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glaubt, kann die Wahrheit finden

      Kommt in einer solchen Welt die Wahrheit überhaupt noch vor? Oder war Homer ein duseliger Träumer, der die Frage nach der Wahrheit in ihrer heutigen Strenge gar nicht stellen konnte?

      Wer so denkt, unterschätzt Homer. Zwar stehen seinen Figuren noch keine wissenschaftlichen Methoden zur Verfügung, um die Wahrheit herauszufinden. Aber sie versuchen sehr wohl zu klären, „wie es wirklich ist“. Odysseus beispielsweise besteht gerade deshalb auf sicherer Gewissheit, weil er als Meisterlügner mit den Möglichkeiten der Täuschung bestens vertraut ist. So lässt er die Göttin Kalypso bei dem Unterweltsfluss Styx schwören, dass sie es aufrichtig mit ihm meint. Dieser Schwur ist mit einer schrecklichen Drohung verbunden: Ein Gott, der beim Styx einen Meineid schwört, muss ein Jahr reglos liegen ohne zu atmen, geschweige denn zu essen, und ist danach neun weitere Jahre vom Rat und allen Gastmählern der Götter ausgeschlossen (T 793–798).

      In einer anderen Situation entlocken Odysseus und sein Mitheld Diomedes einem potenziellen Lügner vertrauliche Informationen, indem sie ihm eine Belohnung versprechen für den Fall, dass sich seine Aussage als wahr erweisen sollte. Der potenzielle Lügner ist der feindliche Spion Dolon, die Belohnung ist die Freiheit. Die Methode Zuckerbrot funktioniert: Dolon verrät den Griechen, was sie wissen wollten. Anschließend wird er dennoch umgebracht, denn, so Diomedes, „wenn ich dich umbringe, kannst du uns nicht mehr schaden“ (Il 10, 453).

      So einfach wie im letzten Beispiel geht es bei der Wahrheitsfindung nicht immer zu. Oft müssen Homers Figuren lange in einem betrügerischen Lügengespinst umherirren, bevor sie die Wahrheit finden. Dann gilt: Wer partout nicht betrogen sein will, der dringt auch nicht bis zu den Tatsachen vor.

      So ergeht es beispielsweise Telemachos, dem Sohn des Odysseus. Athene schickt ihn auf die Suche nach seinem vermissten Vater übers Meer, obwohl sie weiß, dass er seinen Vater so nicht finden wird. Dennoch tut Telemachos gut daran, dem eigentlich falschen Rat zu folgen. Denn die vergebliche Reise ist Teil eines Plans, der die beiden schließlich zusammenbringt.

      Eumäos, der treue Sauhirt des verschollenen Odysseus, muss sich durch ein ganzes Labyrinth von Lügengeschichten hindurch kämpfen. Nur so hat er die Chance, bis zu dem entscheidenden Körnchen Wahrheit vorzustoßen: Dass sein geliebter Herr lebt und bereits in der Nähe ist. Was der Sauhirt nicht weiß: Die Lügengeschichten erzählt ihm niemand anders als Odysseus selbst. Denn der hat sich in Bettlerlumpen gehüllt, um von Eumäos nicht erkannt zu werden.

      Odysseus will Eumäos zeigen, dass seine Ankunft kurz bevorsteht, jedoch ohne sich zu erkennen zu geben. Doch der Versuch misslingt: Zwar glaubt Eumäos dem „Bettler“ fast alle seine Lügen. Aber dass Odysseus bald heimkehre – ausgerechnet diese ersehnte Botschaft kauft ihm der Sauhirt nicht ab. Das, so meint er, habe der Bettler sich nur ausgedacht, um sich bei der Königin beliebt zu machen (Od 14,126f). Der Bettler bestreitet das aufs heftigste. Er beteuert seiner Aufrichtigkeit sehr glaubwürdig und tischt zur Bekräftigung eine beeindruckende Lügengeschichte auf – umsonst: Der Sauhirt lehnt jede Hoffnung ab, weil er keine Enttäuschung erleben will.

      Die Götter sind nicht besser als wir

      Wie der grundanständige Hesiod wohl über die Homerische Kultur der Lüge gedacht hat? Übernommen hat er sie jedenfalls nicht. Bei Hesiod hat die Überlegenheit des Herrschergottes Zeus bereits mit Moral zu tun (Schönberger 151). Bei Homer ist sie noch rein körperlicher Natur. „Ich bin der Mächtigste, ich zeigs euch!“, protzt er vor den versammelten Göttern des Olymp. „Auf, machen wir Kettenziehen! Ich ziehe auf der einen Seite im Himmel, und ihr zieht alle zusammen auf der anderen Seite auf der Erde. Dann versucht mal, mich vom Himmel auf die Erde zu ziehen. Keine Chance! Aber wenn ich will, ziehe ich euch alle zusammen hoch. Dann zappelt ihr alle an meiner Kette. So stark bin ich!“

      Bei Homer klingt das natürlich viel majestätischer (Il 8,18–27). Nicht umsonst haben ihn die Griechen noch Jahrhunderte später wegen seiner erhabenen Sprache über alle anderen Dichter gestellt. Aber deshalb bleibt Homers Zeus doch ein Kraftmeier, den man besser nicht frontal angeht. Wer ihm missfällt, dem könnte es ergehen wie der Schuld: Zeus hat sie vom Olymp geschleudert mit dem Schwur, sie nie mehr zurückkehren zu lassen – Schuldbewältigung auf Olympisch (Il 19,126–131).

      Für unbesiegbar halten die Götter ihren Göttervater freilich nicht. Überrumpeln lässt er sich allemal. So lockt ihn seine Frau Hera, von Aphrodite mit Liebreiz ausgestattet, in ein Liebesnest, wo ihn schließlich der Schlaf überwältigt. Damit hat Poseidon freie Hand, von Zeus unbemerkt den Griechen gegen die Trojaner beizustehen.

      Derartige Kriegshändel gehören neben Liebesaffären und ausufernden Saufgelagen zu den bevorzugten Beschäftigungen der Götter. Von den Menschen unterscheiden sie sich zwar durch ihre überlegenen Fähigkeiten: Sie sind schneller und stärker, sie können fliegen, sich verwandeln und unsichtbar machen, sie sind unsterblich und frei von Sorgen – wenigstens solange sie sich nicht ernsthaft mit Zeus anlegen. Aber charakterlich haben sie den Menschen nichts voraus. Wie man von einem kindischen Erwachsenen sagt: „Der wird nie erwachsen“, so könnte man von den olympischen Göttern sagen: „Die werden nie Götter.“ Wie die Menschen sind sie eitel, parteiisch, launisch und nachtragend. Tag für Tag denselben irdischen Vergnügen hingegeben, ist ihre Unsterblichkeit ohne Transzendenz.

      Da diese Götterhorde in sich zerstritten ist, kann man sich als Mensch durchaus einige Frechheiten gegen Götter herausnehmen, solange man andere Götter auf seiner Seite hat. Ungefährlich ist das allerdings nicht: Götter, die sich zurückgesetzt fühlen, können sich bitter rächen. Aber man kann Glück haben. So lästert Achill dem Flussgott Skamandros, weil der die Leichen seiner ermordeten Verehrer tragen muss: „Fleißig geopfert habt ihr ihm ja“, verhöhnt er die Toten, „aber genützt hat es euch nichts, als ich euch abgemetzelt habe!“ (Od 21,130ff). Daraufhin versucht der Strom zwar, Achill zu ersäufen. Aber der weiß, dass ihm ein anderer Tod bestimmt ist. Und tatsächlich helfen ihm Poseidon und Athene aus der Patsche.

      Sind Polytheisten fairer?

      Theologisch sind Götter irritierend, die einander in die Parade fahren, die sich gegenseitig beschimpfen und vor Lachen beeumeln, wenn ihnen ihr humpelnder Mitgott Hephaistos seine in flagranti ertappte Gattin Aphrodite mit dem Kriegsgott im Bett vorführt. Aber für den Dichter sind solche Götter ein Glücksfall.

      Besonders in der Darstellung kriegerischer Konflikte erweist sich die polytheistische Brille als vorteilhaft. Wenn es nur einen Gott gibt, dann ist auch nur eine Seite im Recht: Nämlich die, mit der es dieser Gott hält. Deshalb kommt in den alttestamentarischen Kriegsschilderungen die Gegenseite praktisch nicht vor. Dort sind die Feinde nur und ausschließlich Feinde. Sie unbarmherzig zu vernichten ist Gottesdienst, Mitleid wäre Gotteslästerung. Wenn es aber viele Götter gibt, dann kann die Gegenseite ebenso unter einem göttlichen Auftrag stehen wie die eigene. Das versetzt Homer in die Lage, den Konflikt zwischen Griechen und Troern so darzustellen, dass man als Zuhörer mit beiden Seiten mitfiebern kann – wie im Fußball, wo ja auch beim selben Spiel der eine mit der einen, der andere mit der anderen Mannschaft zittert.

      Ja, der Grieche Homer geht sogar so weit, den sympathischsten Charakter der ganzen Ilias auf der gegnerischen, der trojanischen Seite zu zeichnen: Es ist Achills Gegenspieler Hektor, ein gottesfürchtiger und friedliebender Familienmensch, der nur zur Waffe greift, um die Seinen zu schützen.

      All das bedeutet aber nicht, dass die homerischen Helden weniger grausam wären als die gottbeseelten Kriegsverbrecher des Alten Testaments. Odysseus trägt den Ehrentitel „Städteverwüster“ mit gutem Grund. Der Unterschied zwischen Homerischer und alttestamentarischer Perspektive ist ein anderer: Während die Gewalt im Alten Testament stets höheren Zielen dient – der Eroberung des Gelobten Landes, der Durchsetzung göttlicher Gebote und später der Vertreibung götzendienerischer Besatzer –, braucht die Gewalt bei Homer keine solche Rechtfertigung. Der Krieg ist herrlich, denn er bietet dem Dichter Stoff für aufregende Geschichten. Ist das nicht Grund genug, um einen Krieg vom Zaum zu brechen?

      Homer ist überzeugt, dass die Götter den Tod unzähliger Griechen und Trojaner beim Kampf um Troja

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