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Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater. Группа авторов
Читать онлайн.Название Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater
Год выпуска 0
isbn 9783823301592
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Forum Modernes Theater
Издательство Bookwire
Gegenwärtig gibt es aber auch eine Tendenz, Theatergebäude und -institutionen demonstrativ in Asyle zu verwandeln, die für alle offen sein sollen, die eine Bleibe suchen, und als Treffpunkt dienen können für diejenigen, die ihnen helfen wollen. An vielen Bühnen im deutschsprachigen Raum gibt es solche Projekte, die zum Teil den konventionellen Gebrauch der Theaterhäuser weitgehend verändern. Diese Entwicklung erscheint einerseits als notwendiger und häufig auch produktiver Impuls zur Öffnung eines mitunter starren Apparates der Repräsentation auf Prozesse des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Andererseits bleibt Theater immer noch einer der seltenen Orte, an denen Experimente nicht zwingend Gewinn bringen müssen. So können sie auch der ansonsten vorherrschenden bürokratischen Verwaltung und ökonomischen Verwertung von Geflüchteten und ihrer prekären Situation entgegensetzen. Wie sich auch an diesen Beispielen zeigt, ermöglicht und erfordert Theater gegenwärtig Praktiken des Inszenierens und Agierens, welche die üblichen Trennungen zwischen „eigen“ und „fremd“ überschreiten. Diese Praktiken eröffnen transkulturelle Perspektiven, mit denen die in vieler Hinsicht problematischen Formen heutiger Migrationspolitik kritisch reflektiert werden können. Die für das Zusammenleben in gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaften elementare Frage, wie die mit dem Insistieren auf kultureller Identität immer wieder einhergehenden Tendenzen der Exklusion zu überwinden wären, ist sicherlich Grund genug, auch das Theater als Institution neu zu denken, Überschreitung selbst als eine theatrale Praxis zu begreifen, auszuprobieren und durchzuspielen.
Was ist das transkulturelle Theater?
Günther Heeg (Universität Leipzig)
Das transkulturelle Theater,1 von dem hier die Rede ist, ist im Werden.2 Es lässt sich nahezu weltweit finden in den Arbeiten des Gegenwartstheaters, aber auch frühere Theaterformen offenbaren das Werden des transkulturellen Theaters einem neuen wissenschaftlichen Blick. Gleichwohl oder gerade deshalb lässt sich dieses Theater nicht als eine besondere Sparte des Theaters verorten. Das unterscheidet den hier vorgestellten Ansatz von dem des interkulturellen Theaters. Gegen eine Objektivierung dieses Theaters spricht vor allem, dass es das Resultat wissenschaftlichen Nachdenkens ist über das, was gegenwärtig im Theater und in der Welt geschieht. Das transkulturelle Theater ist eine Idee im Sinne von Gilles Deleuze. Nicht überzeitlich festgezurrt am platonischen Ideenhimmel, sondern hervorgebracht durch raumzeitliche Dynamiken, in Bewegung zwischen Virtualität und Aktualität, im Werden. In der Idee des transkulturellen Theaters verbinden sich Theater-Erfahrung und theoretische Reflexion. Erst in der Engführung beider, der erfahrungsgesättigten Konstruktion3 des transkulturellen Theaters, zeigt sich sein Werden als ein Öffnen der Gegenwart auf Zukunft hin.
Mein Beitrag geht drei wesentlichen Elementen nach, die in der Idee des transkulturellen Theaters in Konstellation treten: Es ist die Dringlichkeit eines „Theaters unter Fremden“, die Notwendigkeit eines „Theaters der Wiederholung“ und die Bewegungskraft eines „Theaters der Geste“. Auf Ausführungen zu diesen drei Bestimmungen des transkulturellen Theaters folgt die Beschreibung einer Aufführung, die zum Erfahrungsraum des transkulturellen Theaters gehört.
1. Ein Theater der Fremden
Ein Theater der Fremden ist an der Zeit. Das braucht man in diesen Tagen in Deutschland und in Europa nicht eigens begründen. Wir erleben derzeit ein Ausmaß an Fremdenangst und Fremdenhass, das in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft eigentlich für überwunden gehalten wurde. Sie entstehen aus den Folgen der Globalisierung, die Städte und Länder, Regionen und Kontinente zusammenrücken lässt, ohne dass die Welt besser würde. Im Gegenteil: Die Entgrenzung von Räumen, die ungleichen ökonomischen Entwicklungen und die Vermischung von Kulturen lösen traditionelle Bindungen auf, stellen gewohnte kulturelle Normen und Verhaltensweisen in Frage und machen die Instabilität der sozialen Lage zum prekären Dauerzustand. Das macht Angst. Die Angst führt zu neuen Politiken der Abschottung und Ausgrenzung und zu fundamentalistischen Bewegungen weltweit. Bürger_inneninitiativen gegen Flüchtlinge, die Asyl suchen, und Vereinigungen gegen die angeblich drohende Gefahr anderer Religionen und Kulturen offenbaren eine wiedergekehrte Angst vor dem Fremden, die oft in offenen Hass umschlägt. Sie muten anachronistisch an in einer Zeit, die so sehr von der internationalen Verflechtung und universellen Angleichung von Arbeits- und Lebenswelten bestimmt ist, und sind doch exakt deren Resultat. Fremdenangst und Fremdenhass und die trotzige Anstrengung, die vermeintlich eigene Kultur rein zu bewahren, sind kein Rückfall in archaische Zeiten, sondern das Produkt einer halbierten, einseitigen Weltwerdung. Global geworden ist die Welt nämlich nur auf den anarchischen Feldern der Ökonomie, der Finanzen und der digitalen Kommunikation. Vernachlässigt ist dagegen die Suche nach transkulturellen Möglichkeiten und Formen des Zusammenlebens. Es fehlt an der Konzeption und Praxis einer Konvivenz mit dem Fremden.
In dieser Situation ist das Theater gefordert. Denn Theater ist seit jeher ein entscheidendes Instrument und Medium der Selbstverständigung darüber, wie wir in Zukunft leben, wie wir überleben wollen. Nur: Wie soll ein Theater der Fremden aussehen? Welche Gestalt soll es annehmen? Ist es ein politisches Theater, das für die Fremden Partei ergreift? Wer aber sind die? Soll es in der Nachfolge eines Theaters, das sich als moralische Anstalt versteht, den Aufstand aller Anständigen gegen die moralisch verwerflichen Pegidademonstrant_innen propagieren? Wohl kaum, denn diese Versuche würden allesamt nur den Fundamentalismus kopieren und die Schwarz-Weiß-Zeichnung der Wirklichkeit wiederholen. Sie würden ihrerseits die anderen, diesmal die Anhänger_innen und Demonstrant_innen der extremen Rechten, ausgrenzen. Das Fremde bliebe so erneut außen vor.
Die weit verbreitete Vorstellung einer_s Fremden, die_er oder das von außerhalb aus der Ferne in unsere gewohnte kulturelle Umgebung tritt, ist dem Konzept des Interkulturalismus entsprungen. Die interkulturalistische Weltsicht geht von gegeneinander abgeschlossenen und unterscheidbaren Kulturen aus. Die Kultur der Fremden und die (vermeintlich) eigene Kultur, so die Behauptung, sind verschiedene und getrennte Welten. Geraten sie miteinander in Kontakt, z.B. im Fall von Flucht und Migration, gilt es, um Verständnis zu werben für die fremde Kultur, damit es nicht zu dem von Huntington herbeigeschriebenen „clash of civilizations“1 kommt. Eine wichtige Theaterarbeit aus der jüngsten Vergangenheit, die im Horizont des Interkulturalismus stand, ist die Produktion Morgenland von der Bürgerbühne Dresden.2 Morgenland will Vorurteile bekämpfen, die Angst vor dem Fremden nehmen und den Abendländer_innen die Kultur des Morgenlands nahebringen. Und bestätigt und verfestigt doch, trotz bester Absichten, die Vorstellung von in sich abgeschlossenen Kulturen und die klare Trennung des kulturell Eigenen und des Fremden. Das ist ein essentialistischer Ansatz, der weder der empirischen Erscheinung gegenwärtiger noch vergangener kultureller Lebenswelten entspricht. Kulturelle Lebenswelten in Zeiten der Globalisierung sind Hybride. Der Versuch, sogenannte Leitkulturen zu (re-)etablieren, ist zum Scheitern verurteilt. Letzterer ist darauf aus, das 18. Jahrhundert-Modell der Nationalkulturen unter veränderten Umständen wieder zu beleben, ein gespenstisches Unterfangen. Denn von Beginn an waren diese Nationalkulturen Konstrukte, die einer Realität divergierender Kräfte unterschiedlicher politischer, sozialer, religiöser Bewegungen und ethnischer Gruppierungen mehr schlecht als recht Einhalt gebieten sollten. Durchweg durchzieht kulturelle Heterogenität die Konstrukte der Nationalkulturen und ihrer Nachfolger. Die Anstrengung, die Vielfalt kultureller Lebenswelten erneut dem Diktat einer Kultur zu unterwerfen, heißt ein Phantasma zur Richtschnur kulturellen Handelns zu machen.
Hält man an den Vorstellungen des Interkulturalismus fest, hat das politische Folgen. Mit dem Konzept des Interkulturalismus verknüpft sind die Verortung des Fremden, das Konzept der Integration und die Zuschreibung kultureller Identität. Das sind allesamt Ansätze, die die Vorherrschaft der (vermeintlich) eigenen Kultur gegenüber anderen zementieren. Fremd ist dem zufolge alles, was von außen kommt, innerhalb des Eigenen gibt es nichts Fremdes. Mit dieser Exterritorialisierung des Fremden landet man unweigerlich bei seiner Exotisierung. Die Klippen, die es dabei in der Theaterarbeit zu umschiffen gilt, werden sichtbar etwa in dramaturgischen Überlegungen, den Woyzeck mit einem zwergenwüchsigen Syrer zu besetzen – ist er nicht ein Symbol für Elend schlechthin? – oder wie in der Romeo und Julia-Produktion der Bürgerbühne Dresden die Montagues und Capulets strikt nach Einheimischen und Fremden von außerhalb aufzuteilen3.