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von sauber? Dreckig! Ich freue mich, dass mir das Wort und seine Bedeutung eingefallen sind. Doch auch Dreck ist nichts Positives. Wenn Sauberkeit nicht gut ist und Dreck auch nicht, wo liegt das Gute zwischen diesen beiden Begriffen?

      Bevor ich eine Lösung finden kann, öffnet sich die weiße Tür, die ich vergessen habe. Vergessen … meine Gedanken zucken vor der Bedeutung dieses Wortes zurück und doch halte ich daran fest, verbeiße mich in das einzige, das mir eine Erklärung liefern könnte. Habe ich vergessen? Wenn ja, dann habe ich gewusst. Man kann nicht vergessen, wenn man nicht gewusst hat. Doch was habe ich gewusst?

      „Brauchst du Hilfe beim Aufstehen? Kannst du laufen?“ Die Stimme ist weiblich. Sie klingt angenehm, freundlich.

      Ich blicke hoch und sehe … einen Menschen? Bin ich ein Mensch? Bin ich weiblich oder männlich? Eine Hand legt sich um meine Schulter. Die Frau zieht mich sanft hoch. Ich strauchle, kann jedoch mit ihrer Hilfe stehen bleiben.

      „Kannst du sprechen?“ Ich sehe sie an und nicke zögerlich. Ich glaube, dass ich sprechen kann. Ein Wort habe ich schon gesagt. Langsam öffne ich den Mund und schließe ihn, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Dann forme ich vorsichtig Laute und ich bekomme schließlich ein leises: „Ja …“, heraus.

      Der Dank für meine Anstrengung ist ein warmes Lächeln. Die Frau ist schön. Sie ist vollkommen in Weiß gekleidet, ihre Haut hat einen dunkleren Ton. Ich muss an Kaffee denken mit einem Schuss Milch. Ich starre wieder auf meine Hände. Milch. Sie sind fast so weiß wie alles in diesem Raum. Wann hat diese Haut das letzte Mal Sonne gesehen? Sonne … ein Feuerball am Himmel, heiß und brennend, zerstörerisch und doch lebensspendend. Feuer … Licht … Wärme … Hitze …

      „Das alles muss sehr verwirrend für dich sein. Der Anfang ist für alle schwer. Aber tröste dich damit, dass es deine freie Entscheidung war. Du wolltest einen Neuanfang. Wir entscheiden uns aus verschiedenen Gründen für die Wiedergeburt, für eine Chance auf ein neues, besseres Selbst. Doch die sind nicht mehr wichtig.“

      Ich horche auf und bekomme ein ungutes Gefühl. „Wir?“, frage ich leise und verliere mich in der Wärme der Augen einer Frau, die mir ihren Namen nicht genannt hat und ich bin erleichtert darüber. Ich hätte ihr für ihren Namen nichts im Austausch geben können. Wenn ich einen Namen besessen habe, so habe ich ihn vergessen.

      „Ich bin vor einiger Zeit denselben Weg gegangen, den du von jetzt an gehen wirst. Ich war eine Neugeborene und habe in mir den Wunsch zu helfen entdeckt. Deshalb bin ich hier. Ich will dir helfen.“

      „Wie heiße ich?“, entschlüpfen mir die Worte. Eigentlich wollte ich sie nach ihrem Namen fragen.

      „Du hast keinen Namen“, erwidert sie lächelnd, freundlich, warm. Und obwohl sie sagt, dass sie mir helfen will, spüre ich Vorsicht, Zweifel und Argwohn in mir. Bin ich ein schlechter Mensch gewesen? Habe ich schlechte Erfahrungen gemacht? Wieso bin ich so unsicher, wenn ich neugeboren bin? Müssen Neugeborene diese negativen Gefühle nicht erst lernen?

      „Du hast noch keinen Namen. Wir nennen alle Neugeborenen nach ihrem Geburtsmonat und Geburtstag. Du heißt für den Moment Oktober Montag. Doch du kannst jederzeit einen Namen deiner Wahl annehmen. Es ist nur solange, bist du deinen Namen gefunden hast.“ Ich bin Oktober Montag? Heute ist Montag? Es gibt sieben Wochentage und der Montag ist nicht der beliebteste. Warum, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, dass ich lieber an einem Freitag geboren wäre.

      Wie werde ich den Montag los? Ich brauche einen neuen Namen, doch mir fällt keiner ein. Also frage ich: „Wie heißt du?“

      „Sunshine.“ Ein ungewohnter Laut entweicht meinem Mund. Ich lache?

      „Ja, es ist ein seltsamer Name, doch er bringt andere zum Strahlen und Lachen und das macht ihn passend für mich. Ich möchte meinem Umfeld Freude schenken.“ Ich schäme mich, doch Sunshine lächelt mich immer noch freundlich an und ich bin erleichtert. Den ersten Menschen, dem man in seinem Leben begegnet, sollte man nicht verärgern.

      „Du kannst mich Mutter Sunshine nennen. Wir Mütter kümmern uns jeweils um einen Pflock Neugeborener, bis sie selbständig leben können“, sagt sie und nimmt mich in den Arm. Ich habe eine Mutter? Ihr Busen drückt gegen meinen Körper und ich taste an mir herum, bis meine Hände kleine Hügel spüren. Es ist nicht viel, könnten auch Männerbrüste sein. Wobei ich dann nicht so schmale Beine hätte … oder? Ich blicke zu Sunshine hoch, die ein Kopf größer ist als ich, und frage: „Bin ich männlich oder weiblich?“

      Ihre Augen weiten sich vor Überraschung, dann verschwinden alle Emotionen hinter einem strahlenden Lächeln.

      „Du bist alles, was du sein willst. Doch dein Körper ist der einer hübschen, jungen Frau.“ Meine Hände wandern wieder zu meinen Brüsten. Jung … heißt das, sie wachsen noch? Ein Blick zu Sunshines Oberkörper lässt etwas in mir aufsteigen … ein unangenehmes Gefühl, das sich nur schwer fassen lässt … Ist es Neid? Ich senke den Blick und lasse meine Arme leblos an meinen Seiten baumeln.

      Sunshine nimmt sanft meine Hand in ihre und führt mich durch die Tür. Mit ihren Fingern um meine, wird das Gehen zu einer Leichtigkeit. Kurz drehe ich mich um, betrachte das weiße Zimmer, in dem ich das weiße Bett fast nicht ausmachen kann. Dann richte ich meinen Blick in das Zimmer, das vor mir liegt. Der Raum ist mit Spiegeln übersät. Die Wände, die Decke, sogar der Fußboden.

      „Ich lasse dich kurz alleine, damit du Zeit hast, deinen Körper aus jedem Blickwinkel kennenzulernen. Hab keine Angst, ich bin hinter dieser Tür. Sie ist nicht verschlossen. Du kannst jederzeit zu mir kommen.“ Sie presst leicht ihre Lippen an meine Stirn, dann ist sie verschwunden und ich bin alleine mit tausenden meiner Selbst. Es ist schwer, in all den unendlichen Ichs ein Mich zu finden. Also trete ich näher an die Wand zu meiner Linken und die Frauen in den Spiegeln bewegen sich mit mir.

      Sie sind alle schlank. Kurzes dunkles Haar ragt ihnen wild vom Kopf, dunkle Augen, fast schwarz, starren mich aus einem schmalen Gesicht an. Sie wirken riesig. Eine schmale Nase mit einem leichten Hubbel, volle, rote Lippen. Meine Haut ist so weiß, wie das knielange Hemd, das ich trage. Meine Augen suchen die Narben, die meine Knie bedecken. Habe ich andere Narben? Ohne zu zögern, ziehe ich das Hemd über den Kopf und lasse es zu Boden gleiten.

      Ich habe eine schmale Hüfte, kaum Brust. Ein Blick zwischen meine Beine bestätigt, dass ich weiblich bin. Wie alt bin ich? Meine Augen gehen auf die Suche nach Alterspuren, doch sie finden nichts. Bis auf die Narben an den Knien, scheint meine Haut makellos. Doch dann sehe ich genauer hin.

      Feine Linien, kaum sichtbar, schmücken beide meiner Handgelenke. Der Gedanke, der aufkommt, gefällt mir nicht und doch verdrängt er alles andere: Habe ich versucht mich umzubringen? Habe ich die Neugeburt gewählt, weil mein altes Leben unerträglich war? Der Gedanke bringt anstatt Schmerz eine tiefe Ruhe in mich und ich werde müde. Ich finde noch ein Muttermal direkt unter meiner linken Brust. Sonst ist mein Körper, wie mein Geist, ein unbeschriebenes Blatt.

      Nach einer Weile hebe ich das Hemd auf, streife es über und gehe zur Tür, hinter der Sunshine auf mich wartet. Der Gedanke hat etwas Beruhigendes. Ich bin nicht allein. Als ich in den nächsten Raum trete, umarmt mich Sunshine liebevoll und küsst mich auf die Wange.

      „Der Raum der Spiegel soll dir die unendlichen Möglichkeiten zeigen, in die du dich verwandeln kannst. Du kannst dein neues Ich wählen. Du alleine bestimmst, wer du sein willst, wie du handeln möchtest und was du anstreben wirst. Das ist das Geschenk der Neugeborenen.“

      „Und der Preis ist mein altes Selbst.“ Ich erschrecke über meine eigenen Worte. Sunshine sieht mich lange durchdringend an, sucht nach etwas. Doch ich weiß nicht nach was. Dann sagt sie: „Ein Preis, den wir alle freiwillig und mit Freuden bezahlt haben.“ Ich denke an meine Narben und die Worte purzeln aus meinem Mund: „Und wie gehen wir sicher, dass wir nicht immer wieder dieselben Fehler machen?“

      „Wir lenken dich von dem weg, das dich zerstört hat“, sagt sie und ihr Lächeln ist nicht mehr ganz so strahlend. Ihre Antwort besteht aus nichtssagenden Worten und doch analysiert mein Gehirn, kristallisiert die unausgesprochenen Informationen heraus, die Sunshine nicht preisgegeben hat und die doch so offensichtlich vor mir liegen.

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