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      «Brauchst du denn einen Schutzengel?»

      «Ich brauche …» Er setzte den Schwenker an die Lippen und nahm einen Schluck.

      Andrea trat hinter ihn, legte ihre Hände auf seine Schultern, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Flaum seiner Glatze. Wie alt war er? Gut sechzig, frühpensioniert. Und Ning? Nicht zu schätzen, irgendwo zwischen achtzehn und vierzig. Engel haben kein Alter. Engel sprechen Englisch. Engel fallen vom Himmel. Engel werden gebraucht.

      «Soll ich der Sache nachgehen? Was meinst du?» Er strich sich über den Haarkranz, erhob sich dann schwerfällig und schwankend. «Ich habe noch einen heissen Draht zur Firma.»

      «Wenns dich interessiert», sagte sie. «Ich muss jetzt gehen. Habe morgen einen Gast.»

      «Dann läuft das Geschäft also?»

      «Es läuft, du kannst beruhigt sein.»

      In der Küche polierte Ning den Abwaschtrog und summte dazu eine Melodie.

      «The meal was delicious», sagte Andrea.

      «Thank you very much. You are so kind.»

      Andrea drückte ihr die Hand vorsichtig, sie hatte Angst, mit ihren Kletterhänden die zarten Finger zu brechen.

      Als sie im Wagen sass, stand Ning mit Robert am Fenster. Sie hatte sich bei ihm eingehängt, schien sich an ihm festzuhalten und winkte. Andrea winkte zurück.

      5

      Er wartete auf dem Parkplatz an der Abzweigung ins Bergtal, an seinen Wagen gelehnt, und rauchte. Es war noch dunkel, und Andrea nahm seine gedrungene Gestalt zuerst nur als Schatten wahr. Die Zigarette zischte in eine Pfütze.

      «Daniel.» Sein Händedruck war fest, seine Gesichtszüge wirkten im grauen Morgenlicht weich. Die Augen lagen im Schatten hinter dicken Brillengläsern.

      «Wartest du schon lange?»

      «Kein Problem.» Er schaute auf die Uhr. «Du bist pünktlich. Ich bin meist zu früh. Wahrscheinlich ist es die Angst, das Leben zu verpassen.» Der Satz klang melancholisch.

      «Wir fahren mit dem Jeep», schlug Andrea vor. «Die Alpstrasse ist steil.»

      Kehre um Kehre wand sich die Strasse durch den Wald ins Bergtal. Nebel schlich dem Hang entlang, von den Bäumen tropfte es auf die Strasse. In den Kurven glitzerten die nassen Stämme der Buchen im Licht der Scheinwerfer.

      «Früher war hier Naturstrasse», bemerkte Daniel.

      «Du kennst die Gegend gut?»

      «Wir kamen oft hierher.» Er sei ein Freak gewesen, bevor er studiert habe. «Total angefressen.» Dann lange im Ausland, seit kurzem zurück am Spital. Als Arzt komme er leider nur noch selten zum Klettern. Er zog seine Brille aus, die sich beschlagen hatte, ein kantiges Designermodell mit Metallrand, putzte sie mit einem Papiertaschentuch. Dann lehnte er sich zurück, versank in Schweigen. Andrea war es unangenehm, doch sie mochte nicht fragen. Woher er Stef kenne. Ob er Familie habe. Was er alles schon geklettert sei.

      «Darf ich rauchen?», fragte er nach einer Weile.

      «Selbstverständlich.»

      Er hielt ihr die Packung hin, sie lehnte ab.

      «Besser so.»

      Ein typischer Arzt, dachte sie. Ärzte rauchen und raten ihren Patienten, damit aufzuhören.

      Es dämmerte, als der Wald lichter wurde und vom Dorf eine Reihe von Wochenendhäusern in Sicht kam. Chalets mit Betonsockeln und geschnitzten Balkongeländern. In der «Alpenrose» brannte Licht. Seit zwei Künstlerinnen die alte Dorfbeiz führten, kehrte Andrea oft ein nach einer Tour.

      Hinter der Kapelle mit dem frei stehenden Turm setzte die Alpstrasse steil an. Sie war für den Privatverkehr gesperrt, doch Andrea steckte ein Schild aufs Armaturenbrett: «Bergführerin».

      «Hier war nur ein Fussweg», sagte Daniel. «Wir mussten in der Hütte übernachten. Gibts die noch?»

      «Sie gehört der Kletterschule aus Pratt.»

      «Der Konkurrenz?»

      «Kann man so sagen. Wir haben vereinbart, dass ich sie auch benutzen darf.»

      Auf dem Sattel vor der Hütte liessen sie die letzte Nebelbank hinter sich. Grau schälte sich die Felswand vor ihnen aus dem Schatten. Ein Sporn aus hellem Gestein ragte in ihrem rechten Teil mehrere hundert Meter senkrecht in die Höhe: die Sila. Sie wirkte glatt, kalt und abweisend.

      In der Senke hinter dem Sattel endete die Fahrstrasse auf einem Parkplatz bei einer Gruppe von Alphütten. Andrea reichte ihrem Gast die Thermosflasche. «Kaffee?»

      «Das nenne ich Service.» Er schraubte die Kappe von der Flasche und schenkte sich ein. Der Kaffee dampfte in der kühlen Luft und verbreitete einen angenehmen Duft. Das heisse Getränk wärmte die Seele und weckte die Unternehmungslust.

      Ein Senn trieb Kühe aus dem Stall, sein archaisches «Hou, hou, hou» hallte durch die Stille. Er hob seinen Stock zum Gruss, rief etwas herüber, dann schlug er auf die Rücken der Kühe ein, die sich widerwillig ins Freie drängten. Hinter den trüben Scheiben einer Hütte schimmerte Licht, Rauch stieg aus einem Kamin.

      Andrea ging voran durch nassen Ampfer, der rund um die Alphütten wucherte, folgte einem Trampelpfad der Kühe zwischen Graspolstern und Alpenrosenstauden zum Fuss der Schutthalden. Die ersten Sonnenstrahlen berührten den Felskamm, der sich weit nach Westen dahinzog. Seine Zacken zeichneten sich scharf wie ein Scherenschnitt in den Morgenhimmel. Die Wand darunter erschien schwarz und konturlos. Andrea liess sich nicht beeindrucken, sie kannte die Sila, sie war ihr gewachsen.

      Daniel folgte mit geübtem Schritt. Sie legte Tempo zu, verminderte es wieder auf der Zickzackspur durch die Geröllhalde. Der Weg verlor sich im Schutt. Andrea stieg in der Falllinie weiter auf den Pfeilerkopf zu, der den Einstieg in die Westwand der Sila bildete. Auch bei der ersten leichten Kletterei über glatt geschliffene Platten folgte Daniel dicht hinter ihr. Auf einem Absatz stellte sie den Rucksack ab, trank einen Schluck Wasser.

      «Darf ich noch eine rauchen?»

      «Warum fragst du?»

      «Du bist die Führerin, du bestimmst.»

      «Ich erlaube es dir.» Sie lachten.

      Andrea zog ihren Klettergürtel fest, klippte Expressschlingen, ein paar Klemmkeile und Friends daran und fädelte das Doppelseil ein. Daniel setzte eine Brille mit Drahtgestell und kleinen Gläsern auf, sicherte sie mit einem Bändel. Mit der Zigarette zwischen den Lippen hängte er sich an einen Ringhaken. Seine Handgriffe waren geübt und sicher. Sie bereiteten sich vor, als seien sie ein eingespieltes Team.

      «Alles okay?» Sie warf ihm einen Blick zu, sah, dass er schon sicherte.

      «Du kannst gehen.»

      Sie hängte sich den kleinen Klettersack mit Proviant und Wasser um und kletterte los. Geneigtes Gelände, das Vorsicht erforderte wegen losen Gesteins. Steinschlag, dachte sie, während sie über Blöcke und Absätze höher stieg. Der Gedanke an die Tote war ihr unangenehm. Sie fürchtete, dass er sie den ganzen Tag verfolgen würde. Beschäftigte sie etwas zu Beginn einer Klettertour oder hatte sie eine Melodie im Kopf, so begleiteten sie die Klänge, die Gedanken und Bilder den ganzen Tag. Es war, als ob die Konzentration auf die Griffe und Tritte, den Rhythmus des Kletterns und des Sicherns, den Gedanken und Gefühlen wenig Raum lassen würde, sich frei zu entfalten.

      Während sie ihren Gast sicherte, sah sie die Frau auf dem Weg dahinschreiten, durch den Nebel jenes Nachmittags. Hinter ihr der Mann, von dem sie sich noch kein Bild machen konnte. Schweigend, in Gedanken versunken wanderte das Paar. Plötzlich krachte es über ihnen in der Wand. Vielleicht schrie er: «Stein!» Doch schon zuckte sie zusammen unter dem Schlag, taumelte gegen den Abgrund, überschlug sich im Sturz, blieb auf dem Felsband liegen. So könnte es geschehen sein. Die Frau hatte wegen des rauschenden Wassers weder den Stein noch den Warnruf gehört.

      Andrea

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