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in der Entflohenen.

      Contre Sainte-Beuve (1954, Gallimard; dt. Gegen Sainte-Beuve) 1908 begann Proust, vermutlich angeregt durch Romain Rollands Roman Jean Christophe, sich näher mit dem Dichter und vor allem Kritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804–69) auseinanderzusetzen, dessen Methode, ein Werk von der Biographie des Autors her zu beurteilen, wie Norpois es mit Bergotte in der Suche machen wird, ihm zutiefst suspekt war. Proust hält diesem Supremat des Verstandes die eigentliche Qualität der Literatur entgegen, das Gefühl direkt anzusprechen, und entwickelt in diesem Zusammenhang das Konzept einer »Erinnerung des Gefühls«, die geeignet ist, die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken, in Gegensatz zu der lediglich sezierenden »Erinnerung des Verstandes«. Zur Erläuterung dieser Unterscheidung treten hier bereits die aus der Suche vertrauten Erinnerungsauslöser auf, der Stolperstein in einem Hof, der Klang eines scheppernden Löffels, die in Tee getunkte Madeleine (hier noch »pain grillé« oder »biscotte«, die womöglich auf eine Erinnerung an Wagners Zwieback zurückgehen12). Proust bot im August 1909 dem Mercure de France eine erste Fassung an, der jedoch ablehnte. Danach scheint Proust das Interesse an dem Projekt verloren zu haben; zahlreiche Notizen und Entwürfe, die den verwendeten Namen nach zu urteilen für das Sainte-Beuve-Projekt gedacht waren, wurden nicht mehr eingearbeitet und später für die Suche verwendet, insbesondere der Abschnitt »La Race des tantes« für SG I. Aus diesen Übernahmen erklären sich auch die gelegentlich überraschenden Umbenennungen von Personen der Suche (z. B. General Beaucerfeuil als Beauserfeuil, dann als Saint-Joseph und schließlich Monserfeuil) als übersehene Korrekturen bei der Neuverwendung.

      Der Text wurde, wie schon der für Jean Santeuil, in den Papieren von Suzy Mante-Proust entdeckt und 1954 bei Gallimard publiziert. Da es sich nicht eigentlich um ein Manuskript handelt, sondern um eine Sammlung von Fragmenten, erschien 1971 eine Neufassung durch Pierre Clarac und Yves Sandre, die in anderer Weise mit dem Material umgeht. Einen eigenen Weg, der die beiden französischen Ansätze zu vereinbaren sucht, geht die von M. B. Bertini und L. Keller edierte und von Helmut Scheffel übersetzte deutsche Ausgabe unter dem Titel Gegen Sainte-Beuve bei Suhrkamp 1997.

      Die Pastiches Proust war sein Leben lang von einem unbändigen Nachahmungstrieb beseelt. Mit seinen nach allen Erinnerungen offenbar äußerst gelungenen Imitationen prominenter Mitglieder der Gesellschaft machte er sich bei Soireen nicht nur Freunde: So war Robert de Montesquiou gründlich verschnupft, als man ihm hinterbrachte, dass er selbst das Opfer von Prousts Witz geworden sei. Dieser Spaß am überkonturierten Konterfei zeigte sich schon früh in Prousts schriftstellerischer Tätigkeit: Bereits mit siebzehn Jahren reicht er bei der Schülerzeitung La Revue Lilas einen Pas­tiche des Literaturkritikers Jules Lemaître ein. Er verfertigt Zeichnungen im Stil Manets oder Dethomas’, schreibt (an Freunde) Briefe im Stil der Gräfin von Greffulhe oder auch in der Sprache der Bibel, verfasst Gedichte im Stil von Boisrobert oder Mallarmé, und in einer Artikelserie über die »Lemoine-Affäre« (dt. in Nachgeahmtes) ahmt er Autoren wie Balzac, Maeterlinck, Goncourt, Saint-Simon und sogar Ruskin nach und übt in der Stimme Sainte-Beuves Kritik an seinen eigenen Flaubert- und Chateaubriand-Pastiches. In die Suche sind etliche Miniaturen eingegangen, so eine Passage über Goethe im Stil Goethes (WG, S. 344 f.), ein Proust-Pastiche, dieser allerdings von Albertine (G, S. 170–173), und in WZ ein längerer Bericht der Goncourts von einer Soiree bei den Verdurins (S. 24–35). In einem Brief vom Mai 1922 (Corr. XXI, S. 187–189) an den Kritiker Paul Souday schließlich verfertigt Proust seinen letzten Pastiche: als Kritik in des Kritikers eigenem Stil an seiner Kritik an Proust.

      Gedichte Von seinem siebzehnten Lebensjahr an vergnügte Proust sich damit, Gedichte für Freunde und Bekannte oder für den Vortrag in Salons zu verfassen. Eine kommentierte Sammlung dieser Werke gaben Claude Francis und Fernande Gontier 1982 bei Gallimard heraus (Cahiers Marcel Proust, 10). Übersetzungen erschienen auf Englisch, Italienisch und Spanisch; eine deutsche Übersetzung (Marcel Proust, Les Poèmes – Die Gedichte, frz./dt.) erschien 2018 bei Reclam.

      Zeichnungen Proust bereicherte zuweilen seine Kladden (Cahiers) wie auch seine Briefe an Freunde mit Zeichnungen, meist schlichten Kritzeleien, manchmal aber auch genial hingeworfenen Skizzen wie etwa die »Studie für einen lachenden Montesquiou«. Eine leider immer noch nicht vollständige Sammlung dieser Werke – auf Auktionen erscheint doch von Zeit zu Zeit ein neuer Fund und verschwindet gleich wieder – gab Philippe Sollers 1999 bei Gallimard unter dem Titel L’Œil de Proust – Les dessins de Marcel Proust heraus (darin S. 76 das Montesquiou-Porträt).

      III DIE »SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT«

      »Ceci est une œuvre de force, du moins c’est son ambition«

      (»Dies ist ein kraftvolles Werk, zumindest ist das sein Anspruch«; Proust über die Recherche in einem Brief an Gaston Calmette vom 12. 11. 1913, Corr. XII, S. 309).

      Proust pflegte seine Texte in Schulhefte zu schreiben, die sog. Cahiers ›Kladden‹, die sich heute zum großen Teil in der Bibliothèque nationale de France (BnF) befinden und im Internet unter der Adresse »gallica.bnf.fr« mit etwas gutem Willen zu finden und einzusehen sind. Die BnF verfügt über vier Notizbücher, 75 Entwurfshefte (arabisch numeriert), 20 Reinschrift-Hefte (römisch numeriert, mehrere Bände mit Typoskripten, unkorrigierten und korrigierten Fahnen, eine große Zahl loser Blätter sowie Schriften aus Prousts Jugend. Da es die Suche im Internet-Portal »gallica« der BnF erheblich erleichtert, wenn man die Bibliothekssiglen kennt, gebe ich hier einen Überblick. Die Cahiers 1–62 tragen die Bibliotheksnummern NAF (»nouvelles acquisitions françaises«) 16 641 bis NAF 16 702 (= 16 640 plus Cahier-Nummer), die erst später erworbenen Cahiers 63–75 die Nummern NAF 18 313 bis NAF 18 325 (= 18 250 plus Cahier-Nummer).

      Die Reinschriften zu den letzten fünf Bänden werden unter den Nummern NAF 16 705–16 727 katalogisiert, und zwar wie folgt:

      – Le Côté de Guermantes (Der Weg nach Guermantes) II: 16 705–16 707.

      – Sodome et Gomorrhe: 16 708–16 714.

      Die Cahiers 16 709–16 714 sind von Proust als Cahiers I–VII durchnumeriert; diese Bezeichnungen finden sich häufig in der Sekundärliteratur. Das erste Cahier (16 708) trägt keine römische Nummer.

      – La Prisonnière (Die Gefangene): 16 715–16 719 = Cahiers VIII–XII.

      – La Fugitive bzw. Albertine disparue (Die Entflohene): 16 720–16 722 = Cahiers XIII–XV.

      – Le Temps retrouvé (Die wiedergefundene Zeit): 16 723–16 727 = Cahiers XVI–XX.

      Einen vollständigen Überblick über den Bestand des Fonds Marcel Proust inkl. der Typoskripte, »Placards« (Fahnen) und »Épreuves« (Probedrucke) der BnF mit Verknüpfungen zu den jeweiligen Scans der BnF gibt die »Équipe Proust« des Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) unter http://www.item.ens.fr/index.php?id=578147.

      Die Cahiers 54 (zu La Prisonnière und zu Albertine disparue), 71 (zu Albertine disparue), 26 (zu Contre Sainte-Beuve und zu Du côté de chez Swann) und 53 (zu Sodome et Gomorrhe und zu La Prisonnière) wurden 2008, 2010, 2011 bzw. 2013 bei Brepols in Turnhout als Faksimiles und in diplomatischer Transkription sowie von wechselnden Arbeitsgruppen mit Kommentaren und Indizes versehen in jeweils zwei Bänden herausgegeben. Das Cahier 46 (zu La Prisonnière) wurde 2009 von Julie André in einer Dissertation an der Université de la Sorbonne nouvelle weitgehend transkribiert und umfangreich kommentiert als pdf-Datei in der public domain zur Verfügung gestellt. Die Cahiers 51, 57 und 58 zum letzten Band gab Gallimard bereits 1982 unter dem Titel Matinée chez la Princesse de Guermantes. Cahiers du »Temps retrouvé« heraus (im endgültigen Text von Le Temps retrouvé dann »soirée«). Dieses Material, soweit es nicht in den Text Eingang gefunden hat, wurde allerdings im wesentlichen später als »Esquisses« in die Pléiade-Ausgabe von Tadié integriert.

      Während Proust in den Cahiers seine Texte niederlegte, benutzte er sog. Carnets – schmale, längliche Notizbücher, die ihm Geneviève Straus geschenkt hatte –, um Augenblicksbeobachtungen und -einfälle festzuhalten. Die Einträge in diesen Carnets, die es dem neugierigen Leser ermöglichen, Proust bei der

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