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mich nicht mehr verschlossen.

      5 Marie

      Der Blizzard tobte weiter durch sein Leben, und er genoss jede Sekunde. Sie fuhren Mountainbike, gingen danach schwimmen und abends zum Tanzen. „Wirst du eigentlich nie müde, Marie?“, fragte Severin, aber sie lachte nur und zog ihn wieder auf die Tanzfläche. „Wir sollten uns einen Hund anschaffen“, sagte sie auf dem Heimweg, für den sie natürlich die Fahrräder nahmen.

      „Bist du verrückt?“, entgegnete er. „Dann hätten wir einen Grund, jetzt noch einen schönen langen Spaziergang zu machen“, sagte sie. „Marie, es ist 2 Uhr morgens.“ „Eine hervorragende Zeit für einen Spaziergang.“ „Wirst du eigentlich nie müde?“, drehte sich ihr Gespräch im Kreis.

      „Wenn du ein Teil einer Waschmaschine wärst, was wärst du, Severin?“, fragte sie am nächsten Morgen beim Frühstück. „Das Flusensieb.“ „Und wenn du ein Paar Schuhe wärst?“ „Grüne Gummistiefel, kniehoch. Gibst du mir mal die Marmelade?“ „Erst wenn du mir sagst, in welcher Zeit du am liebsten leben würdest. Ich fände Altsteinzeit cool. Kein Besitz, kein Streit, ich würde Beeren sammeln und Kinder stillen, völlig egal, ob es meine sind oder nicht und …“ „Marie, die Marmelade bitte.“ „… die Marmelade wäre dann natürlich selbst gemacht“, sprach sie weiter.

      „Die ist selbst gemacht. Aus dem Garten unten.“ „Ich muss deine Mutter kennenlernen“, sagte sie. „Ihre Tür ist immer offen. Klopfen brauchst du nicht, das erschreckt sie nur.“ Marie lachte. „Aber eine wildfremde junge Frau in ihrer Küche, die erschreckt sie nicht, was?“ „Ich glaube nicht.“

      „Also, was ist jetzt, in welcher Zeit möchtest du am liebsten leben?“ „Fändest du es langweilig, wenn ich sagen würde, genau jetzt?“ „Das Jetzt widerspricht den Spielregeln.“ „… die natürlich du festlegst.“ Marie verdrehte die Augen. „Jetzt sag doch mal!“ Severin dachte nach. „Inkas“, sagte er dann, „aber nur, wenn du erstens sicherstellen kannst, dass die Spanier nicht kommen.“ Marie wartete. „Und zweitens?“ „Wenn du mich zweitens nicht fragst, warum.“

      Sie schaute auf die Uhr. „Ach, du liebe Zeit, schon so spät? Ich muss los. Tschau, Severin!“ Und schon war sie weg. „Kein Problem, Frau Lichtlein, ich habe Ihnen gern Frühstück gemacht“, murmelte er vor sich hin, „ja, ich liebe Sie ebenfalls. Bis heute Abend, Schatz.“ Was hatte er nur getan, ehe Marie in sein Leben gestürmt war? Ach, Marie! Er räumte den Tisch ab.

      Wie würde er jemandem, der sie nicht kannte, Marie beschreiben? Marie war lebhaft, immer gut gelaunt, hilfsbereit, gesellig, sprühte nur so vor Ideen, eine ausgezeichnete Köchin und schon so viel in der Welt herumgekommen, dass er sicher war, die Reiseberichte würden ihr in diesem Leben nicht ausgehen. Und sie liebte ihn, auch wenn er keine Ahnung hatte, warum.

      „Wir sollten Kinder bekommen, lauter kleine Severins“, sagte sie. „Ich war ein furchtbares Kind“, gab er zu bedenken. „Los, lass‘ uns sofort ins Bett gehen und Klein-Severin zeugen. Ich will wissen, wie du als Kind warst!“ Wann immer er Bedenken äußerte, lachte sie sie weg. „Du führst so ein aufregendes Leben!“, rief sie manchmal.

      Severin hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Er war 23, lebte in der Einliegerwohnung seiner Mutter, arbeitete bei der Stadtverwaltung und das Aufregendste, was er je erlebt hatte, war einmal 20 Minuten in einem Aufzug steckengeblieben zu sein. Da war er sieben Monate alt gewesen und konnte sich an nichts erinnern.

      Sein Handy vibrierte. Bin wieder in Deutschland. Sag Linda nichts. Mensch, Felix! Endlich meldete er sich. Seine letzten Tage bei Linda im Mai waren im Blizzard seines eigenen Lebens irgendwie verschüttet gegangen. Wir haben uns gar nicht richtig verabschiedet, schrieb er zurück. Machen wir beim nächsten Mal, kam die Antwort von Felix. Wo bist du? Sehen wir uns?, schrieb Severin. Später schrieb Felix. Ich bin verliebt, schrieb Severin, weil er Felix nicht nur ausfragen, sondern auch etwas von sich erzählen wollte. Wow, schrieb Felix nur. Severin antwortete nicht mehr. Später meldete sich Felix noch einmal. Bitte sag Linda nichts. Ich brauche noch Zeit. Na, den Gefallen konnte er ihm auf jeden Fall tun.

      Es läutete an der Tür. „Hallo Severin, wo waren wir stehen geblieben?“, fragte Marie. „Was machst du denn schon wieder hier? Musstest du nicht gerade eben ganz dringend los?“ Verblüfft gab er Marie einen Kuss. „Ich war noch nicht einmal in der Stadt, da kam eine Nachricht, dass meine Konferenz verschoben ist. Also dachte ich, ich kehre um und mache von deinem Angebot Gebrauch“, sagte Marie. „Welches Angebot?“ „Na, bei deiner Mutter reinzuplatzen und ihr das Rezept für ihre Brombeermarmelade abzuschwatzen. Die ist göttlich. Wir haben bestimmt viel zu quatschen. Wir sind doch quasi Kolleginnen.“

      Damit hatte sie allerdings recht. Linda übersetzte Bücher aus dem oder ins Spanische. Marie war Simultandolmetscherin, ein Sprachgenie. So hatte sie auch ihre vielen Auslandsreisen finanzieren können. „Du brauchst nur gutes Internet, eine technisch gute Ausstattung und ein Plätzchen, wo du in Ruhe arbeiten kannst. Dann kannst du irgendwo am Strand sitzen und gleichzeitig in Konferenzen übersetzen. Und schon klingelt die Reisekasse.“

      Marie war zweisprachig aufgewachsen und sprach noch weitere Sprachen fließend. Als Dolmetscherin war sie bekannt und begehrt. Sie hatte immer zu tun und konnte etwas, das Severin jedes Mal wieder in Erstaunen versetzte: Sie konnte umschalten von einer Sekunde auf die andere.

      Sie saßen im Biergarten und redeten über Gott und die Welt, Maries Handy gab ein bestimmtes Signal, und schwupp, klappte sie an Ort und Stelle ihr Notebook auf, setzte ein spezielles headset auf und ging ihrer Arbeit nach. „Für mich ist das keine Arbeit. Übersetzen gehört zu meinem Leben wie Zähneputzen und Blumengießen.“ Sie würde Linda sicher gefallen. Marie hatte recht: Es wurde Zeit, dass sie einander kennenlernten.

      6 Auf dem Friedhof

      Das letzte Stück fuhr er mit dem Taxi. Öffentliche Verkehrsmittel schienen hier nach wie vor ein Fremdwort zu sein. Wenigstens das hatte sich seit seiner Kindheit nicht geändert. Zum Glück war er mit den Krücken mittlerweile so geübt, dass ihm der Kies auf einem Teil des Weges nicht viel ausmachte.

      Ohne Hilfe kam er seinem Ziel näher. Hoffentlich erinnerte er die Stelle richtig. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Damals hatte er schwarz getragen wie sein Vater, seine Schwester und alle anderen Besucher der Trauerfeier auch. Hier, gleich in der nächsten Reihe links musste es sein.

      Roswitha Breitenbach, geborene Mager, seine Mutter. Kurz vor dem Abschluss seines Studiums war sie gestorben. Sein Medizinstudium, das er nur begonnen hatte, um ihr Leben zu retten. Wie wohl sein Leben ohne diesen verdammten Brustkrebs verlaufen wäre? Wäre er heute Oberstudienrat für Chemie und Biologie am heimischen Gymnasium, so wie er es immer gewollt hatte? Hätte er ein lässiges Studentenleben mit Partys, Mädchen und Reisen gehabt und nach dem Referendariat eine Kollegin geheiratet, Englisch/ Geschichte vermutlich? Wäre das sein Leben gewesen? Das Leben, das er selbst gewählt hätte?

      Stets hatte er den Eindruck gehabt, in alles, was sich ereignet hatte zufällig hineingeschlittert zu sein. Nichts davon hatte er selbst bestimmt. Eine Suppe nach der anderen löffelte er aus. Aber kaum eine hatte er sie sich selbst eingebrockt oder zumindest nicht mit Absicht. Und was außer dieser Suppe noch alles auf der Speisekarte gestanden hatte, konnte er nicht sagen. Das hätte sowieso nichts geändert. Und jetzt war das Restaurant geschlossen.

      Er versuchte, sich an seine Mutter zu erinnern. Zahlreiche Bilder, Eindrücke, Szenen erstanden in seinem Kopf. Auf keinem dieser Bilder hatte sie sich ausgeruht. Sie hatte in einen Bauernhof eingeheiratet und wusste, was auf sie zukommen würde. Ein Leben in Arbeit. „Ich schlafe, wenn ich alt bin“, hatte sie stets erwidert, wenn er sagte, sie sehe müde aus und solle kürzer treten. Alt war sie aber nicht geworden.

      Ach, Mama! Auf dem Breitenbach-Hof hatte es keine Spiele-Abende und keine Urlaubsreisen gegeben. Auch keine sonntäglichen Familienspaziergänge. Auf dem Hof hatte es das Vieh gegeben, die

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