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Normen und Werturteile vor allen Dingen auch emotional nachvollzogen werden. Wayne C. Booth konzipiert Literatur als Ausdruck der moralischen Anschauungen eines impliziten Autors.5 Dem gegenüber steht die Unausweichlichkeit des moralischen Urteils seitens des Lesers, der – wie indeterminiert der Text in Bezug auf didaktische Inhalte auch sein mag – stets und unweigerlich um Erkenntnis und Verständnis bemüht sei:

      Regardless of whether we surrender to a given fictions’s world in blissful identi­fication or virtuously maintain a nice critical distance, we after all experience what we experience. Even those fictions that openly reject all human or pragmatic appeals, even those aggressively plotless works that seem made up entirely of verbal experimentation, offer an experience that changes the live of their readers, those readers who engage themselves sufficiently to find a life in the works.6

      Hier wird auch besonders deutlich, dass der ethical criticism im Grunde gleichsam eine Rezeptionsästhetik ist.7 Das ethische Potential eines Textes ausschöpfen zu wollen setzt gleichermaßen die Bereitschaft des Lesers voraus, sich auf eine solche Lesart einzulassen – eben jene Leser, »who engage themselves sufficiently to find a life in the works«.

      Auf dem »Befund, dass ethische Beurteilungen ihrem problematischen Verständnis nach in literaturwissenschaftlichen Analysen kaum zu vermeiden sind, wenn man ästhetische, historische oder gesellschaftskritische Urteile in die Interpretation mit einbeziehen möchte«, fußt dann auch der Ansatz der narrativen Ethik, die vor allen Dingen im germanophonen Raum erarbeitet wurde.8 Der Begriff der »narrativen Ethik«9 kann dabei erstens das erzählende Besprechen von Problemen ethischer Natur meinen; zweitens die Analyse von erzählend bzw. narrativ vermittelten moralischen Gegenständen, d.h. von typisch didaktischen Erzählformen wie Exempla, Märchen, Erzählungen etc.; drittens aber wird damit ein grundlegender Aspekt der Ethik selbst bezeichnet. Die Ethik sei narrativ strukturiert, d.h. »Handeln und (Er)Leben des Menschen [lassen] sich mittels der Narrativität deuten«.10 Dem liegt die anthropologische Annahme zugrunde, dass der Mensch sich selbst, die Welt und ihre Zusammenhänge durch das Erzählen zu verstehen sucht. Dies impliziert einerseits das immer schon narrative Sein des Menschen, dessen eigentliche Essenz in der Geschichtlichkeit selbst liegt bzw. in seinem »Verstricktsein in Geschichten«.11 Mit Alasdair MacIntyre ist das Leben selbst bereits narrativ strukturiert: »Stories are lived before they are told – except in the case of fiction.«12 Andererseits involviert dies gleichsam den sinnkonstituierenden Nachvollzug durch das Erzählen selbst als Kommunikations- und Verstehenspraxis. Schreiben und Lesen sind, wie Waldow mit Rekurs auf Foucault (v.a. L’Herméneutique du sujet, 1981–1982) herausstellt, Praktiken der Selbstsorge: Einerseits kann sich das Subjekt im Schreiben einer Erzählung veräußern, sich überhaupt erst konstituieren, indem es zu sich selbst und dem Geschriebenen in ein reflexi­ves Verhältnis tritt; andererseits ist das Schreiben gleichsam der Ort der Begegnung mit dem Anderen, des (Erfahrungs-)Austausches. Mit Foucault gesprochen sei damit die Selbstsorge im Sinne der Subjektkonstitution eine »genuin ethische Aufgabe und Lesen und Schreiben sind letztlich ethische Handlungen«.13 In dieser grundsätzlichen Kommunika­tivität des Erzählens bzw. in der damit begründeten Möglichkeit des Perspektiv­wechsels liegt das ethische Potenzial der Kunst: »selbst wenn sie [Narrationen] noch so eng an der Realität orientiert sind, bilden sie diese doch nie einfach ab, sondern entwerfen eigene und neue Perspektiven. […] Eine Geschichte ist eine Möglichkeit, die Welt anders zu sehen und sogar: eine andere Welt zu sehen.«14 Damit ist die Fiktion (genauer: die Erzählung) ein imagina­tiver Erfahrungs­raum, in dem sich das Subjekt selbst erproben kann. Literatur als Kommuni­ka­tion(sprozess) ist qua natura dem ethischen Bestreben um Austausch, Erkenntnis, (Selbst-)Erprobung und Behauptung dienlich.15

      Genau wie auch ein das Ästhetische verabsolutierender Ansatz unhaltbar bzw. nur eingeschränkt anwendbar scheint, so ist aber auch diese literaturtheoretische Herangehens­weise problematisch, wenn sie absolut gesetzt wird. Zwar mag es, wie vor allem in Bezug auf Bohrer schon diskutiert wurde, kaum realistisch erscheinen, im Besonderen in Konfrontation mit ästhetischen Grenzphänomenen frei von moralischen Urteilen zu bleiben und die Pose des distanzierten Dandys einzunehmen. Doch ist es sicherlich gleicher­maßen heikel, einen im Grunde didaktischen Anspruch an einen jeden Text stellen zu wollen (auch wenn Booth sicherlich insofern Recht gegeben werden kann, dass selbst ein postmoderner Text, der keinen mimetischen Wirklichkeitsbezug mehr herstellen will, trotzdem noch eine gewisse ›ethische‹ Erfahrung produzieren kann: Indem er letztendlich auf die Kontingenz und Arbitrarität alles Zeichenhaften und die Vergeblichkeit der Sinngebung verweist…).16 Den literarischen Text also als »Handlungsanweisung« zu lesen, wie es eine literarische Ethik nach Booth und Nussbaum vorschlägt, scheint kaum eine Alternative zu den ausschließlich das ästhetische Spiel überprivilegierenden Theorien darzustellen, denn bei einem solchen Ansatz würde wiederum, wie Frings sicherlich zu Recht kritisiert, »das Moralische dem Ästhetischen klar über[ge]ordnet«.17 Dennoch soll hier durchaus als Grundannahme etabliert werden, dass dem Akt des Lesens ein ethisches Moment inne ist.

      Konkret bedeutet dies im Zusammenhang mit dem hier diskutierten Phänomen des Bösen und des ästhetischen Schocks: Es sollen sowohl ästhetische Qualitäten literarischer Grenzphänomene in Hinblick auf ihre formale, semantische Beschaffenheit und kreative Ausgestaltung herausgearbeitet werden, als auch in Bezug auf ihre ethischen Implikationen. Wenngleich die Wirkungen eines Textes/Kunstwerks bisweilen unabsehbar sind und natürlich von der tatsächlichen Rezeptionseinstellung des konkreten Lesers abhängen, so können bestimmte literarische Strategien dennoch gezielt zur Erzeugung eines bestimmten Effekts eingesetzt werden. Demnach kann gefragt werden: Welche Wirkungen, Stim­mungen, (ästhetischen) Emotionen werden generiert? Und: Wie ist der Text beschaf­fen, dass diese Wirkungen, Stimmungen, (ästhetischen) Emotionen erzeugt werden? Dies schließt also in der Reflexion einerseits den Text in seiner Materialität, aber auch den Leser als fühlendes, denkendes Subjekt mit ein. Andererseits darf mit Rekurs auf die Theorie des ethical criticism aber auch wieder legitim nach den ethischen Implikationen eines Textes gefragt werden:

      Der ästhetische Taktstock des Erzählens impliziert und intendiert Wirkungen in starker (Schock, Sympathie) oder in schwächerer Form. Dies kann dazu benutzt werden, eindeutige Werthorizonte zu sichern, oder diese zu erschüttern oder auch den Rezipienten dazu aufzufordern, Wertorientierungen selbst zu finden. Da der Autor aber ästhetischen Gesetzen folgt, auch dann, wenn er ein experimentelles Regelfindungsspiel aufzieht, kann man ihn nicht unmittelbar bei moralischen Implikationen greifen, aber man darf der Interpretation eines Werkes durchaus zumuten, auch diese moralischen Implikationen zu erhellen.18

      Es geht also darum, auch in der durch Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus geprägten Postmoderne die ethische Dimension eines Textes nicht auszuklammern. In diesem Sinne kann auch das Böse wieder zum Gegenstand der Reflexion werden: Gibt es heute überhaupt noch ein Böses und ein Verständnis von Sünde? Oder ist alles dem totalen Relativismus und ästhetischen Spiel verfallen? Es soll im Folgenden demnach eine Lesart befördert werden, die möglichst beiden Aspekten Rechnung trägt und dabei sowohl Text als auch Leser als Konstanten der Interpretation ausgeglichen mit einbezieht. Denn unsere Imaginationsbegabung ermöglicht uns die fiktive Erprobung unserer Überzeu­gungen und eben auch ihre Korrektur bzw. Modifikation. Literatur kann ästhetischen Genuss bereiten, aber – wenn dieses Angebot durch den Leser angenommen wird – auch handlungsweisend sein. Mit Paul Ricœur lässt sich daher festhalten:

      [I]m irrealen Bereich der Fiktion erforschen wir unablässig neue Bewertungsweisen für Handlungen und Figuren. Die Gedankenexperimente, die wir im großen Laboratorium der Einbildung durchführen, sind auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen. Etwas umzuwerten, möglicherweise sogar abzu­werten bedeutet immer noch, es zu bewerten. Das moralische Urteil ist nicht abge­schafft, es ist vielmehr selbst den der Fiktion eigenen imaginativen Variationen unterstellt. Dank dieser Bewertungsübungen im Bereich der Fiktion kann die Erzählung letzten Endes ihre Erschließungs- und Verwandlungsfunktion gegenüber dem Empfinden und Handeln des Lesers in der Phase der Refiguration der Handlung durch die Erzählung ausüben. [meine Hervorhebung]19

      Vielleicht kann nicht präzise festgeschrieben werden, was das Böse konzeptuell ist, insofern ein festes Koordinatensystem über den Unterschied von Gut und Böse geliefert würde, doch kann die Literatur dahingehend befragt werden. Dies ist

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