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JOHANN WOLFGANG GOETHE

      Andrea las das Gedicht mehrmals, sah zwischen den Zeilen den Berg, in Wolken und Nebel gehüllt, den Weg über dem Abgrund, den stürzenden Fels und das Wasser des Bachs. Es war das Bild der Runse, wo sie Claudia Baumberger gefunden hatten. Das trotzige Kind, das gegen den Willen seines Vaters dort hinauf gestiegen war, wo ein Drache lauerte. Die Lévis seien eine der reichsten Familien der Gegend, hatte Robert gesagt. Doch die Todesanzeige war nur vom Ehemann der Toten unterzeichnet und von einer Jeanette Baumberger, vielleicht einer Tochter.

      «Entschuldigen Sie … darf ich mich zu Ihnen setzen?» Der Einsame stand an ihrem Tisch, sah sie mit verlegenem Lächeln an. Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch, eine flüchtige Bekanntschaft. Doch seine verträumten Augen, der blonde Dreitagebart, die hohe Stirn mit Ansatz zur Glatze erinnerten sie an Joe Cocker auf dem Umschlag einer CD.

      «Darf ich?», fragte der Doppelgänger des Machos aus Sheffield, setzte sich ihr gegenüber. «Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen?»

      «Danke, ich wollte gleich gehen.»

      «Schade. Was lesen Sie da?» Er griff nach der Zeitung. «Todesanzeigen?»

      «Geht Sie nichts an.» Andrea riss die Seite mit der Todesanzeige heraus, faltete sie, stand auf.

      «Sie sind hart», sagte er.

      Der Hieb sass. Bin ich hart? Versteinert wie die Sila? Die Burgfrau, die alle Freier in den Abgrund gestossen hatte, wie die Sage erzählte, und dafür büssen musste?

      «Hart oder sehr traurig», hörte sie den Mann sagen, dessen Stimme so rau und sanft klang wie jene des Sängers.

      Er sei geschäftlich in der Gegend, Ingenieur, sagte er.

      Sie fragte nicht. Wollte nicht wissen, wer er war, woher er kam, wohin er ging. Sie erzählte von Bergen und Wüsten, von Kalifornien, wo er sich auskannte. Sequoia Park, Death Valley, Yosemite, Tuolumne Meadows.

      Er hörte ihr zu, bis die Kellnerin begann, Stühle auf die Tische zu stellen. Er begleitete sie durch die leeren Strassen bis zu ihrem Block.

      Nachts träumte sie von einem Felsturm, der wie eine Flamme im Abendlicht loderte. «The Morning Glory Spire» in der City of Rocks in Idaho. Sie wollte den himmelhohen Turm aus rötlichem Granit erklettern. Band sich ans Seil, reichte ihrem Gast das andere Ende.

      «Du bist hart», flüsterte er. Sie kletterte, wollte ihm rufen, ihr zu folgen, doch erinnerte sie sich nicht mehr an seinen Namen.

      Als sie erwachte, schien die Sonne auf den Balkon. Die Storen waren heruntergedreht, sodass das Licht nur gedämpft ins Zimmer fiel. Das Telefon klingelte.

      10

      «Hast du vergessen, was wir abgemacht haben», fragte Robert, Vorwurf in der Stimme.

      Andrea hielt mit der einen Hand den Hörer fest, rieb sich mit der andern Schorf aus den Augen. Das Tageslicht blendete sie. «Was haben wir abgemacht?»

      «Auf den Berg zu steigen. Weisst du, wie spät es ist? Ich habe schon zwei Mal angerufen.»

      «Zwei Mal? Ich habe geschlafen.»

      «Ich dachte, der Bergführer erhebt sich früh?»

      «Die Bergführerin darf länger schlafen», sagte sie. «Dafür klettert sie schneller.»

      «Dann mach mal schnell.»

      «Bin unterwegs.»

      Den Kaffee trank sie in der Raststätte. Robert wartete vor dem Haus, er trug Wanderschuhe aus Wildleder und einen Filzhut mit Abzeichen am Band. Die graue Windjacke spannte sich über seinem Bauch. Mit der Metallspitze seines Spazierstocks stocherte er Unkraut aus den Ritzen zwischen den Granitplatten. Er schob es mit der Schuhspitze beiseite, trat ans Gartentor, schaute auf seine Uhr: «Besser zu spät als nie.»

      Sie liess den Motor laufen.

      «Steig ein.»

      Auf der Autobahn machte er sie auf das Zementwerk beim Steinbruch aufmerksam, flache Werkhallen mit staubigen Fenstern, überragt von runden Materialsilos und Brennöfen mit trichterartigen Beschickungsanlagen. Auf einem Schuppen eine Tafel: «Lévi AG – Zementholding».

      «Vor Jahren führten wir hier eine Untersuchung wegen Staubfiltern. Ich musste einen Schichtführer verhaften und einvernehmen. Den Lévis hat man kein Haar gekrümmt, die waren zu mächtig.»

      «Was weisst du über Claudia?»

      «Sie ist wohl in Ungnade gefallen bei der Familie. Der alte Lévi hat die Todesanzeige nicht unterschrieben.»

      «‹Dahin! Dahin geht unser Weg. O Vater, lass uns ziehn!› So heisst es in dem Gedicht. Ist das eine Anspielung?»

      «Ich denke schon.»

      «Ist Jeanette Baumberger ihre Tochter?»

      «Sieht so aus.»

      «Und wer ist der Drache mit seiner Brut, wie es im Gedicht heisst?»

      «Den werden wir fangen.»

      Robert war auf der Jagd. Wie früher, als er noch im Dienst war. Hatte er Witterung aufgenommen, dann veränderte sich sein Wesen. Er lief ziellos durchs Haus, rauchte die Zigaretten nur noch zur Hälfte, liess sie irgendwo liegen, sodass sie Löcher in Tischtücher und Fenstersimse brannten. Auch jetzt griff er nach der Packung. «Darf ich?»

      «Wenn du es nicht lassen kannst.»

      Er klappte den Aschenbecher aus dem Armaturenbrett. «Hast du einen Freund, der raucht?»

      «Es gibt keinen Freund. Es war ein Gast.»

      «Jedenfalls ein Mann.»

      «Warum?»

      Er griff sich einen Stummel. «Diese Marke rauchen Männer.»

      «Was du nicht sagst …»

      «Das sagt die Werbung. Zudem sieht man bei Frauen meist Spuren von Lippenstift am Filter.»

      «Weil sich alle Frauen vor dem Rauchen schminken, nicht wahr. Wenigstens in Kriminalfilmen.»

      «Die meisten. Das sagt die Statistik.»

      «Gut beobachtet, Herr Kommissar.»

      «Fünfunddreissig Jahre Polizist. Da hat man das Auge.» Robert drückte seine Zigarette nach wenigen Zügen in den Aschenbecher. Seine Hand zitterte.

      Als sie sich der Ausfahrt Pratt näherten, bemerkte er: «Da wohnst du nun also. Ist ja eigentlich ganz schön hier.» Sonnenlicht lag auf den Weinbergen rund um die Ortschaft, die sich wie ein Fächer über die Ebene am Fuss der Berge ausbreitete. Die Häuser schienen aus der Klus hervorzuquellen, durch die sich der Fluss zwängte. Er hatte das Delta aufgeschüttet, auf dem die Siedlung gewachsen war. Eine Kirche und einige Bürgerhäuser mit schweren Mauern und schmalen Fenstern bildeten den Kern, rundum wucherten Einfamilienhäuser und Wohnblocks. Händler, die am alten Handels- und Pilgerweg von Norden nach Süden reich geworden waren, hatten Pratt gegründet. Ihre Nachkommen wohnten noch immer hier, handelten und bauten, bestimmten die Politik und zogen die Fäden.

      Nach dem Tunnel, der durch die Felsbarriere neben der Klus führte, versank Robert in Schweigen. Er erinnerte sich wohl, wie oft sie in dieses Tal gefahren waren in seinem alten Volvo, er mürrisch am Steuer, die Mutter heiter wie immer, wenn es bergwärts ging.

      Als sie auf die Bergstrasse abbogen, fragte Andrea: «Was weisst du eigentlich von Werner Baumberger? Ein Kunde, hast du gesagt …»

      «Er war in eine Untersuchung verwickelt. Doch verlief alles im Sand.» Er liess die Scheibe niederfahren, kühlte seine Hand im Fahrtwind. «Claudia Lévi war seine zweite Frau.»

      «Eine Untersuchung?»

      «Ich habe schon zu viel geplaudert. Behalte es für dich, ich könnte sonst Schwierigkeiten bekommen.»

      Sie trat auf die Bremse, wich einem Betonmischer aus, der ihnen in scharfem Tempo

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