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produzieren: Welcher Art ist der durch den Text produzierte Effekt, d.h. wird Ekel bzw. Abscheu induziert oder wird durch einen Bruch mit der bienséance das sittliche Empfinden und das Schamgefühl des Lesers verletzt? Oder soll – wie es beispielsweise die proklamierte Wirkungsabsicht de Sades ist – das obszöne Zeichen gar der Erregung des Lesers dienen? Und ferner: Sind die kunstver­mittelten Erfahrungen noch assimilierbar bzw. geistig-reflexiv zu bewältigen (wie es die Theorie des Erhabenen vorsieht) oder sollen sie den Leser bzw. Zuschauer aus dem ästhetischen Kunstraum des interesselosen Wohlgefallens herausführen? Besonders auch für Pasolini, Nove, Ammaniti und Houellebecq stellt sich dabei die Frage, ob die Schock­produktion die Reflexion befördert, indem sie zum emotional engagierten Nach­voll­zug anregt, oder ob sie eine reflexive Verhandlung der von den Texten vorgestellten Problem­zusammenhänge sogar behindert.

      1.3 Das Böse und ethische Implikationen

      1.3.1 Vorverständnis von Ethik und Moral

      Berührungsängste, die in der Vergangenheit in der Literaturkritik in Bezug auf ethische Implikationen von Kunst aufkamen, sind vermutlich weitestgehend auf ein diffuses Verständnis der Begrifflichkeiten von Moral und Ethik zurückzuführen. In der Tat aber sind die beiden Begriffe nicht miteinander gleichzusetzen. Mit Niklas Luhmann lässt sich vielmehr die folgende Differenzierung vornehmen: Ethik ist die »Beschreibung der Moral«1 bzw. die »Reflexionstheorie der Moral«.2 Die Moral bezeichnet also den norma­tiven Bereich der sittlichen Lebensführung, d.h. den präskriptiven Normen­apparat. Die Ethik wiederum dient als Beschreibungsorgan eben dieser. Ihr liegt die Frage »Wie soll ich leben?« zugrunde. Diese Distinktion lässt sich Marcus Düwell zufolge auch mit den Begriff­lichkeiten der »Strebensethik« und »Sollensethik« vornehmen: Erstere ist zukunftsorientiert und beschäftigt sich mit der Frage nach einem guten und gelungenen Leben, wohingegen die Sollensethik den Bereich der moralisch-normativen Fragen selbst darstellt.3 Die Moral benennt damit also die »Artikulierung [der ethischen] Ausrichtung in Normen«, welche sich »durch ihren Universalitätsanspruch sowie durch einen Zwangs­charakter aus[zeichnen]«.4 Die ethische Grundprämisse des geglückten Lebens impliziert dabei natürlich gleichsam die Verantwortung gegenüber dem Anderen.5 Während die Moral also präskriptiv ist, invol­viert der Begriff der Ethik die »Selbstbe­fragung des Individuums« in Hinblick auf geglückte Lebensführung »mit seiner unum­gänglichen Verantwortung«.6

      1.3.2 Das ethische Moment der ästhetischen Erfahrung

      Nachdem Überlegungen zu den (wirkungs-)ästhetischen Qualitäten des Bösen angestellt worden sind und im Zuge dessen die Schwierigkeit angedeutet wurde, die von Bohrer geforderte absolute Distanz zum Phänomen des Bösen einzunehmen, soll nun ein ›gemäßig­tes‹ Konzept von Ästhetik erarbeitet werden, das vielmehr genuin ethische Aspekte der ästhetischen Erfahrung inkludiert. In einem solchen Verständnis sind Ethik und Ästhetik nicht zwei einander ausschließende Extrempole,1 sondern greifen inein­ander.2 Eine »dem ästhetischen Bereich inhärente Ethik« erläutert Wolfgang Welsch in seinem Beitrag zur »Ästhet/hik«.3 Er führt hier vor, wie die aisthesis in ihrer Doppel­funktion als reflexive, erkenntnisfördernde Wahrnehmung einerseits und sinnen­hafte Empfindung andererseits immer schon einem vitalen Imperativ gehorcht: »Sie dient dem Leben, dem Sich-am-Leben-Erhalten und Überleben – noch nicht dem guten Leben«.4 Denn während die Empfindung durch die Eingebung von Lust- und Unlustgefühlen eine vitale Schutzfunktion vor allem Schadhaften bei gleichzeitiger Bewertung von dem Körper Bekömmlichem übernimmt, fungiert auch die Wahrnehmung auf ähnliche Weise zugunsten »der Erkenntnis des Nützlichen oder Schädlichen, Zuträglichen oder Abträg­lichen und der Auslösung eines entsprechenden Verhaltens«.5 Und diese Vitalfunktion der aisthesis gehe dem »eleva­torischen Imperativ« der reflexiv-distanzierten Lust des ästhetischen Wohlgefallens immer schon voraus.6 Welsch plädiert in Abgrenzung zu einer paradoxerweise sinnen­feindlichen Ästhetik, wie sie im 18. Jahrhundert von Baumgarten und Schiller entworfen wurde, hinge­gen für eine Ästhetik der Gerechtigkeit7 bzw. eine Ästhet/hik oder »Kultur des blinden Flecks«:

      [Die Kultur des blinden Flecks] wäre eine Kultur, die prinzipiell für Ausschlüsse, Verwerfungen, Andersheiten sensibel wäre. Sie verschriebe sich nicht einem Kult des Sichtbaren, Evidenten, Glänzenden, Prangenden – nicht also dem gegenwärtigen Ästhe­ti­sierungstrubel –, sondern dem Verdrängten, den Leerzonen, den Zwischen­räumen, der Alterität. Dem würde sich ihre Aufmerksamkeit nicht nur in ästhetischen, sondern ebenso in lebensweltlichen, sozialen, politischen Kontexten zuwenden. [...] Denn das genannte ästhetische Bewußtsein macht an der Grenze der Kunstsphäre nicht Halt. Es überträgt sich vielmehr – analog – auch auf die Lebensverhältnisse, auf soziale und lebensweltliche Konstellationen. Und es tut das konsequent und legitim. Anders gesagt: Auch die hier zuletzt skizzierte Ästhetik ist eine Ästhet/hik. Ebenso wie für ästhetische Konstellationen ist sie für lebens­weltliche Verhältnisse einschlä­gig. 8

      Eine Ästhetik, die nicht rigoros das Geistig-Reflexive der Wahrnehmung und damit die Selbstbezüglichkeit der Form überprivilegiert, sondern offen ist für das Roh-Sinnenhafte ist auch gleichsam eine Ästhet/hik – also eine Erfahrung, der das Moment des Ethischen bereits eingeschrieben ist.

      Wie im Vorfeld bereits unter Berücksichtigung von Martin Seels Konzeption von ästhetischer Erfahrung erläutert wurde, ist diese stets in gewisser Weise an die Lebenswelt des wahrnehmenden Subjekts gebunden. Kunst kann sich die außerliterarische Wirk­lichkeit verfremdend, überzeichnend, karikierend, stilisierend, poetisierend etc. anverwan­deln, doch ein Bezug bleibt in gewisser Weise erhalten bzw. wird durch den Rezipienten erst hergestellt.9 Sie aktiviert dergestalt eine Reflexion über die Lebenswelt des Wahrneh­mungs­subjekts und enthält damit einen ethischen Impetus: »Die ästhetische Erfahrung hat eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit den möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erlebniswelten und Empfindungsqualitäten konfrontiert. Daher ist die ästhetische Erfahrung immer auch mit einem emotional engagierten Erfahrungsvollzug verbunden.«10 In der aisthesis verquicken sich demnach Sinnlichkeit, Empfindung und Reflexivität. Ästhetischer Genuss ist weniger eine rein intellektuelle Tätigkeit als ein Beieinander welt- und selbstbe­zogener Impulse. Und letztendlich ist es überhaupt erst die ästhetische Erfahrung, die ethische Reflexionen ermöglicht, denn Kunst ist eben nicht ausschließlich ein rein theore­tisches Konstrukt, das im Reiz der Imagination besteht: »Das gelungene Werk führt die Erfahrenden nicht aus der Welt ihrer Erfahrung heraus oder setzt sie von dieser frei: es gibt ihnen die Freiheit, sich zu ihrer Erfahrung erfahrend zu verhalten. Der ästhetische Vollzug einer Erfahrung gewährt einen Spielraum gegenüber der ange­eigneten Erfahrung, der im Prozeß dieser Erfahrung durchgehend wirksam bleibt.« 11

      1.3.3 Der ethical turn und narrative Ethik

      Seit den 1980er, im Besonderen den 1990er Jahren wird eben jene Potentialität des geschriebenen Textes neu erkundet: Die ethische Bedeutungsdimension der Literatur rückt nunmehr wieder in den Fokus. Dieser ethical turn vollzog sich vor allem im anglo­amerikanischen Raum als Antwort auf das spielerische anything goes der Postmoderne: Der ethical criticism sei Vernon W. Gras zufolge das »centripetal product of post­modernism«, quasi die Antwort auf ein zunehmendes Sehnen nach Sinnstiftung innerhalb einer Welt, die sich durch Kontingenzerfahrungen, die Inkommensurabilität von Werten und einen abso­luten Relativismus auszeichne.1 Die Wiederbelebung2 eines wertekri­tischen und ethisch orientierten Dialogs über Kunst gestaltet sich damit im Wesentlichen als Alternative zu Ansätzen wie Poststrukturalismus und Dekonstruk­tivismus.3

      Der amerikanische Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth sowie die neuaristotelische Philosophin Martha C. Nussbaum u.a. machten eine Auffassung von Literatur stark, der zufolge Texte gleichsam Modelle ethischen Verhaltens abbilden:

      literary theory can improve the self-understanding of ethical theory by confronting it with a distinctive conception or conceptions of various aspects of human ethical life, realized in a form that is the most appropriate one for their expression. Insofar as great literature has moved and engaged the hearts and minds of its readers, it has established already its claim to be taken seriously when we work through the alternative conceptions.4

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