blau, Orange und Braun. Dann sammelte sich ein schwarz-silberner Strudel über dem kleinen Körper, flog in die Grabkammer und versank in Zerelf, dem Amulett auf Serenas Brust.

      Der geschrumpfte Körper lag auf dem Boden, ausgesaugt und leer. Allem beraubt und kaum noch am Leben. Laura, die mit Tränen in den Augen das Ritual verfolgt hatte, trat heran, hob den Jungen hoch, der weniger wog als ein Baby und presste ihn an ihre Brust. Serena war tot und diejenigen, denen sie am meisten vertraut hatte, hatten ihrem Sohn das Vermächtnis genommen, das sie ihm mit all ihrer Macht hatte hinterlassen wollen.

      Laura sah in die Runde, doch alle wichen ihren Blicken aus. Sie sah Schuld und Angst. Zärtlich strich sie dem Jungen das schwarze Haar aus dem Gesicht. Lucel war wie seine Mutter: wunderschön, stark und doch zerbrechlich. Sein lockiges Haar fiel zur Seite und entblößte Ohren, die nur noch unmerklich spitz zuliefen. Auch das hatten sie ihm genommen.

      Laura würde ihn aufziehen wie ihr eigenes Kind und versuchen, ihm das zu geben, was Serena ihm hatte geben wollen: eine schöne Welt, für die es sich zu kämpfen lohnte. Sie drehte den Verrätern den Rücken zu und machte sich auf, den beschwerlichen Weg aus dem Tunnellabyrinth zu beschreiten. Sie kehrte den Feiglingen und dem Hass, der Laura bei ihrem Anblick erfüllte, den Rücken zu. Sowie dem Ekel davor, nicht stark genug gewesen zu sein, um Lucel zu beschützen.

      Lucel, den Sohn ihrer geliebten Serena.

      Laura verstand kaum etwas von dem, was da unten passiert war, und so war auf keinem der Steinsärge ihr Name eingraviert.

      ROSA KINDHEIT

      „Lucel ... Lucel ... “, angenehm klang die sanfte Stimme in seinen Ohren. Wie ein Singsang lullte sie ihn tiefer in den Kokon, in dem er es sich bequem gemacht hatte. Er roch das Gras, fühlte den Wind und die warmen Strahlen der Sonne auf seiner blassen Haut. Grashalme kitzelten sein Gesicht, seinen Nacken und seine Arme. Er spürte alles und war doch nicht Teil vom Ganzen. Wie ein Fremdkörper abgestoßen, driftete sein Geist im Nirgendwo, erschuf eine Welt für sich.

      „Lucel!“, rief die Stimme verärgert, zerrte an den Fäden seines Kokons und riss Löcher in seine kleine Welt, abseits von allem. Er kniff verärgert die Augen fester zu, brummte unzufrieden. Dann durchzuckte ihn ein kleiner Blitz, als er eine Hand auf seiner Brust fühlte. Ungeduldig rüttelte sie an ihm. Noch in seiner Welt gefangen, reagierte sein Körper instinktiv. Er packte den Arm und zog sie zu sich ins Grass, rollte sich auf sie und bedeckte sie mit seinem schlanken Körper.

      Es war ihr Geruch, der den Kokon sprengte. Widerwillig öffneten sich seine Lider langsam und er blickte in weit aufgerissene Augen, grün wie das Gras, ihr Haar leuchtete golden wie die Sonne. Die Wangen waren gerötet, ihre vollen Lippen bebten. Unter seiner rechten Hand spürte er etwas Weiches. Verwirrt tastete er entlang, quetschte und rubbelte.

      Selena stöhnte leise auf und das Rot ihrer Wangen wurde kräftiger. Lucel schloss die Augen wieder, legte seinen Kopf direkt neben ihren, genoss das seidenweiche Haar an seiner Wange und sog ihren Duft ein. Eine Wiese mit weißen Maiglöckchen erschien vor seinem inneren Auge. Er verlor sich in dem Blumenmeer. Doch Selenas Stimme zerrte ihn wieder in die Welt, in der er sich nicht komplett fühlte.

      „Lucel! Wir sind keine Kinder mehr. Geh runter von mir!“ Ihre Worte waren barsch.

      Lucel seufzte.

      Was hatte sich in den sechs Jahren so geändert, dass er nicht mehr mit Selena im Arm einschlafen durfte? Sie waren immer zusammen eingeschlafen, hatten sich Gutenachtgeschichten erzählt und waren lachend Arm in Arm ins Land der Träume abgeglitten.

      Dann plötzlich, aus heiterem Himmel, hatten ihre Eltern ihnen verboten im selben Bett zu schlafen, ja sogar im selben Raum.

      Seit sechs Jahren schlief er nun alleine in einem großen, kalten Bett. Anfangs hatte sich Selena in sein Zimmer geschlichen, doch nachdem Vater sie erwischt und es ein riesen Donnerwetter gegeben hatte, war Selena nicht mehr zu Lucel gekommen.

      Lucel hatte versuchte sich in ihr Zimmer zu schleichen, doch sie hatte ihn mit den Worten: „Wir sind keine Kinder mehr“, immer wieder weggeschickt. Lucel hatte diesen Satz satt. Was hatten Alter und Kindheit damit zu tun, ob er neben Selena schlafen durfte oder nicht?

      „Lucel!“ Selenas Stimme klang drängend, fast ängstlich.

       Hatte sie Angst vor ihm?

      Bei dem Gedanken schmerzte seine Brust. Lucel rollte sich von Selena und starrte in das Blau des Himmels. Er liebte den Himmel und doch gab es Augenblicke, in denen sein Anblick ihn unendlich traurig machte. So nahe, war er doch unerreichbar.

      Neben ihm raschelte es, als Selena sich aufsetzte. Immer noch mit geröteten Wangen sagte sie maulig: „Du hast auch keine Scham! Eine junge Frau da einfach so zu berühren! Unverschämter Kerl!“

      „Hab ich dir wehgetan?“ Lucel musterte Selena sorgenvoll, suchte jeden Zentimeter ihres Körpers nach Verletzungen ab. Er durfte niemandem wehtun, aber vor allem nicht ihr! Der Gedanke war immer da, eng verbunden mit seiner ersten, klaren Erinnerung: Selenas tränennasse Gesicht, seine blutigen Hände und braunes bewegungsloses Fell.

      „Nein! Nein, mir geht es gut“, erwiderte Selena schnell, als sie den Schatten über Lucels Gesicht huschen sah. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Er machte sich Sorgen um sie, empfand mehr als Geschwisterliebe.

      „Na dann“, erwiderte Lucel plötzlich völlig desinteressiert, rollte sich zur Seite und schloss die Augen.

      Serenas Wunschgedanke zerplatzte wie eine Seifenblase. „Lucel!“ Verärgert über ihn und über ihre eigene dumme Schwärmerei, rüttelte Selena ihn, „die Abschlusszeremonie beginnt gleich! Alle warten nur auf dich.“

      Lucel gähnte gelangweilt. Zeremonie war ein sehr großes Wort für eine Abschlussfeier von fünf Abgängern. Sie waren mit sechzehn nun im Erwachsenenalter und bereit für den Ernst des Lebens. Keine Schulbank mehr drücken. Doch Lucel mochte die Schule und für ihn gab es nichts zu feiern. Während dem Unterricht konnte man sich einfach hinter einem Buch verstecken und schlafen. Jetzt musste er sich mit der Zukunft beschäftigen, Arbeit, Karriere, Lebenserwartungen, Wünsche und Hoffnungen.

      „Vater wird schon ungeduldig“, Lucels Ohren zuckten leicht. Er rieb sich über die leicht zugespitzte Kante.

      „Mutter wartet!“ Selena seufzte innerlich, als Lucel sofort auf die Beine sprang und rief: „Warum trödelst du? Wir müssen los!“ Es war ein Wunder, dass er anstatt gleich loszusprinten, Selena ungeduldig die Hand hinhielt, um ihr aufzuhelfen.

      Für Mutter tat Lucel alles.

      Wenn er die Wahl zwischen ihrer Mutter und Selena hätte, würde er sich für ihre Mutter entscheiden. Das stand außer Frage. Selena ergriff beleidigt Lucels Hand. Seine Finger waren schlank, aber stark. Er zog sie mühelos in die Höhe. So schwungvoll, dass Selena das Gleichgewicht verlor und gegen seine Brust fiel. Sie hörte sein Herz schlagen und ihr Puls raste, presste das Blut schneller durch ihre Adern.

      „Selena! Benimm dich! Ihr seid Geschwister!“, raunte sie sich selbst gedanklich zu und stopfte der Stimme den Mund mit einem erdachten, stinkigen Socken, die ihr leise ins Ohr säuselte: „Er ist nicht dein leiblicher Bruder.“ Ihr Vater würde sie steinigen, wenn er wüsste, dass sie Gefühle für Lucel hatte, die über Geschwisterliebe hinausgingen. Auch wenn ihre Mutter Freudentänze aufführen würde. Seit dem Tag, als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte Laura ihre Tochter in Lucels Arme getrieben. Wortwörtlich! Geschubst hatte sie sie und das nicht nur einmal. Allein um dem selbstgefälligen Lächeln ihrer Mutter nicht ausgesetzt zu werden, würde Selena nie zugeben, dass der Plan aufgegangen war.

      Auch wenn es ihr schwer fiel, einfach dabei zuzusehen, wie die kleinen

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