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Lehmann:

      Das theatrale Spiel insgesamt stellt im Grunde eine Undenkbarkeit für die Philosophie des Geistes dar: das an sich wesenlose subjektive Spiel des Spielenden, der Zeichen künstlich produziert, dieses bloße einzelne Ich, erfährt sich als Gründer und Stifter des Wesentlichen, der sittlichen Gehalte, Schöpfer der dramatis personae als in sich bereits Schönheit und Sittlichkeit vereinenden Gestalten.7

      Innerhalb dieser postdramatischen Tendenz, die im Theaterschaffen an sich schon das Ende der klassischen Kunst sieht und – so endet Lehmann sein Unterkapitel über Hegel – „ein Modell für die Auflösung des Theaterbegriffs an(mutet)“8, verbirgt sich ebenso der Hinweis, dass sich gerade die Bühne eignet, eine ungeahnte kulturelle Vielfalt aus sich selbst heraus, unabhängig von der Norm der Mehrheitsgesellschaft, entwickeln zu können.

      In eine ähnliche Richtung argumentiert die Kulturwissenschaftlerin Renate Reschke in Die Asymmetrie des Ästhetischen (1995).9 Allerdings bezieht sie dieses Potential des Ästhetischen nicht auf Theater, sondern auf das ästhetische Denken an sich. Sie zeigt, wie, beginnend mit Hegel, innerhalb der philosophischen Diskurse über die Ästhetik asymmetrische Formen zutage treten, indem Grenzen überschritten und so tradierte Strukturen des westlichen Denkens aufgebrochen werden. Während viele andere Bereiche abendländischer Philosophie eine Symmetrie – zum Beispiel die klassischen Formen der Antike oder die „klaren“ Regeln der Logik – bevorzugen, bildet das asymmetrische Denken, so Reschke, ein Korpus, das sich dieser Gleichmäßigkeit und Regelhaftigkeit entzieht, wortwörtlich aus der Reihe tanzt und aus diesem Grunde oftmals von den traditionellen Methoden abendländischer Diskurse nicht begriffen und erfasst werden kann. Reschke setzt als Startpunkt dieser asymmetrischen Denkbewegung die von Hegel aufgegriffene antike Metapher von der weisen Eule der Minerva, die ihren Flug der Erkenntnis erst in der Dämmerung beginnt. Sie sieht in ihr und weiteren Hegelschen Überlegungen zur Ästhetik einen ersten Moment innerhalb der abendländischen Geschichte des Denkens, in welchem der Diskurs sich aus den symmetrischen, wohlgeordneten Strukturen der Wissensgenerierung herauswagt und Sphären betritt, welche die klaren Gesetzmäßigkeiten der Logik samt deren Methoden dialektischer Beweisführung aushebeln:

      Die Ästhetik, die am programmatischen „Ende der Kunst“ aktiv wird und ihre Einsichten formuliert, kündete […] auch von der Aussagekraft des Metaphorisch-Asymmetrischen. Die kluge Eule kommt zu ihren Erkenntnissen gegen jede systematische Einseitigkeit und vorbei an den Sicherheiten begrifflicher Fixierungen.10

      Mit Blick auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik formuliert dieser tatsächlich eine Art Ahnung oder gar Vermächtnis, dass sein Gebäude des dialektischen abendländischen Denkens, der Weg des spekulativen Prozesses zum absoluten Geist, den er in der Phänomenologie des Geistes beschreibt, keinen universalen Anspruch mehr haben kann. Am Ende der von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho aufgezeichneten und herausgegebenen Vorlesungen, just nach seinen Überlegungen zur Tragödie und Komödie, wird diese Wende in der Hegelschen Philosophie nochmals deutlich:

      Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt. Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. Stellt nun aber die Komödie diese Einheit nur in ihrer Selbstzerstörung dar, […] so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des Daseins hervor, sondern macht sich nur in der negativen Form geltend, dass alles ihm nicht Entsprechende sich aufhebt und nur die Subjektivität als solche sich zugleich in dieser Auflösung als ihrer selbst gewiss und in sich gesichert zeigt.11

      Hegel ahnt, dass die Komödie eine Wirklichkeit bzw. Subjektivität hervorbringt, die sein Modell des absoluten Geistes nur noch in einer negativen Form, in einer Art des Auflösens und Aufhebens, begreifen kann. Das heißt, dass er die Zukunft der Kunst nicht in einer Identitätserfahrung sieht, in der sich die „Idee“ der Gesellschaft in der Kunst offenbart, sondern in der Aufhebung dieser herkömmlichen Einheit. Er macht so indirekt für die ästhetische Erfahrung eine folgenschwere Prognose. Die Zukunft liegt nicht in einer gemeinschaftlichen Versöhnung vom einzelnen mit dem Ewigen bzw. Göttlichen, der Idee der Gemeinschaft, sondern in der Auflösung dieses tradierten Bundes. So enden seine Vorlesungen mit einem Wunsch:

      Möge meine Darstellung Ihnen in Rücksicht auf diesen Hauptpunkt Genüge geleistet haben, und wenn sich das Band, das unter uns überhaupt und zu diesem gemeinsamen Zwecke geknüpft war, jetzt aufgelöst hat, so möge dafür, das ist mein letzter Wunsch, ein höheres, unzerstörliches Band der Idee des Schönen und Wahren geknüpft sein und uns von nun an immer fest vereinigt haben.12

      Dieses neue Band, das sich nicht mehr in der schönen Erscheinung des absoluten Geistes konstituieren kann, erschafft sich aus dem Wissen, dass diese „durch den Geist hervorgebrachte Identität“ – zumindest in der Kunst – nicht mehr darstellbar scheint. Hegel deutet am Ende der Vorlesungen über die Ästhetik nicht nur auf Formen des Theaters, die Lehmann Ende des 20. Jahrhunderts als postdramatische beschreibt, sondern auch auf dessen Potential, kulturelle Vielfalt zu fassen und Transkulturalität jenseits der „Idee“ einer singulären kulturellen Tradition darzustellen. Diese, zugegeben, noch etwas kryptische Andeutung, lässt sich anhand drei hier nun genauer betrachteten Theater- und Tanzproduktionen in Südafrika und Deutschland, die in den letzten zehn Jahren erarbeitet wurden, zu tiefergehenden Überlegungen weiterentwickeln.

      Mistral in Berlin

      In dem gemeinsam erarbeiteten Duett Mistral1 begegnen sich Susanne Linke und Koffi Kôkô, zwei Vertreter_in­nen spezifischer kultureller Tanztraditionen, die gleichsam Akteur_in­nen einer global und international agierenden Tanzszene sind:

      Susanne Linke, als Vertreterin der Tanzmoderne von Mary Wigman und des Deutschen Tanztheaters, trifft auf die jahrhundertealte „Körperbibliothek“ des zeitgenössischen afrikanischen Performers: Eingeschrieben in die Körper zweier Ausnahmetänzer begegnen sich Moderne und Traditionen. Tänzerische Präsenz, Körper­ge­dächt­nis, Technik, kultureller Kontext und Geschlecht werden zu Ausgangspunkten einer einzigartigen Begegnung von performativem Wissen und gesellschaftspolitischen Fragen. Und das in einer radikalen Gegenüberstellung: Susanne Linke und Koffi Kôkô führen einen Dialog darüber, wie das Wissen großer Tanztraditionen zwischen Kulturen und über Generationen hinweg zu vermitteln ist.2

      Zu Beginn des Stückes schreiten sie gemeinsam eine Zigarre rauchend über die Bühne und werden kurz darauf aus dem Paradies der zweisamen Einigkeit hinausgeworfen. Beide beginnen ihre jeweilige Choreografie zunächst auf der Bühne voneinander getrennt, suchen ihren Ausdruck in ihren reichhaltigen Bewegungsgedächtnissen und deren kulturellen Verortungen: Koffi Kôkô, in Benin geboren, ist Voodoo-Priester und einer der bekanntesten Vertreter des afrikanischen zeitgenössischen Tanzes. Seine Bewegungssprache entwickelt er zum Teil aus Ritualen Westafrikas heraus. Susanne Linke ist eine der führenden Vertreterinnen des europäischen Solotanzes. Sie verbindet Traditionen des deutschen Ausdruckstanzes von Mary Wigman und Dore Hoyer mit Positionen des modernen Tanzes aus der Folkwang-Tradition (Kurt Jooss, Hans Züllig, Pina Bausch). Beide kombinieren in ihrem Schaffen diese Traditionen mit zeitgenössischen Interpretationen und Bewegungsformen, doch sind die Wurzeln ihres Tanzes in diesem Teil der Aufführung stets erkennbar. Auf der Bühne eröffnen sie einen ästhetischen Raum, der zwei ganz unterschiedliche Rhythmen, Bewegungsfolgen und ebenso spirituelle Wirkungsfelder erschafft. Doch diese beiden Spannungsfelder kommen aufeinander zu und geraten in einen Dialog, so schreibt Sandra Luzina:

      Er lässt seine Hände sprechen und lädt den Raum mit seiner Energie auf. Sie bewegt sich leichtfüßig über die Bühne und strahlt bei aller Fragilität eine große Stärke aus. Wunderbar, wie die beiden, die auf der Bühne zu alterslosen Figuren werden, zueinander finden: Sie nähern sich mit Neugier und gegenseitigem Respekt. Ein Höhepunkt ist das heitere Duett zu afrikanischen Trommelrhythmen: Koffi Kôkô prescht vor, Susanne Linke greift die Bewegungsmotive auf, interpretiert sie aber auf ihre eigene Weise. Beide fassen sich an den Händen und setzen mit großer Zartheit einen Fuß vor den anderen – stets sensibel des Grunds gewahr, auf

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