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Distinktion durch Sprache?. Martina Zimmermann
Читать онлайн.Название Distinktion durch Sprache?
Год выпуска 0
isbn 9783823300342
Автор произведения Martina Zimmermann
Жанр Документальная литература
Серия Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Издательство Bookwire
Man könnte die unterschiedlichen Distanzen ins Feld führen, die in den zwei Beispielen mittels Mobilität zurückgelegt werden, und – argumentierend – vorbringen, die eine oder die andere Mobilität sei „echter“. Aber das bringt einen nicht weiter (vgl. Bauman 1998). Ergiebiger ist es, zu fragen, wem welche Mobilität zustehe (vgl. Wolff 1993; Adey 2006) und wer – mal in Bewegung – seine Bewegung steuern könne. Das heisst, dass es sich nicht nur zu fragen lohnt, wer in Bewegung ist, sondern auch, wann, wie und unter welchen Bedingungen er dies tut (Brah 1996; Pels 1999; Cresswell 2001, 2002).
Der Mobilität haftet eine Machtkomponente an. Mobilität bedeutet Verschiedenes für verschiedene Menschen unter unterschiedlichen sozialen Umständen. Diese Bedeutungen sind diskursiv konstituiert (Frello 2008) und sind als solche ein Produkt von Machtverhältnissen. Gleichzeitig reproduzieren die Bedeutungen die Machtverhältnisse (Foucault 1972).
Es geht also nicht darum, „einfach“ zwischen empirischen Phänomenen zu unterscheiden, nämlich zwischen solchen, die sich bewegen, und jenen, die sich nicht bewegen. Mobilität, Immobilität und die Praxis der Bewegung sind soziale Konstrukte und werden diskursiv konstituiert. Was zur Mobilität zählt (oder nicht), ist auf „Reiteration“ im Sinne von Butler (1997) zurückzuführen – d.h. auf Wiederholungen und Abänderungen vorgängig gesetzter Konventionen. Sprechen wir von Bildungsmobilität, mag es nicht verwundern, dass die meisten unter uns Ähnliches damit assoziieren. Vermutlich denken wir an junge, gut gebildete Menschen, die dank dieser Bewegung in den Genuss spezifischer Bildung kommen und gleichzeitig ihren kulturellen Horizont erweitern. Mit dieser Mobilität wird u.a. ein Gewinn an Erfahrung und Weltoffenheit verknüpft (Cresswell 2006; Croucher 2012), wogegen Migrationsströmen aus bestimmten Gebieten aberkannt wird, dass sie dazu dienen, gewisse Gesellschaftsordnungen aufrechtzuerhalten, oder deren Mobilität als solche gar nicht erkannt wird. Studentische Mobilität ist konventionalisiert; infolge von „Reiteration“ „wissen“ wir, wovon wir sprechen.
Mobilität, Bewegung, Immobilität etc. und das, was wir darunter verstehen, basieren also auf vorherrschenden Diskursen. Es geht folglich nicht nur darum, zu ergründen, wer sich wie, wohin bewegen kann. Es geht auch darum, zu erkennen, „who gets to tell the story?“ (Clifford 1997: 33), und somit darum, welcher Diskurs sich durchsetzt.
Zusammengefasst: In der Mobilitätsforschung hat sich die Blickrichtung verschoben. Von der Ausrichtung auf eine „unbestrittene“ Distanz, die es mittels einer Bewegung zu überwinden gilt, auf den normativen Rahmen, welcher der (Im-)Mobilität zugeschrieben wird (Manderscheid et al. 2014). Forschende, die diesen normativen Rahmen einbeziehen, sind nun vorsichtiger, was vormals „gegebene“ Unterscheidungen anbelangt3, und berücksichtigen Elemente der Macht, die der (Im-)Mobilität anhaften.
Diese Ausführungen sind für die vorliegende Arbeit insofern relevant, als sie bewusst machen, dass wir uns, wenn wir von Bildungsmobilität sprechen, bereits einem vorherrschenden Diskurs verschrieben haben. Im Folgenden werden zwar der Einfachheit halber weiterhin Begriffe wie Bildungsmobilität, studentische Mobilität, akademische Mobilität u.ä. verwendet. Dies erfolgt aber erstens im Bewusstsein, dass diese Konzepte diskursiv konstruiert sind, und zweitens im Bestreben, zu ergründen, in wessen und welchem Interesse diese Konstruktion geschieht. Die Frage nach der Bewegung/Mobilität/Immobilität und ihrer Bedeutung für die verschiedenen Akteure schwingt in den analytischen Kapiteln mit. Auch wird in der Analyse berücksichtigt, dass die Deutungshoheit erheblich darauf wirkt, wie, wer oder was für mobil/immobil erklärt wird4.
Denken wir an Studierende aus dem Tessin, die ihrer tertiären Bildung wegen in die Deutschschweiz „wandern“, lässt sich deren Mobilität in einem diskursiv konventionalisierten Sinne als eine privilegierte beschreiben (Croucher 2006). Das heisst nicht, dass sich nur privilegierte Menschen bewegen. Man denke an jene, die wir als Flüchtlinge bezeichnen. Jedoch haben Privilegierte wie z.B. Studierende in gewissem Masse die Wahl, sich (nicht) zu bewegen. Sie sind freier als andere in ihren Entscheidungen. Ihre Wahlfreiheit ist grösser (Bourdieu 1979). Pennycook (2012: 25) bemerkt dazu: „to choose in certain ways is a reflection of material well-being“, oder anders gesagt: Wer wählen kann, verfügt über gewisse Ressourcen. Massey (1991: 27) hält fest: „mobility and control over mobility both reflects and reinforces power“. Dies führt uns zur vorgängig erläuterten Machtkomponente zurück.
Studierende könnte man einer gesellschaftlichen Elite zuordnen und ihnen implizit die Freiheit der Wahl für oder gegen Mobilität zuschreiben. Dennoch wäre es unvorsichtig, wenn man studentische (Im-)Mobilität ausschliesslich auf eine „freie Wahl“ zurückführte. Selbst Eliten sind in ihrer (Im-)Mobilität gewissen Zwängen unterworfen. Ihre Entscheidungsfreiheit ist begrenzt; d.h.: „forces, mechanisms and institutional arrangements“ schränken ihre Wahl ein (Warde & Martens 1998: 129). Gerade unter Privilegierten, die ihren Lebensstil in gewissem Masse wählen können, gehört gemäss Urry (2002: 256) „being on the move“ sozusagen zum „way of life“. Trotz technologischen Fortschritten, die sublime Formen von Mobilität – wie etwa die virtuelle oder imaginäre – erleichtern, nimmt die physische Mobilität zu. Individuen entscheiden sich für die Mobilität, um sich in der zunehmenden Komplexität des modernen Lebens zurechtzufinden (McIntyre 2006; Cohen et al. 2013). Wie wir unseren Lebensstil wählen und die damit verbundenen Konsumentscheidungen – z.B. die Mobilität betreffend – fällen, hängt mit Selbst-Konzepten zusammen (Featherstone 1987). Praktiken, die mit diesem Konsum verbunden sind, hat Giddens (1991: 81) als „decisions not only about how to act but who to be“ definiert. Laut Giddens impliziert dieses „project of the self“, dass unsere Wahl des Lebensstils unser Selbstbild beeinflusst. Konsumentscheidungen, darunter auch unsere Entscheidung für die (Im-)Mobilität), und unser Lebensstil sind zentral geworden, wenn es um die Konstitution eines Selbstverständnisses geht. Dies bedeutet, dass die Wahl eines Lebensstils sich zunehmend mit Formen der Mobilität mischt und für die ausreichend Privilegierten, denen es vergönnt ist, sich mit solchen Entscheidungen zu befassen, wegweisend ist.
Auch Tessiner MaturandInnen können zu den Privilegierten gezählt werden, die in ihrem „project of the self“ „on the move“ sind. Wie bereits erwähnt, entscheiden sich rund 80 % der Tessiner MaturandInnen für ein Studium ausserhalb des Kantons und „wandern“ in die Deutsch- oder Westschweiz. Verschiedene „Push- und Pull-Faktoren“ bestärken sie darin (Lee 1966).
Die Push-Faktoren hängen mit den Bedingungen im Tessin zusammen. Die Immobilität – bzw. die Entscheidung, ein Studium im Tessin in Angriff zu nehmen – scheint für ein „project of the self“ nicht förderlich, das „on the move“ zu sein hat. Zudem bietet die im Tessin situierte Universität (USI) – wie einige andere kleinere Universitäten auch – ein beschränktes Studienangebot an, und die Studiengebühren der USI sind wegen ihrer halbprivaten Organisationsform5 vergleichsweise hoch6. Besucht wird die USI vorwiegend von Studierenden aus dem Ausland (ca. 65 %); die Mehrheit davon stammt aus Italien. Mit dieser Studierendenpopulation gehen Statements einher, wie z.B.: Die reichen „Italiener“ hätten die USI okkupiert, weshalb sie für die TessinerInnen keine valable Option sei. Ein wirksamer Push-Faktor ist ferner, dass MaturandInnen erst seit 1996 die Wahl haben, ihrer tertiären Bildung wegen im Kanton zu bleiben, und vorher gezwungen waren, mobil zu werden. Die lokale