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DAS OPFER. Michael Stuhr
Читать онлайн.Название DAS OPFER
Год выпуска 0
isbn 9783847627241
Автор произведения Michael Stuhr
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich weiß nicht, was ich sagen soll und lege stattdessen einfach einen Arm um sie. Lou drückt ihren Kopf an meine Schulter. So sitzen wir schweigend und betrachten das Spiel der Flammen im Kamin. Was soll man auch sagen nach so einer Nacht, nach diesen Erfahrungen, die die Grenze des Ertragbaren für uns beide so weit überschritten haben?
Ich merke, wie mir die Augen zufallen wollen. Krampfhaft reiße ich sie wieder auf. Ich will es nicht sehen, dieses kalte schwarze Wasser. Immer wieder spüre ich, wie es mich umschlingt, so als sei es eine Erinnerung an die heutige Nacht. Dabei ist es ein Nachklang der Todesangst, die ich unter Dolores’ Yacht verspürt habe. Diese Kälte und Dunkelheit. Seltsam, dass ich mir trotzdem ausgerechnet das Wasser ausgesucht habe.
„Lou?“
„Ja?“
„Ich – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es ist vielleicht kindisch, aber ich will nicht alleine schlafen. Ständig tauchen diese Bilder wieder auf. Ich ...“ hilflos schweige ich. Wie muss das klingen für ein Mädchen wie Lou. Fast wie ein Antrag! Dabei will ich wirklich einfach nur schlafen und mich dabei sicher fühlen.
Lou drückt sich an mich. „Mir geht’s genauso. Einfach nur jemanden neben sich spüren und sich sicher und geborgen fühlen. Mit seinen Gedanken nicht allein sein müssen.“
„Ja!“
„Dann lass uns schlafen gehen. Ich stecke deine Sachen gerade noch in den Trockner. Die Maschine müsste fertig sein.“ Lou steht auf und ist nach zwei Minuten zurück. „Komm!“ Sie streckt mir ihre Hand hin. Ich ergreife sie. Die Decke rutscht mir von den Schultern. Ich will sie fest halten, aber sie fällt schon zu Boden.
„Lass sie einfach liegen“, murmelt Lou und zieht mich mit sich.
Ich höre das Zwitschern von Vögeln. Ich mache zögernd die Augen auf und sehe, dass der erste Schimmer des neuen Tages dem Himmel schon eine tiefgraue Färbung gegeben hat. Neben mir höre ich Lous gleichmäßige Atemzüge.
Still bleibe ich liegen und horche in mich hinein. Da ist immer noch diese grenzenlose Leere und Erschöpfung. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, jetzt aufzustehen und irgendetwas zu tun. Was auch? Was wartet denn noch auf mich in diesem Land?
Ganz tief in mir regt sich ein leiser Widerspruch: Was ist mit meinen Träumen zum Beispiel? Soll ich wirklich nur deswegen das ganze Studium hinschmeißen? Das wäre doch bescheuert! Ich hätte nie wieder so eine Chance!
Ich will diese Gedanken nicht und wälze mich zur Seite. Lou liegt zusammengerollt wie ein Kätzchen neben mir und rührt sich nicht.
Nur nicht nachdenken! Eine bleierne Müdigkeit scheint alle meine Glieder zu lähmen. Ich schließe die Augen und versuche, wieder einzuschlafen, aber es gelingt mir nicht. Wie eine Flutwelle strömen die Ereignisse des gestrigen Abends auf mich ein.
Ich wälze mich auf die andere Seite und starre an die Wand. Dort hängt ein Farbdruck der Sternennacht von Vincent van Gogh. Ich versuche, meinen Blick darauf zu konzentrieren, um mich von diesen anderen, hässlichen Bildern zu befreien. Aber sie füllen meinen Kopf wie ein klebriger Brei. Sie wollen sich nicht verdrängen lassen. Sie sind wie diese wirbeligen, unruhigen, dicken Pinselstriche, die den Nachthimmel über dem kleinen Ort auf dem Gemälde bedecken.
Wie zerrissen muss van Gogh gewesen sein, als er dieses Bild malte? Es ist, als hätte er meine Stimmung einfangen wollen. Diese Wirbel und Striche und Kreise wirken bedrohlich, stürmisch und unheimlich. Ich komme nicht zur Ruhe.
Mit offenen Augen und unfähig mich zu bewegen, denke ich an gestern Abend: Ich sehe wieder Alicias abschätzenden Blick, den Triumph in ihren Augen, als sie merkt, wie sehr sie mich getroffen hat. Ich drehe mich auf den Rücken und streiche verzweifelt mit den Händen über mein Gesicht. Es ist, als wolle ich Spinnweben entfernen. Kann es wirklich möglich sein, dass sie die Wahrheit gesagt hat?
Sie ist scharf auf Diego, hat Hercule gesagt. Warum also sollte sie zu mir ehrlich sein? Sie will mich loswerden, damit sie Diego für sich hat. Warum also sollte sie mir – ausgerechnet mir – die Wahrheit sagen? Könnte es sein, dass sie mich angelogen hat? Aber woher wusste sie dann von dem Dreizack auf meinen Unterlagen, dem Symbol von Stavros, dem Hacker?
Unruhig drehe ich den Kopf zur Seite und versuche mich in eine bequeme Lage zu bringen. Ich will wieder zur Ruhe kommen, aber mein Herz rast. Mit fällt ein, wie Lou heute Nacht so überzeugt gesagt hat, dass das niemals Diegos Art wäre. Was, wenn sie Recht hat und Diego nichts davon wusste?
Ich drehe mich wieder auf die Seite und rutsche ein wenig auf Lou zu, um ihre Nähe zu spüren. Fest presse ich die Augen zusammen. Tränen treten hervor. Ich will nicht mehr weinen! Ich will nicht mehr grübeln! Bitte geht weg – Gedanken!
Lou bewegt sich ein wenig und berührt mich sachte an der Hüfte. Ich drücke mich noch etwas fester an sie. Das tut so gut.
„Ey, Lana, beruhige dich, alles wird gut!“, murmelt Lou schlaftrunken. Ihre warme Hand liegt auf der nackten Haut zwischen T-Shirt und Slip, fast auf meinem Bauch. Ich lege meine Hand darauf und verstärke den Druck. Ich spüre die Wärme ihres Körpers an meinem Rücken. Ihre gleichmäßigen Atemzüge beruhigen mich. Langsam gleite ich wieder in einen leichten Schlaf.
Ich sehe Diego, wie er auf der Golden Gate Bridge nach mir sucht. Er ruft verzweifelt meinen Namen und springt schließlich ins Wasser, um mich zu finden. Ich tauche mit ihm in die kalte Dunkelheit hinab und versuche mich bemerkbar zu machen. Aber er sieht mich nicht, denn in Wirklichkeit bin ich tot.
Erschrocken fahre ich hoch. Nein! Ich bin nicht tot! Ich bin hier! Diego! Ich liebe dich doch! Deinetwegen bin ich doch nach Berkeley gekommen! Verschwitzt sitze ich im Bett und ringe keuchend nach Luft. Das graue Licht des frühen Morgens lässt mich die wirren Pinselstriche der Sternennacht gerade so erkennen. Ich sitze da und starre das Gemälde an. Habe ich einen Gedankenimpuls von Diego empfangen? Ist er wirklich in die Bay gesprungen, um mich zu suchen?
03 ERWACHEN
Mit geschlossenen Augen liege ich im Bett. Ich rieche frisch gebrühten Kaffee. Ich rekele mich wohlig. Ich bin zu Hause, in Paris, in meinem Zimmer. Meine Gedanken sind noch traumverhangen. Maman wird schon Kaffe gekocht haben. Der Duft holt mich langsam in die Wirklichkeit.
Ich öffne die Augen. Mein Blick fällt auf das Bild an der weißen Wand: die Sternennacht! Schlagartig bin ich wach. Die Erinnerungen überschwemmen mich wie eine Woge. Hastig setze ich mich auf und schaue mich um. Neben mir liegt das verwühlte Bettzeug, in dem Lou geschlafen hat. Es war also eindeutig kein Traum. Ich habe tatsächlich mit Lou zusammen in ihrem Bett geschlafen. Mir wird ganz heiß. Aber ich erinnere mich auch, wie gut mir ihre Nähe getan hat.
Die Tür zum Balkon über der Terrasse ist geöffnet. Ein leichter, milder Wind bauscht sanft die weißen Organzavorhänge. Ich atme tief die würzige Luft von Kiefern und Meer ein, stehe auf und beschnüffele erst mal meine Jeans, die frisch gewaschen auf Lous Schaukelstuhl liegt. Auch die Chucks sind wieder in Ordnung. Nichts erinnert mehr an die Revolte meines Magens in der letzten Nacht. Ich schlüpfe in meine Sachen und gehe leise die Treppe hinunter in die Küche.
„Ey Lana, da bist du ja!“ begrüßt mich Lou mit ziemlich zerzausten Haaren und einem verlegenen Lächeln. „Wie geht’s dir? Ich hab schon mal Frühstück gemacht. Ich dachte, wir setzen uns auf die Terrasse, was meinst du?“ Geschäftig läuft sie in der Küche hin und her, räumt alle möglichen Leckereien auf ein Tablett und scheint sich vor meiner Antwort zu fürchten. Warum weicht sie meinem Blick aus? Warum ist sie so unsicher? Ich beobachte sie erstaunt, weiß nicht so recht was ich machen soll und suche nach Worten.
Plötzlich bleibt Lou mitten in der Küche stehen. Sie hält den Ahorn-Sirup für die Pancakes in der Hand und sagt: „Ja, ich fürchte mich Lana. Ich habe Angst, dass du einfach wieder so verschwindest, wie beim letzten Mal.“ Ihre dunklen Augen schauen mich ganz ernst und ein bisschen traurig an.
Ich