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Immer mutig. Paul Scheerbart
Читать онлайн.Название Immer mutig
Год выпуска 0
isbn 9783742766236
Автор произведения Paul Scheerbart
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Da suchte ich denn in meinen Taschen und blätterte in allen
meinen Sachen, schüttelte oft den Kopf und gab dem freundlichen
Nilpferd schließlich eine Geschichte, die mir in diesem Falle zu
passen schien.
Das kleine Tier setzte sich eine blaue Brille auf, ging mit
meinen Blättern wieder zum Schaukelstuhl, ließ sich auf diesem
vorsichtig nieder und las:
Lichtwunder
Nacht! Nacht!
Lauter dunkle, schwarze Räume.
Ich schwebe so dahin und weiß nicht, wo ich bin –
aber ich schwebe in der unendlichen Finsternis ruhig
weiter.
Da zuckt was in der Ferne auf – ein kleines
Pünktchen Licht!
Und nun weiß ich, wo ich mich befinde – ich fliege
durch jene große Nachtkugel, die weit hinter dem leeren
Raume mitten im großen Lichtmeere schwimmt, das in
jedem Atome so hell ist wie eine echte Sonne ohne
dunklen Kern.
Es gibt im Lichtmeere viele hohle Nachtkugeln – aber
meine Nachtkugel ist die dunkelste.
Und doch – es ist nicht Alles so dunkel, wie's aussieht.
Da drüben der Lichtpunkt wird immer größer – und
jetzt schießen zwei feine Lichtkegel, die so schwanken, an
mir vorüber.
Und – in den Lichtkegeln?
Lichtwunder!
Da fängt es gleich zu leben an – Milliarden zierliche
Flügelchen glitzern und flimmern – und leben – einen
kurzen – aber seligen – Lichttag.
Und nach dem schwebe ich wieder in der unendlichen
Finsternis.
Es dauert aber nicht lange – und von neuem schießt
aus einem Spalt der Kugelschale ein linsenförmiger
Lichtstreifen – breit wie ein Schwert.
Und wie vorhin lebt gleich in dem Lichtstrahl was auf
– eine wilde Weltenjagd – unzählige kleine schillernde
Blasen – dies Mal sind's lauter Welten mit edelstem
Weltengewürm.
So ist das Dasein im großen Reiche der Nacht.
Es wird immer wieder hell.
Und die Lichtstrahlen erzeugen mit immer wieder
frischer Kraft unzählige Lichtwunder – Engel und Sterne,
Fledermäuse und Paradiesvögel – Diamanten und
Weltgestalten in immer neuer Lichtwunderform.
Ich weiß: unsre Augen könnten das Lichtmeer
draußen nicht ertragen – wir würden draußen erblinden –
daher die schützende Kugelschale.
Aber unsre Augen sind nicht schlechte Augen – sie
sind nur so fein und empfindlich, daß die dämpfende
Nacht die feinen empfindlichen Augen immer wieder
stärken muß – zum Genuß der ewigen Lichtwunder in
der Nachtkugel.
Augen, die draußen das Lichtmeer ohne Schaden
ansehen können, sind schrecklich grob.
Das Nilpferdchen hatte beim Lesen auf jeder der beiden dicken
Vorderpfoten eine Pincette. Und mit den beiden Pincetten konnte
das Tier sehr gewandt meine Blätter halten und umdrehen.
Nach der Lektüre fächelte sich das Tier vom Strande des
heiligen Nil mit meinen Blättern ein wenig Kühlung zu und sagte
leise:
»Das war so schmerzlich grade nicht, denn der Wert der
Dunkelheit wird ja auch gleich im richtigen Lichte gezeigt. Hast
Du nicht eine längere Sache, die wenigstens schmerzlich endet? Mir
scheint – doch davon nachher.«
Ich suchte wieder in meinen Taschen, und dann ließ ich das
kluge Nilpferd dies hier lesen:
Die wilde Kralle
Ein Raketen-Scherzo
Ich kletterte immer höher; es ging ja so leicht.
Die Astknorren waren nicht zu dick und nicht zu
dünn – grade so recht.
Aber die Spitze der Tanne konnt' ich nicht erreichen,
so eifrig ich auch klettern mochte.
Es war doch ein schrecklich hoher Baum.
Er war bedeutend höher, als ich dachte.
Einmal, als ich runtersah, kam mir's so vor, als wäre
die Erde unten längst unsichtbar geworden.
So hoch im Weltall zu sein, erschien mir da ein stolzes
Vergnügen zu sein.
Ringsum kein andrer Baum – kein Stück Erde – kein
Stück Wasser – nur Himmel – nichts als Himmel – mit
unzähligen seligen Sternen.
Mit stiller Andacht starrte ich in den großen Himmel.
Und der Himmel schien mir plötzlich so eng und
begrenzt – wie eine kleine Dorfkirche.
Da knisterte was unter mir.
Ich weiß nicht mehr genau, wie's war – ich sah nur
allmählich, vor mir an der sternbestickten Himmelsdecke
eine weiß schimmernde Riesenkralle zitternd
emporsteigen.
Und die Riesenkralle krallte sich in die sternbestickte
Himmelsdecke fest und riß ein großes unregelmäßiges
Loch hinein; die Eckfetzen flatterten steif ab, als wenn
ein starker Wind durch das Loch mich anbliese.
Und ich schaute durch die flatternden Eckfetzen in
eine andre Welt, die größer ist als unsre kleine
Dorfkirchenwelt.
Dort hinten – weit hinter unserm Fixsternhimmel –
war der Hintergrund tiefschwarz und unendlich tief.
Und in der Mitte dieser anderen Unendlichkeit stiegen
langsam zwei goldene Riesenraketen empor, die aus
lauter goldenen Sonnen bestanden; sie perlten immer
höher wie langsam aufsteigende Riesenfontänen.
Aber die Raketen gehen nicht grad in die Höhe, sie
biegen sich nach allen Seiten wie alte Baumstämme, die
oft vergeblich nach dem Lichte strebten.
Und sie werden immer größer.
Und sie bekommen wie die Baumstämme Äste.
Die rechts sich aufreckende Rakete hat keine Ecken;
sie biegt sich, wie Schlangenleiber sich biegen.