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wirkte dagegen lupenrein, sogar der Kronleuchter, der mehrere Meter über den Boden hing, war ohne Staub gewesen.

      In diesem Moment betrat Mrs. Sterling den Raum. Sie war älter, als John sie sich vorgestellt hatte. Sie wog etwa 65 Kilo, war nicht sonderlich groß und trug einen mittellangen, blauen Rock mit einer dazu passenden Bluse. Die Haare waren schulterlang und dunkelbraun, und selbst das Make-up passte perfekt zu ihrem Outfit. Sie wirkte smart und selbstbewusst. Außer mit dem Alter lag John mit allen seinen Vermutungen richtig.

      Ihre bestimmte, aber doch sanfte Stimme erklang. „Guten Tag, Mr. Down. Ich hoffe, Sie mussten nicht zu lange warten. Wie war die Fahrt von London in unser kleines Steakbeaver?“

      „Sehr gut, danke!“

      „Dann kommen wir gleich dazu, warum Sie hier sind. Ich habe Ihnen ja am Telefon schon erklärt, dass meine Enkelin vermisst wird. Seit zwei Monaten ist sie verschwunden, und ich mache mir große Sorgen. Erst vor einem halben Jahr ist sie von London zurückkehrt. Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, und ich habe diesen immer und immer wieder durchgelesen, aber ich kann das dort Geschriebene einfach nicht glauben.“ Mrs. Sterling übergab John den Brief.

      Aufmerksam las er ihn.

       Liebe Großmutter, ich habe beschlossen, Steakbeaver wieder den Rücken zu kehren. Ich wollte in der Firma mithelfen, aber das ist einfach nicht mein Ding. Es tut mir leid, aber Du hättest es nicht verstanden, und darum gehe ich einfach. Mach Dir keine Sorgen. Deine Susan

      John drehte das Schriftstück um, doch außer diesen Zeilen war auf dem Papier nichts zu finden. „Also, Sie denken nicht, dass Ihre Enkelin einfach gegangen ist?“

      Mrs. Sterling schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht, denn obwohl sie schon ihren eigenen Kopf und auch mal die eine oder andere Dummheit begangen hat, ist so ein Abschiedsbrief einfach nicht ihre Art. Ich weiß, dass ich immer sehr streng zu ihr war und auch ihre Schauspielausbildung in London nicht für gut befand, aber sie hätte doch mit mir gesprochen, bevor sie gegangen wäre. Außerdem hat sie in letzter Zeit gar nicht unglücklich auf mich gewirkt. Für mich ergibt das alles keinen Sinn.“

      John legte den Brief auf den Tisch. „Ich verstehe Sie, doch bisher habe ich noch nie einen Vermisstenfall betreut. Warum haben Sie ausgerechnet mich angerufen?“

      „Wissen Sie, Mr. Down, wir sind eine sehr reiche und angesehene Familie hier in England. Alles, was wir tun, wird von den Medien verfolgt, und wenn ich jetzt einen bekannten Detektiv angeheuert hätte, würde das nur wieder die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Diese Familie hat in den letzten Jahren schon zu viel durchgemacht. Das alles noch einmal durchzustehen, würde uns die letzten Kräfte rauben. Ich wollte damit jetzt nicht Ihre Integrität infrage stellen, sondern nur Ihre Frage auf das ‚Warum‘ beantworten.“

      John beobachtete das Mienenspiel von Mrs. Sterling genau, vielleicht nur aus Gewohnheit, aber in den vielen Jahren bei Scotland Yard hatte er gelernt, dass nicht immer jeder die Wahrheit sagt, obwohl er um Hilfe bittet. „Sie erzählten mir vorhin, dass Ihre Enkelin in letzter Zeit nicht unglücklich schien. Heißt das, dass sie zuvor unglücklich war?“

      „Nein, so würde ich das nicht sagen. Es ist nur so, dass vor fünf Jahren ihre Mutter, also meine Schwiegertochter Claire, Selbstmord beging, und das Mädchen in der darauf folgenden Zeit einfach nicht damit umgehen konnte. Teilweise verleugnete sie sogar den Tod ihrer Mutter und tat so, als würde diese noch leben. Es wurde immer schlimmer, bis ich ihr gestattete, eine Ausbildung zur Schauspielerin in London zu beginnen. Daraufhin besserte sich ihr Zustand. Ich half ihr, die Aufnahmeprüfung zu bestehen, und ließ meine Kontakte spielen. Ich tat alles für meine Enkelin, und auch heute ist das noch so.“

      John bemerkte, dass Mrs. Sterling keine besondere Regung bei der Erzählung des Selbstmordes ihrer Schwiegertochter zeigte. „Ich verstehe. Wie war denn Ihr Verhältnis zu Claire?“

      „Warum fragen Sie mich das? Ich meine, ja, ich gebe es zu, das Verhältnis zu meiner Schwiegertochter war nicht das Beste, aber den Tod habe ich ihr auch nicht gewünscht. Es war für alle sehr belastend, seit damals mein Enkelkind Chris umgebracht wurde. Er war doch noch so jung. Er wurde Opfer eines banalen Raubüberfalls, ganz hier in der Nähe. Wir konnten es alle nicht fassen, doch Claire hörte nie wieder auf zu trauern. Sie lag den ganzen Tag nur im Bett und weinte. Und wenn sie das nicht tat, saß sie einfach nur da und starrte in die Ferne. Es war irgendwie unheimlich. Wir holten die besten Psychologen, doch niemand konnte zu ihr durchdringen. Sie war in ihrem eigenen Gefängnis eingesperrt, und ich denke, sie wollte auch nicht mehr heraus. Fünf lange Jahre dauerte diese Tortur, bis sie sich eines Tages in die Pulsadern schnitt und vom obersten Balkon der Villa in die Tiefe sprang. Susan hörte ihre Mutter und sah sie dann blutüberströmt auf dem Vorplatz liegen. Sie war auf der Stelle tot. Unsere Familie muss endlich zur Ruhe kommen. Also bitte, finden Sie sie.“

      John hatte aufmerksam zugehört und die Fakten für sich gesammelt. Er holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche seines Mantels, den er noch immer nicht abgelegt hatte, und kritzelte einige Wörter hinein. Dann dachte er nochmals kurz nach. Claire hatte sich also umgebracht, weil ihr Sohn getötet worden war. Und Susan war nun verschwunden, weil sie nicht mehr hier sein wollte, was ja auch nur verständlich war, denn immerhin hatte sie hier den Selbstmord ihrer Mutter mitbekommen. Für John sah die Sache eindeutig aus, doch zuerst wollte er noch mehr Fakten sammeln. „Könnte ich vielleicht mit Ihrem Sohn sprechen?“

      „Nein, mein Sohn ist mit meinem Ehemann auf Geschäftsreise. Sie treffen erst in zwei Tagen wieder hier ein.“

      „Könnte ich das Zimmer von Susan sehen? Vielleicht finden wir dort noch einen Hinweis.“

      „Ja, natürlich. Ich begleite Sie hoch. Das Zimmer von Susan liegt im ersten Stock.“

      John folgte Mrs. Sterling in die obere Etage. Auch dort bot sich das gleiche Bild von Protz und Dekadenz. Selbst der Gang in Susans Zimmer war aufwendig gestaltet. Kleinere Bildhauereien gestalteten die Wände, und an die Decke war ein Kunstwerk gepinselt, fast wie in einer Kirche. Nur dass es keine Heiligen zu sehen gab – es waren ausschließlich Engel, die einen Weg in den Himmel suchten. Schöne Kunst, würde man dazu sagen, oder einfach nur der Wahn des Geldes war daran schuld. Wie dem auch sei, für diesen Fall war das nicht wichtig.

      Mrs. Sterling öffnete die Tür zum Zimmer, und John trat vorsichtig ein. Es wirkte sehr jugendlich – Poster an den Wänden, und George Clooney war wohl ein Idol von ihr. Ein großer Spiegeltisch aus Eiche stand neben einem weißen Kleiderkasten, und auf dem Spiegel klebte ein Foto. „Mrs. Sterling, wer sind diese beide Personen dort auf dem Foto?“

      „Ach, das sind unsere kleine Susan und mein Sohn James, also ihr Vater.“

      John nahm das Bild ab und drehte es um. Auf der Rückseite stand nur geschrieben Dis la vérité. Alles war ordentlich aufgeräumt, das Bett war gemacht, eine ungeplante Abreise schien angesichts des Zimmers unwahrscheinlich. „Mrs. Sterling, ich hatte vorher ganz vergessen nachzufragen, ob sie meinen, dass Susan den Brief selbst geschrieben hat?“

      „Wenn ich ehrlich bin, kann ich das nicht ganz beantworten, denn sie hatte schon immer eine sehr ungewöhnliche Handschrift. Manchmal schrieb sie so und ein anderes Mal sah es ganz anders aus. Ich habe das zuvor auch noch nie bei jemandem beobachtet, doch wie ich Ihnen vorher schon erzählt habe, schließe ich aus, dass sie einfach so gegangen ist. Ich weiß, was Sie denken: Ihre Mutter ist hier gestorben, und Sie glauben, dass sie es hier nicht mehr ausgehalten hat, aber ich glaube, das stimmt nicht, nein, ich weiß es, glauben Sie mir, Mr. Down.“

      John hatte jede Regung von Mrs. Sterling genau verfolgt. Immer wenn sie von ihrer Enkelin sprach, war sie sehr emotional. Die einzige Schlussfolgerung war, dass sie sich wirklich Sorgen machte. Er durchsuchte das Zimmer weiter. Auf dem roten Bettüberzug entdeckte er ein dunkelbraunes langes Haar. Er zog eine kleine Plastiktüte aus der Innentasche und steckte es hinein. John war immer auf alles vorbereitet, denn er wusste, dass ein guter Detektiv immer an alles denken musste und dass jede Spur, sei sie noch so klein, von Bedeutung sein könnte. John hakte nach. „Mrs. Sterling, welche Haarfarbe hatte Ihre Enkelin eigentlich zuletzt? Sie wissen ja, die jungen Leute von heute ändern diese ja sehr

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