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Ich muss lächeln und Aira bedenkt mich mit einem seltsamen Blick, den ich nicht deuten kann. Allmählich kommen andere Frauen und ein paar junge Mädchen in den Raum und setzen sich. Aira wendet ihre Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe zu und ich kann Dannies Widerwillen, die Aufmerksamkeit ihrer Lehrerin mit anderen zu teilen, körperlich spüren. Ein leises Lachen entschlüpft meinen Lippen und wieder fange ich einen seltsamen Blick von Aira auf.

      „Was wir für wahr halten, muss nicht wahr sein. Urteile können irren, Gefühle den Verstand verdrehen. Deshalb halten wir uns nur an unumstrittene Fakten und entscheiden vorurteilsfrei und basierend auf Tatsachen, die fundiert belegt sind. Vor allem für Neugeborene ist es schwierig, Situationen richtig einzuschätzen, da sie auf wenig oder keinen Erfahrungsschatz zurückgreifen können. Doch genau hier liegt auch die Freiheit. Ihr könnt frei von allen Stereotypen und Vorurteilen, nur auf Fakten basierend, Entscheidungen fällen. Neugeborene werden häufig als neutrale Jury bei schwierigen Prozessen eingesetzt. Haltet euch an die Werte, die euch hier vermittelt werden und ihr werdet nie wieder falsche Entscheidungen treffen. Und falsche Entscheidungen sind der Quell aller Probleme. Gestresste Menschen treffen häufig aufgrund von Emotionen Entscheidungen, die das Leben anderer negativ beeinflussen. Hier, bei uns, unter uns, seid ihr davor sicher.

      Wir sind der Schutzwall, hinter dem ihr euch entwickeln und stärken könnt. Einige von euch werden so stark und in unseren Idealen verfestig werden, dass sie, wenn sie es wünschen, in die Gesellschaft zurückgeführt werden. Viele von euch jedoch werden ihr Leben hier verbringen, in dem sicheren Schoß der Menschen, die die gleichen Ideale teilen. Sprecht mir nach:

       Ich spreche die Wahrheit. - Ich spreche die Wahrheit.

       Ich helfe mit Freuden. - Ich helfe mit Freuden.

       Ich bin bescheiden. - Ich bin bescheiden.

       Ich liebe alle. - Ich liebe alle.

       Ich teile, was ich besitze. - Ich teile, was ich besitze.

       Ich arbeite hart. - Ich arbeite hart.

       Ich vergebe. - Ich vergebe.

       Ich bin wir. - Ich bin wir.

      Die Worte im Chor gesprochen, haben Macht. Ich spüre die Energie und werde fortgerissen mit dem Strom. Dannies Augen glänzen und auch ich werde fortgetragen von dem Bild einer Welt, in der alles in Ordnung ist. Ich höre hin und mir gefällt das, was ich nicht höre, die Information, die im Stillen mitschwingt.

       Eine Welt, in der

       niemand lügt,

       niemand anderen schadet,

       niemand egoistisch ist,

       niemand hasst,

       niemand nach weltlichem Luxus strebt,

       niemand faul ist,

       niemand sich für etwas rächen muss,

       niemand nur an sich denkt.

      Ich wünsche mir diese Welt von Herzen und ich werde alles tun, um diese Welt zu formen und zu erhalten. Das Meer aus Weiß verliert seinen Horror. Die eintönige Gleichheit bekommt etwas Vertrautes, Tröstendes. Und die Worte Privat und Persönlich verblassen gegen das Strahlen einer Welt, in der alles in Ordnung ist. Ich gebe einen Teil von mir ab und werde zu einem großen Ganzen.

      Meine Unsicherheit verfliegt und mit ihr der Argwohn. Ich möchte ein Teil dieser Gesellschaft sein, lernen und diese wundervollen Ideale weitergeben. Mein Herz schlägt schneller und ich tauche ein in pastellgrünes Mint. Als ich mich vorsichtig in dem kleinen Kreis umsehe, erblicke ich das gleiche Feuer, das in mir brennt, in den Augen aller. Wir sind nicht viele, doch die Frauen um mich, die so anders sind als die gesichtslosen und charakterlosen Wesen, die mich in der Kantine umgeben haben, zeigen mir einen Weg, den ich gehen möchte.

      Mit Geduld, Zeit und viel Zuwendung, da bin ich mir sicher, werden aus den nichtssagenden Pflanzen blühende Rosen und farbenfrohe Schmetterlinge. Airas feurige Worte füttern das Licht in mir und ich weiß, ich werde alles tun, um eine Welt und eine Gesellschaft zum Blühen zu bringen, die auf Wahrheit, Rechtschaffenheit und Nächstenliebe aufgebaut ist. Es ist eine Welt, in der man gerne lebt. Was für eine schlechte Welt da draußen auch existiert, wie sehr sie die Menschen auch in Stücke reißt, mein altes Ich in Stücke gerissen hat, hier ist die Welt in Ordnung.

      Und wenn wir im Kern stark bleiben, können wir unsere Welt in das Draußen tragen, bis auch Draußen zu unserem Kern gehört. Vielleicht bin ich wirklich gestorben und im Paradies gelandet. Die Suche nach mir selbst, die Fragen, die mir Kraft gegeben haben, sind nicht verschwunden, nur in den Hintergrund getreten. Ich möchte Teil des Wirs werden und mich selbst im großen Ganzen finden.

      Dannie greift nach meiner Hand, blickt mir in die Augen, lächelt und flüstert: „Ich wusste, dass du es verstehen würdest!“ Ich drücke ihre Hand leicht und erwidere ihr Lächeln, freue mich hier sein zu dürfen.

      Kapitel 02 - Lüge & Wahrheit

      Es ist eine Unbedachtheit, die meine neugewonnene Sicherheit ins Wanken bringt. Meine Ideale erzittern unter dem Aufprall eines Meteoriten, den ich nicht habe kommen sehen. Auch wenn sich der Krater, den er hinterlässt, mit Tränen füllt, um das Loch zu stopfen, das er in mein junges Ich gerissen hat, und der Boden, auf dem ich mich bewege, oberflächlich gesehen glatt ist, muss jeder Tritt kalkuliert und vorsichtig gesetzt werden, wenn ich nicht in dem See meiner gespalteten Ideologie ertrinken will.

      Es ist ein Tag wie jeder andere. Ich habe den Überblick verloren und doch ist seit meiner Wiedergeburt nur ein Monat vergangen. Ich fühle mich gut.

      Die Mädchen, mit denen ich mein Zimmer teile, sind etwas indifferent. Doch jeder Tag bringt sie einem Lächeln näher.

      Ich genieße es, mich freuen zu können, und lächle für sie mit, verstehe Sunshines Bedürfnis, Freude zu schenken und Lächeln zu ernten. Meine Ausbeute ist mager und würde ohne Dannie ins Minus rutschen. Doch ich sage mir immer wieder, dass jedes freundliche Wort, jede selbstlose Geste meine Mitmenschen in die richtige Richtung lenken könnte.

      Die wenigen Lächeln, die ich ernte, wirken wie gespielte Routine und verlieren im Mimikry seine Bedeutung. Eine Geste, der die Freude nicht abhandengekommen ist. Nein. Eine Geste, deren Sinn nicht verstanden wird. Noch nicht, sage ich mir und lächle weiter. Und solange mich Dannie morgens strahlend begrüßt, weiß ich, kann ich alles schaffen. Können wir alles schaffen.

      Das kleine Licht tief in mir drin flackert jedes Mal freudig auf, wenn ich Dannie sehe, und wächst ein kleines bisschen mehr. Es ist immer noch außerhalb meiner Reichweite, aber ich kann seine tröstende Wäre spüren. Und so füttere ich es immer weiter mit Airas Idealen und träume von einer Welt des Friedens und der Freundlichkeit. Friedlich ist meine Welt schon, es fehlt nur noch die ehrlich gemeinte Freundlichkeit und hierfür muss ein jeder beitragen, was er kann.

      Ich beeile mich im Bad, um den durchgeplanten Tagesablauf nicht zu stören. Wie ein Schatten versuche ich mich in die Masse des Weiß zu integrieren, weiche, wo Platz benötigt wird, und helfe, wo ich kann. Laut Mutter Sunshine mache ich gute Fortschritte und integriere mich schneller als erwartet. Meine Wiedergeburt sei perfekt abgelaufen, sagt sie. Alles notwendige Wissen ist intakt geblieben, während die dunklen Erinnerungen verloschen sind. Wenn ich so weiter mache, wird vielleicht sogar eine Rückkehr möglich, sagt Aira. Das Wort Rückkehr macht mir Angst. Was soll ich in einer Welt, die mein altes Ich willentlich verlassen hat? Ich verstehe den Drang der anderen, hier im sicheren Nest zu bleiben, wenn da draußen so viel Dunkelheit und Falschheit lauert.

      Sunshines und Airas Worte klingen in mir nach, machen mich glücklich und gleichzeitig traurig. Wenn eine Rückkehr etwas Besonderes ist, bedeutet das, dass nicht jeder zurückkehrt. Und das macht mich zu etwas Besonderem. Ich will in der Masse verschmelzen, ein Teil

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