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Das Rauschen unter der Choreographie. Группа авторов
Читать онлайн.Название Das Rauschen unter der Choreographie
Год выпуска 0
isbn 9783823301530
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Forum Modernes Theater
Издательство Bookwire
Zeitgenössische Perspektiven: Choreographische Handschriften
Zugleich ist zu beobachten, dass zeitgenössische Tanzdiskurse und tanzästhetische Reflexionen über Stil paradoxerweise an Bedeutung verloren haben. Stil fungiert kaum als ästhetischer Denkraum, der über eine Kennzeichnung von Identifikationsmerkmalen einzelner Gruppierungen oder historischen Richtungen hinausreicht. Seine Funktion einer bewegungsästhetischen Differenzfigur zwischen spezifischen Formsprachen, die wie im 18. Jahrhundert gerahmt von Normen einen stilistischen Bewegungscode identifizierbar zu erkennen geben, hat an Bedeutung verloren. Allenfalls werden mit ihm stilistische Bewegungsfiguren im Sinne künstlerischer Handschriften von Choreograph*innen benannt, die im Diskurs eine tanztechnische Identifikation des Stilistischen ersetzen.1 Denn angesichts hybrider Bewegungs- und Tanztechniken, die die einzelnen tanzästhetischen Positionen zeitgenössischer Choreograph*innen prägen, in dem eine Vielzahl sich ergänzender somatischer Zugänge miteinander verbunden werden, erwachsen körpertechnische Konturen im Sinne einer stilistischen Ausprägung nunmehr primär aus der kritischen Reflektion auf choreographische, theatrale oder körperpolitische Maßgaben der tanzenden Körper. Der stilistische Nimbus ihrer explorierten Bewegungsfiguren eröffnet auf diese Weise ästhetische Reflexionsräume, die einem spezifischen choreographisch und theatral verankerten In-Erscheinung-Bringen von Körperbewegungen geschuldet sind. Eine intentionale Haltung der Tanzenden als ästhetischer Fokus, die Louppe beschreibt, ist zugunsten einer bewegungsästhetisch-kontextualisierten, politisch oder ethisch motivierten Arbeit gewichen, die – wie der Beitrag von Christina Thurner verdeutlicht – mitunter selbst die Frage nach dem Stil thematisieren und als Spiel mit Identitätspluralitäten und Weisen der Selbstkonstruktion verhandeln.
TanzStile als ver- und entkörperte Norm: Historische Positionen
Untersucht man indessen historische Stilbildungen im Bühnentanz, so wird auffällig, dass Stile vor allem an der Schwelle eines vollzogenen Stilbruchs bemerkbar werden. Die Relation zwischen spezifischen Vorschriften und ästhetischen Regeln, wie zu tanzen sei, und ihrer aktuellen Ausführung treten in Momenten ihres Überschreitens hervor, wobei die stilistischen Eigenheiten des Tänzers oder der Tänzerin – so zeigen es historische Tanzdiskurse – nicht gänzlich den ästhetischen Kodex verlassen dürfen, um als künstlerische Leistung anerkannt zu bleiben. Doch sind es Momente eines Überschwangs, eines offensichtlichen Übertritts von ästhetischen Vorschriften, mit denen Stilprägungen einzelner Tänzer*innen thematisch werden. Auftritte wie von Auguste Vestris [auch Vestris der Jüngere genannt]1, ein in der Tradition des ballet en action an der Pariser Opéra ausgebildeter Tänzer, kennzeichneten einen solchen Überschwang, der klassifizierte bewegungstechnische und ästhetische Stile unterläuft. Julien-Louis Geoffroy führt in seinem Manuel dramatique (1822) über den Tanz von Auguste im Vergleich zu seinem Vater (Gaetan Vestris) aus:
Dance reached its highest point under Vestris the Elder; if it appears to reach perfection under his son, it is because it amazes more, because it is distorted. Vestris the Younger in fact contributed nothing to what constitutes the true merit of dance, in grace, expression, worthiness of movements, beauty of forms and attitudes; […]. He perfected no essential part of the art, but taking advantage of his extraordinary strength, he mixed that which is true dance with tours de force, which smack of the art of the tumblers, […]. He spurned the earth and the floor, where the true dancer practices his talent; he threw himself into the air, and the boldness of his flight captivated the spectator. […] What was merely corruption was regarded as a wonder of the art, and this mix of jumps and steps, which confound and alter two very different arts, appeared to be a bold and sublime novelty.2
In den Augen der Rezensenten und gebildeten Zeitgenossen verkörperte Auguste Vestris ebenso wie sein Zeitgenosse Salvatore Viganò3 auf nahezu beängstigende Weise ein brillierendes Virtuosentum, das die ästhetischen Prämissen eines einfühlsamen Gestentanzes des ballet en action sprengt. So werden im 18. Jahrhundert zunehmend jene performativen Leistungen einzelner Tänzer und Tänzerinnen bedeutsam, die eine empfindungsvolle Gestalt verkörperten. Jean Georges Noverre schätzte in seinen zahlreichen Berichten über zeitgenössische Tänzer und Tänzerinnen jene, die »frei von aller Affekthascherei« tanzten – wie etwa Marie Sallé (1707–1756), eine Tänzerin der danse sérieuse an der Pariser Opéra der 1730er:
Mlle. Sallé, a most graceful and expressive dancer, delighted the public. […] I was enchanted with her dancing. She was possessed of neither the brilliancy nor the technique common to dancing nowadays, but she replaced that showiness by simple and touching graces; free from affection, her features were refined, expressive and intelligent. Her voluptuous dancing displaced both delicacy and lightness; she did not stir the heart by leaps and bounds.4
Sallé verkörperte einen spezifisch einfühlsamen Duktus, dessen Leichtigkeit nicht dominiert wurde von technischen Raffinements aus kunstvollen jétés, battus und entrechats, wie es dem Tanzstil ihrer Zeitgenossin Marie Carmago nachgesagt wurde.5
Demgegenüber übertritt Vestris’ Tanzstil die seit Mitte des 18. Jahrhundert etablierten Rollenfächer des Bühnentanzes mit ihren klaren dramaturgischen, tanztechnischen und physischen Differenzen. Als eigenständige Darstellungsbereiche wurde eine dem Tragischen zugeordnete danse sérieuse unterschieden von einer dem Komischen zugezählten danse comique und einem komisch-tragischen Tanzstil der danse demi-caractère.6 Die bewegungstechnische Virtuosität von Vestris, die den erhabenen und heroischen Duktus einer danse sérieuse (danse noble) mit den verspielten, eher ausgelassenen Bewegungen einer danse comique und dem leichten Duktus der danse demi-caractère amalgamierte, ließ die normativen Grenzen der Tanzfächer verschwimmen. Vestris’ bewegungstechnischer Übertritt kennzeichnet zwar nicht einen regelrechten Tabubruch innerhalb des ästhetischen Gefüges des Bühnentanzes, da sein Tanzen erkennbar im technischen Kodex des Balletts verwurzelt war, aber seine Auftritte verschoben die Kriterien für eine tänzerische Darbietung im Sinne des ballet en action.
Stil als Arbeit an Erkenntnis
Der Stil ist keineswegs, wie manche glauben, ein Mittel der Verschönerung, ja er ist nicht einmal ein technisches Problem, er ist vielmehr – genau wie die Farbe für die Maler – eine Art des Sehens und Imaginierens (une qualité de la vision), die Enthüllung des partikularen Universums, das jeder von uns sieht, und das die anderen nicht sehen. Das Vergnügen, welches uns ein Künstler schenkt, liegt darin, daß er uns ein weiteres Universum kennenlernen läßt.
(Marcel Proust)1
Die Frage nach dem Stil hat für den Tanz inzwischen als ästhetischer Reflexionsdiskurs an Gewicht verloren. Dies ist sicherlich – wie bereits dargelegt – auf einen Verlust einer tanztechnisch identifizierbaren Grundlegung ästhetischer Positionen zurückzuführen, die