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Geschichten, die Mut machen. Leo F. Aichhorn
Читать онлайн.Название Geschichten, die Mut machen
Год выпуска 0
isbn 9783991300588
Автор произведения Leo F. Aichhorn
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Landleben im 20. Jahrhundert
Am 5. März 1920 kam Ludwig auf einem Bauernhof in einer Nachbargemeinde von Linz, der Landeshauptstadt von Oberösterreich, auf die Welt. Die Vorfahren von ihm wurden nach der Aufhebung der Erbuntertänigkeit im Jahr 1848 Grundeigentümer des dortigen Bauernhofes und Betreiber einer eigenen Landwirtschaft. Ludwig war das dritte Kind seiner Eltern und bekam noch den jüngeren Bruder Franz, der als Hoferbe vorgesehen war. Ludwig lernte seinen Vater nicht wirklich kennen, da er krankheitsbedingt starb, als er sechs Jahre alt war. Seine Mutter führte mit ihren Kindern und dem Gesinde den Bauernhof auf den Ausläufern des Pfenningberges weiter. Der Hof war alt und mit Stroh gedeckt, nur die bescheidenen Wohnräume mit kleinen Fenstern und die Stallungen waren aus einem Gemisch von Steinen und Ziegel gemauert. Scheune und Heuboden waren aus heimischem Holz errichtet. Umgeben war das landwirtschaftliche Anwesen von hügeligen Feldern, Wald, blumigen Wiesen und zahlreichen Obstbäumen, um ausreichend Most als wichtigstes Getränk für die schwer arbeitenden Menschen verfügbar zu haben.
Im Gegensatz zum urbanen Leben in den größeren Städten des deutschsprachigen Raumes, wo im 19. Jahrhundert eine Gesellschaft aus Aristokratie, aus einer einflussreichen Kirche, einem zwischenzeitlich entstandenen Geldadel und einem gebildeten Bürgertum etwa aus Ärzten, Lehrern und Beamten bestand, sorgten auf dem Land einfach gebildete Menschen für die Produktion von Nahrungsmitteln. Bildungsmöglichkeiten und Kulturzentren waren weit weg und für die zu Fuß gehende Landbevölkerung kaum erreichbar und schon gar nicht finanziell erschwinglich. Als wichtigste Veranstaltungen am Land galten kirchliche Feiertage bzw. Festivitäten, die von den örtlichen Blasmusikkapellen umrahmt wurden. Hausmusik und Traditionen erfüllten das kulturelle Bedürfnis der Menschen auf dem Land.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren etwa drei von vier erwerbstätigen Personen in der Landwirtschaft beschäftigt. In der Mitte dieses Jahrhunderts waren es immer noch mehr als ein Drittel. Die zahlreichen und vielfältigen Arbeiten mussten mit den Händen vorgenommen werden. Und Hände konnten an einem Bauernhof nicht genug sein. Daher hatten die Menschen auf dem Land viele Kinder zur Arbeit und zur Altersversorgung. Ein Phänomen, das heute noch in vielen Entwicklungsländern zu beobachten ist.
Die Ausstattung von Bauernhöfen in der Zwischenkriegszeit war für heutige Verhältnisse unvorstellbar: Pferde und Ochsen waren die einzigen Zugtiere für Holzwägen, Pflüge und Eggen. Nutztiere wie Rinder und Schweine wurden aus baulichen Gegebenheiten meist in schwer zugänglichen Ställen gehalten, die ein Füttern und Entmisten zur Schwerstarbeit machten. Hühner, Enten und Gänse waren in den Gärten, auf dem Misthaufen und in allen Bereichen des Bauernhofes anzutreffen. Nicht selten auch in Wohnbereichen. Die hygienischen Bedingungen für Menschen waren nach heutigen Maßstäben katastrophal: Striegel und Bürsten zur Fellpflege von Pferden und Rindern waren öfter vorzufinden als Zahnbürsten. Duschen oder Baden mit Warmwasser war in Ermangelung von Badewannen und warmem Fließwasser nicht möglich. Die wöchentliche Körperreinigung erfolgte meist in der Form, dass Wasser am Holzofen erwärmt, in Lavoirs oder Bottiche gegossen wurde, wo die Menschen das Wasser zum Waschen entnahmen. Nicht selten diente das gebrauchte Wasser für einen weiteren Waschvorgang. Während der heißen Heu- oder Getreideerntezeit suchten die verschwitzten Landarbeiter auch Abkühlung in einem Bach. Mit der von zu Hause mitgenommenen Seife wurde gleichzeitig die Ganzkörperreinigung vorgenommen. Das klarfließende Wasser in den Bächen wurde von den Anwohnern auch zum Waschen ihrer Wäsche verwendet. Webereien und Färbereien nutzten die naturbelassenen Fließgewässer für ihre Produktionsprozesse ohne Abwasserreinigungsanlagen, woran noch die Namen „Bleicherbach“ erinnern. Geschlafen wurde meist auf Strohsäcken, was nicht wirklich zur Entspannung beitrug. Das Gesinde hatte eine klare und straffe Organisationsstruktur: Bauernknechte und Bauerndirnen (-mägde) waren die Wichtigsten in der Hierarchie, dann kamen die einfachen Knechte und Dirnen (Mägde), denen Schweine- und/oder Kuhdirnen (-mägde) folgten. Letztere waren entweder für die Schweine oder die Kühe verantwortlich. Das sogenannte „Mensch“ war die Letzte in der Hierarchie und Mädchen für alles. In dieser hierarchischen Abfolge durften sich die Angestellten nach dem Bauern und der Bäuerin am gemeinsamen Mittags- oder Abendtisch bedienen. Die Suppe wurde gemeinsam aus einer großen Schüssel gelöffelt. Die Letzten an dieser „Tafel“ gingen nicht selten unterversorgt oder leer aus, wenn der Bauer frühzeitig aufstand und damit das Essen für alle beendete. In Anbetracht dieser Essgewohnheiten, der vorwiegenden Hauptnahrungsmittel Kraut und Kartoffel und der zu verrichtenden Schwerarbeit ist es verständlich, dass bei den Menschen in diesen Zeiten eher Mangelerscheinungen als Übergewicht feststellbar waren.
Ludwig war sehr aktiv und engagiert in seiner Kindheit. Schon als Schüler der Grundschule ging er zum benachbarten Gasthaus, das eine Kegelbahn betrieb, und stellte dort an Sonn- und Feiertagen die von Spielern umgeworfenen Kegel wieder auf und ließ die Kugeln durch ein Gefälle zu den Spielern zurückrollen. Damit verdiente er sich ein Taschengeld, das er sonst nicht hatte. Der Beitritt zur örtlichen Freiwilligen Feuerwehr war zu dieser Zeit für Jugendliche eine willkommene soziale Bereicherung. Mit 16 Jahren baute er eine Bandsäge, um lange Bretter durchschneiden zu können, die nach 85 Jahren im familiären Betrieb noch immer funktionsfähig ist. Seine größte Herausforderung als Teenager hatte Ludwig als Maschinist einer Wanderdreschmaschine. Diese Maschine begleitete er als Verantwortlicher von Bauernhof zu Bauernhof, wo das in einer Scheune gelagerte Getreide nicht mehr mit Dreschflegeln auf der Tenne, sondern nunmehr maschinell aus dem Stroh gedroschen wurde. Angetrieben wurde das hölzerne Monster durch einen Dampfkessel, der über eine Riemenscheibe für die erforderlichen Drehbewegungen sorgte. Als Maschinist hatte er dafür zu sorgen, dass das Gerät sachgerecht aufgestellt war, einwandfrei funktionierte und der Input von Getreidegarben und der Output als Stroh und Körner friktionsfrei abliefen. Zu beachten galt es auch, dass die zahlreichen Personen im Arbeitsprozess entsprechend der Leistungsfähigkeit der Dreschmaschine und ihren körperlichen Fähigkeiten eingeteilt wurden. Es war in der Landwirtschaft der Beginn eines halbmaschinellen Arbeitsprozesses, indem sich der Mensch der Leistungsstärke der Maschine anpassen musste. Wenn etwa ein Sack bei der Abfüllanlage mit Getreidekörnern gefüllt war, musste er sofort durch einen leeren ersetzt, geschultert und in einen Getreidekasten im ersten Stock zur Lufttrocknung gebracht werden.